Polisblog
17. Januar 2024

Taiwan hat die Wahl (9): Kein Machtwechsel in Taiwan – Wie es nach der Wahl weitergeht

von Etienne Höra und Frederik Schmitz

 

Schöner hätte der Wahltag nicht sein können. Bei strahlendem blauen Himmel haben die Taiwanes*innen einen neuen Präsidenten und ein Parlament gewählt. Lai Ching-te wird als nächster Präsident den Inselstaat politisch führen. Politische Erfahrung hat der ehemalige Bürgermeister Tainans bereits als Vizepräsident unter seiner Vorgängerin und Parteifreundin Tsai Ing-wen sammeln können – die Herausforderungen bleiben aber groß.

Mit knapp über 40% der Stimmen hat Lai ein solides Ergebnis einfahren können, aber die Parlamentsmehrheit verloren. Zwar hatte seine Vorgängerin Tsai Ing-wen 2020 noch 57% erreicht, allerdings hat die dritte Kraft dieses Mal deutlich besser abgeschnitten als beim letzten Mal. Mit 26% hat die TPP unter Ko bei ihrer ersten Präsidentschaftswahl ein beachtliches Ergebnis eingefahren. 2020, damals trat nicht die TTP, sondern die People First Party neben KMT und DPP an, gingen nur knapp 4% an den letztplatzierten Kandidaten. Die KMT kam dieses Mal auf 33,45% (2020: 38,6%). Damit wird die DPP das Amt der*s Präsident*in zum dritten Mal in Folge bekleiden – ein Novum in der taiwanischen Geschichte und Zeugnis dessen, dass es der KMT nicht gelungen ist, über 8 Jahre hinweg eine wirkliche Alternative anzubieten. 

 

Spannender als erwartet

Zwischenzeitlich glich der Wahlkampf in Taiwan einem Politkrimi. Grund dafür ist auch eine dritte politische Kraft. Der TPP unter Ko Wen-je ist es erstmals gelungen, jenseits der beiden großen Parteien eine Alternative um das Amt des Präsidenten anzubieten und auch nennenswerte Stimmenanteile für sich gewinnen zu können. Vorherigen Herausforderer*innen jenseits der DPP und KMT blieb dies bisher verwehrt. Auffällig ist, dass Ko Wen-je gerade junge Wähler*innen aus verschiedenen Milieus erreichen und anders als DPP und KMT auch jenseits der Stammwählerschaft punkten konnte.

Mit besonderer Spannung konnte der Versuch beobachtet werden, eine Koalition zwischen KMT und TPP zu schmieden, um einen Präsidenten Lai zu verhindern. Das mehrmalige Hin und Her endete schlussendlich damit, dass man sich nicht um die Reihenfolge der Personen auf dem Wahlzettel einigen konnte: Welche Partei stellt den Präsidenten und welche den Vize?

Je nach Institut waren die Umfragewerte der KMT und DPP deutlich bis knapp voneinander entfernt. Allerdings gingen viele Bürger*innen davon aus, dass die DPP zumindest die Wahl um das Präsidialamt gewinnen würde. Selbst, wenn sie selbst für eine andere Partei stimmen würden. 

Nachwahlbefragungen zeigen, dass Lai kaum Wähler*innenstimmen außerhalb des DPP-Lagers gewinnen konnte. Wäre es zu einer Koalition zwischen TPP und KMT gekommen, wäre ein Sieg für Lai und die DPP  schwieriger und unwahrscheinlicher gewesen. Insofern hat die DPP auch von einer schwachen Opposition profitiert. 

 

Keine Mehrheit im Parlament

Im Parlament sieht es hingegen anders aus. Hier konnte sich die DPP nicht durchsetzen, auch wenn die KMT (52 Sitze) nur einen Platz mehr als die DPP (51 Sitze) gewinnen konnte. Hier müssen nun politische Kompromisse gefunden werden, um Taiwan zu regieren. Auf seiner Pressekonferenz kündigte Lai bereits an, dass er auch auf KMT und TPP (8 Sitze) zugehen wolle, um Politik für Taiwan zu machen. In einer politischen Landschaft, in der sich die politischen Lager zuweilen spinnefeind gegenüberstehen, ähnlich wie in den USA, bedeutet dies schwierige Verhandlungen. Schließlich braucht Lai die Abgeordneten, um Gesetze verabschieden zu können. Wie schwer es Präsident*innen ohne eigene parlamentarische Mehrheit in semipräsidialen Systemen haben können, erfährt aktuell etwa auch Emmanuel Macron in Frankreich



Der China-Faktor

Obwohl keine der Parteien, anders als in den vergangenen Wahlen, eine formelle Unabhängigkeit Taiwans forcierte, wurde die DPP von ihren Gegner*innen weiterhin vorgeworfen, Schuld an den schlechten Beziehung zu China zu sein. In der großen TV-Debatte Ende 2023 begegnete Lai diesem Vorwurf und zog eine Parallele zur Wahl des chief exekutive in Hong Kong (unter Pekings Gnaden):

“Chinas Wunsch, Taiwan zu annektieren, ist ihre nationale Politik […] sie wird von keiner politischen Partei oder Individuum provoziert, und man kann sie nicht aufhalten, indem man Chinas Ideen vollständig akzeptiert. Bürgermeister Hou, Vorsitzender Ko, was China betrifft, so sind wir drei, die wir hier für das Präsidentenamt kandidieren, alle für die Unabhängigkeit. Stimmen Sie dem zu? Wenn ja, dann ist das die Unabhängigkeit Taiwans. Andernfalls ist dies eine Wahl zum chief executive?“ 

Konnte man zu Beginn des Wahlkampfes den Eindruck gewinnen, dass innenpolitische Themen eine zentrale Rolle im Wahlkampf einnehmen würden, so zeigte sich mit der Zeit, dass – zumindest im Wettstreit um das Präsidialamt – die Beziehungen zu China eine wichtige Rolle einnahmen. 

Flankiert wurde dies auch durch die Reaktion Chinas auf die anstehende Wahl. In seiner Neujahrsansprache nutzte Chinas Staatspräsident Xi Jinping deutliche Worte, um die seiner Meinung nach historische Bedeutung einer Einverleibung Taiwans zu “rechtfertigen”. Hinzu kamen vermehrte Überflüge von Satelliten über die Insel sowie ein erhöhtes Aufkommen an Kriegsschiffen und Kampfflugzeugen, die in den taiwanischen Luft- und Seeraum eindrangen.

Schließlich intensivierte China seine Desinformationskampagne in Taiwan. Deepfake-Videos wurden in sozialen Medien veröffentlicht, um insbesondere die DPP und deren Spitzenkandidaten Lai zu diskreditieren. Die in Taiwan beliebte chinesische Plattform Tik-Tok bietet hier auch eine große Angriffsfläche für die chinesische Propaganda-Maschinerie.

In einer ersten Stellungnahme aus China hat das Taiwan Affairs Office verlautbart, dass die DPP aufgrund der beiden Wahlergebnisse wohl nicht in der Lage dazu sei, die Mehrheit der Taiwaner*innen zu repräsentieren.

… und der Rest der Welt

Dass diese Wahlen im Schatten einer sich vertiefenden Rivalität zwischen der Volksrepublik China und liberalen Demokratien stattgefunden haben, zeigt sich auch in den internationalen Reaktionen: Deutlicher als noch vier Jahren stellen sich nicht nur die USA, sondern auch die EU, Deutschland, Frankreich und Großbritannien hinter die taiwanische Demokratie. Während der Europäische Auswärtige Dienst das Taiwan und der EU gemeinsame Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten betont, gehen Deutschland und Frankreich in ihren gleich lautenden Statements einen Schritt weiter und wünschen sich – weiterhin im Rahmen der Ein-China-Politik – engere und tiefere Beziehungen mit Taiwan. 

Dabei ist die Anerkennung Taiwans als eigenständiger Staat ausgeschlossen, unterhalb dieser Schwelle aber sehr viel möglich. Die zunehmende Zahl an offiziellen Besuchen europäischer Regierungsvertreter*innen in Taiwan zeigt, wie groß das Interesse auf beiden Seiten ist, aber auch wie vielfältig die Themen sind, die gemeinsam angegangen werden können, vom kulturellen Austausch über die Lage der Chipindustrie bis hin zu öffentlicher Gesundheit. Europäische Länder zeigen sich immer weniger bereit, diese vielschichtigen Beziehungen mit Blick auf die angespannte Sicherheitslage einzuschränken.

Wie weiter?

Welche Auswirkungen hat diese Wahl auf die zukünftigen Beziehungen zwischen China und Taiwan und anderen demokratischen Ländern? Hier einige Prognosen:

  • Lai hat bereits während des Wahlkampfes deutlich gemacht, dass er in wesentlichen Punkten der Außenpolitik seiner Vorgängerin folgen wird. Hier dürfte eine weitere Stärkung der Taiwanisch-US-amerikanischen Beziehungen im Zentrum stehen. Weiter möchte er sich aber auch sozialen Themen widmen.
  • In den Beziehungen zwischen Taiwan und China ist keine Verbesserung zu erwarten, allerdings auch mittelfristig keine Verschlechterung. Lai hat angekündigt, den Status quo beibehalten zu wollen und auf Peking zuzugehen, um wieder Gesprächskanäle zu reaktivieren. Ob die Regierung unter Xi Jinping darauf eingehen wird, ist fraglich, zumal es Äußerungen auf der chinesischen Seite gab, dass man mit Politiker*innen der DPP nicht reden wird. Auch wenn einige deutschen Medien titeln, dass Taiwans “Unabhängigkeitsbefürworter” gewonnen habe, so betonten alle drei Parteien, dass sie den Status quo beibehalten wollen – anders als 2016 und 2020 als die DPP ganz klar die Unabhängigkeit Taiwans ins Zentrum ihres Wahlkampfes stellte.
  • Ob es zu einer militärischen Eskalation in der Taiwanstraße kommt, unterliegt in erster Linie der Willkür der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) – unabhängig von der Partei, die in Taiwan regiert. Die KPCh hat die “Wiedervereinigung” Taiwans mit dem Festland zu einer ihrer ideologischen Kernforderungen gemacht – und weiß, dass die meisten Taiwaner*innen über alle politischen Lager hinweg den Status quo unterstützen.  Es bleibt abzuwarten, wie China auf die Wahlen reagieren wird und ob es als direkte Reaktion, oder vor der Amtseinführung Lais im Mai, zu Militärübungen und Seeblockaden kommen wird, wie nach dem Besuch von Nancy Pelosi 2022.
  • Auf der Pressekonferenz für internationale Medienvertreter*innen begann Lai damit, die Wahl in Taiwan als einen erfolgreichen und wichtigen Beitrag für das weltweite Lager der Demokratien zu deuten. Auch, um einen Angriff Chinas möglichst zu verhindern, wird es wichtig sein, dass Taiwan seine internationalen Beziehungen ausbaut und weitere Länder gewinnt, die Taiwan auch militärisch zur Seite stehen. Zum einen, um das eigene Militär durch Waffenlieferungen zu stärken, aber auch den Preis eines Angriffs in die Höhe zu treiben. Es wird entscheidend sein, ob China davon ausgehen kann, dass eine Einnahme der Insel schnell und ohne langwierigen Krieg erfolgen kann. Hier helfen Militärkooperationen zwischen Taiwan und Verbündeten.

Mit diesem Artikel endet unsere Blog-Reihe “Taiwan hat die Wahl”. In neun Blogposts haben Mitglieder des Programmbereichs connectingAsia verschiedene Facetten der Wahl beleuchtet, von den verschiedenen Parteien bis hin zu internationalen Perspektiven. Angesichts der wachsenden geopolitischen Spannungen geraten die 23 Millionen Taiwaner*innen leicht in Vergessenheit, die Demokratie, Freiheit und Menschenrechte leben. Unser Ziel war es deshalb nicht nur, eine der stabilsten und vitalsten Demokratien der Welt sichtbar zu machen, sondern Interesse dafür zu wecken, sich mit Taiwan auseinanderzusetzen, auch über diese Wahl hinaus.

In dieser Blog-Reihe sind erschienen:

Polis Blog ist eine Plattform, die den Mitgliedern von Polis180 & OpenTTN zur Verfügung steht. Die veröffentlichten Beiträge stellen persönliche Stellungnahmen der AutorInnen dar. Sie geben nicht die Meinung der Blogredaktion oder von Polis180 e.V. wieder.

Bildquelle: Frederik Schmitz

Etienne Höra hat Internationale Beziehungen in Freiburg, Aix-en-Provence, Berlin und Genf studiert und forscht zu Geoökonomik, chinesischer Außenpolitik und den Narrativen, die diese stützen, etwa im Bereich der Umweltnormen der Belt and Road Initiative. Seit Juli 2022 ist er Präsident von Polis180.

Frederik Schmitz hat Sinologie in Köln und Tübingen studiert und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) der Universität Bonn. Sein Forschungsschwerpunkt ist Erinnerungspolitik als politische Legitimationsstrategie in China. Im Polis180-Programm connectingAsia organisiert Frederik außerdem den Buchclub.

Lektoriert von Isabel Billmeier und Lukas Seelig

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