Polisblog
29. November 2023

Taiwan hat die Wahl (2): Die Kuomintang in Vergangenheit und Gegenwart

29.11.2023

 

von Carla Zappen

 

Historischer Hintergrund der KMT

Unter den politischen Parteien Taiwans blick die Kuomintang (國民黨) auf die längste Geschichte zurück. Wie auch von der Partei selbst gerne betont wird, hat die KMT ihren Ursprung bereits zur Zeit des sino-japanischen Kriegs (1894-1895). Damals gründete Sun Yat-sen (孫中山), der heute noch über die Parteigrenzen hinweg als Landesvater verehrt wird, die “Gesellschaft zur Wiedererweckung Chinas” oder auch Xingzhonghui (興中會). 

 

Aus der Xingzhonghui entstand kurz nach dem Fall der Qing-Dynastie (清朝) die Kuomintang, eine Partei, die in Taiwan – offiziell die Republik China – bis heute weiter existiert. Das Wappen der Xingzhonghui, eine weiße Sonne vor blauem Hintergrund, ist in der Flagge der Republik China verewigt. Blau ist bis heute die Farbe der pan-blauen Koalition, die für eine chinesisch-nationalistische und China-nahe Politik steht. Sun Yat-sen formulierte zur Gründungszeit der KMT drei politische Prinzipien: Nationalismus, Demokratie und Lebensunterhalt der Menschen. Diese Prinzipien bestimmen weiterhin die Ausrichtung der heutigen KMT. 

 

Die KMT im Bürgerkrieg

Anfang der 1920er Jahre bestand zunächst eine Allianz zwischen der KMT und der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), die beide die nationale Einheit Chinas anstrebten. Dies änderte sich nach dem Tod Sun Yat-sens 1925, nach welchem sich die KMT in eine stärker nationalistische Richtung entwickelte. Die ideologische Spaltung zwischen der KMT und KPCh wuchs zu einem Bürgerkrieg heran, der 1927 begann. Ihm fielen mehrere Millionen Zivilist*innen zum Opfer. Am 12. April 1927 verhafteten und ermordeten nationalistische Truppen und Gefolgsleute des Nachfolgers von Sun Yat-sen, Chiang Kai-shek (蔣介石), kommunistische Aktivist*innen innerhalb der KMT. Die Partei sollte von linken Kräften “befreit” werden. Weitere Massaker gegen Kommunist*innen folgten und hunderttausende Menschen wurden ermordet. Im Verlauf des Bürgerkriegs zwischen Nationalist*innen und Kommunist*innen etablierte die KPCh in der Jiangxi-Fujian-Region eine autonome Regierung. Nach dem Fall dieser Regierung teilte sich die KPCh in zwei Gruppen, eine angeführt von Zhang Guotao (張國燾) und die andere von Mao Zedong (毛澤東). Die größere Gruppe unter Zhang wurde zuerst von der KMT verfolgt und ausgelöscht. 

Kurz nachdem die KMT 1927 in Nanjing ihre Regierung etablierte, entstand eine Zusammenarbeit zwischen der KMT und dem nationalsozialistischen Deutschland. Deutsche Ratgeber wurden nach China eingeladen und waren in die Kämpfe des Bürgerkriegs involviert. In den 1930er Jahren wuchs die “Blue Shirts Society” als faschistische, nationalistische und anti-kommunistische Gruppe innerhalb der KMT hervor. Diese Gruppierung forderte eine vollständige Unterordnung des Individuums und Aufopferung zugunsten der Nation. Chiang Kai-shek als unanfechtbares Oberhaupt sollte bedingungslos Folge geleistet werden. Innerhalb der Blue Shirts Society entstanden Diskussionen darüber, ob die Drei Prinzipien neben Fachismus weiterhin Bestandteil der Parteiideologie bleiben könnten.  Die Blue Shirts Society wurde zu einer mächtigen Gruppierung innerhalb der KMT, löste sich allerdings 1938 auf. 

In den 1930er Jahren rückten japanische Truppen weiter in China ein und verfestigten ihre Präsenz. Im Kampf gegen den gemeinsamen Feind Japan kam es 1937 zu einer vorübergehenden gemeinsamen chinesischen Front der KMT und KPCh gegen Japan. Hierdurch wurde der Bürgerkrieg durch den zweiten sino-japanischen Krieg (1937-1945) unterbrochen . 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Taiwan an China zurückgegeben und fiel unter die Kontrolle der KMT. Als sich die taiwanesische Bevölkerung gegen die KMT erhob, wurde der Aufstand vom 22. August 1947 gewaltsam niedergeschlagen und mehrere zehntausend Zivilist*innen ermordet. Dieser Niederschlagung wird heute noch gedacht, wobei die Aufarbeitung nur sehr schleppend läuft. 

 

Die Kuomintang in Taiwan

In Folge des Bürgerkriegs zwischen dem nationalistischen und kommunistischen Lager flohen die Anhänger*innen der unterlegenen KMT unter Chiang nach Taiwan. Die KMT regierte bis 1987 unter dem Kriegsrecht und ernannte sich zur Regierung über Taiwan und Festlandchina.  Erst als 1975 Chiang Kai-sheks Sohn, Chiang Ching-kuo (蔣經國), die Parteiführung übernahm, kam es zu einem Richtungswechsel der KMT.  

In den 1970er Jahren wuchs die Kritik gegenüber der KMT auch in Zusammenhang mit Taiwans zunehmender diplomatischer Isolierung. Ende der 70er entstand die “Tang-wai”(黨外)-Bewegung, welche übersetzt “außerhalb der Partei” bedeutet. Es handelte sich hierbei um unabhängige Kandidat*innen, die sich auf politische Ämter bewarben und eine Art erste Opposition zur KMT darstellten. 1986 entstand aus der Tang-wai-Bewegung die Democratic Progressive Party (DPP). Gleichzeitig sorgten Wirtschaftsreformen für eine erhöhte Eigenständigkeit staatlicher Einrichtungen. Als 1992 erstmals alle Parlamentssitze durch Wahlen vergeben wurden, gewann die DPP 31% der Sitze des Legislativ-Yuans, des höchsten Legislativ-Organ Taiwans. Da die KMT immer weniger Sitze einnahm, musste sie gezwungenermaßen mit der DPP kooperieren und auch auf Forderungen selbiger eingehen.

Die erste freie Präsidentschaftswahl fand in Taiwan im Jahr 1996 statt.

 

Das faschistische Erbe der KMT hinterlässt Spuren in der Bevölkerung. Unter der Chiang-Diktatur wurden zahlreiche politische Häftlinge zum Tode verurteilt, die trauernde Angehörige hinterließen. Die Phase des “Weißen Terrors” ist ein ungenügend aufgearbeitetes Thema der Geschichte Taiwans und der KMT, während Zeitzeug*innen versuchen, dies zu ändern.  

 

Die heutige KMT im Wahlkampf: Eine Wahl zwischen Krieg und Frieden?

Aufgrund ihrer Geschichte vertritt auch die KMT heute eine vergleichsweise China-nahe Politik. Auch wenn sich die KMT gegen den Ruf wehrt, “pro-chinesisch” zu sein, so steht sie für engere Beziehungen zu Peking. 

 

Für die Präsidentschaftswahlen im Januar 2024 tritt Hou Yu-ih (侯友宜) als Kandidat der KMT an. Hou wurde anstelle von Terry Gou (郭台銘) als Präsidentschaftskandidat aufgestellt, welcher zunächst als unabhängiger Kandidat gegen ihn antreten wollte. Vor seiner politischen Karriere, die 2010 begann, war Hou Polizist. Nachdem der ehemalige Bürgermeister Neu-Taipehs, Eric Chu (朱立倫), Hou zu seinem Stellvertreter ernannte, wechselte Hou in die Politik und wurde zweimal in Folge zum Bürgermeister Neu-Taipehs gewählt. 

 

Hou könnte als “unbeschriebenes Blatt” ausgewählt worden sein, als Antwort auf die vergangenen Wahlniederlagen der KMT, hinter denen viele die China-nahe Politik der Partei vermuten. Die Wahlerfolge der DPP in den Jahren 2000 und 2001 machten deutlich, dass die taiwanische Gesellschaft sich zunehmend als taiwanesisch wahrnahm und von der Volksrepublik China entfernte. Hous Haltung gegenüber China lässt dagegen viele Fragen offen, er positioniert sich sowohl einer Unabhängigkeit Taiwans entgegen, als auch dem “Ein Land Zwei Systeme”-Prinzip. 

 

Die Kuomintang stellt die Wahl 2024 als Entscheidung zwischen Krieg und Frieden dar und verkauft sich dabei als sichere und friedensfördernde Alternative zur derzeit regierenden DPP. Der DPP wird von Hou vorgeworfen, den Status Quo zwischen China und Taiwan zu gefährden und Taiwan an den Rand eines Kriegs gedrängt zu haben. Hou verspricht, diese Spannungen zu entschärfen und stellt sich selbst als pragmatische Führungspersönlichkeit dar. 

 

Hous politische Pläne

Während seiner Präsidentschaft möchte Hou strukturelle Reformen in der Regierung durchführen und unter anderem einen Verteidigungs-Mobilisierungs-Rat einführen. Er verspricht eine sichere China-Politik und plädiert dafür, die offiziellen Interaktionen mit China auf Grundlage gegenseitiger Nicht-Anerkennung der Souveränität und gegenseitiger Nicht-Ablehnung der Gerichtsbarkeit durchzuführen. In einem vielbeachteten Foreign Affairs Artikel hat Hou unlängst seine Strategie der “drei D” niedergeschrieben: deterrence (Abschreckung), dialogue und de-escalation. Den Dialog mit China will Hou auf Grundlage der Verfassung und dem Konsens von 1992 führen. Mit seiner Dialogbereitschaft und dem damit verbundenen Versprechen, die Lage zu deeskalieren, positioniert sich Hou als sichere Wahl. 

 

Abgesehen von seiner geplanten China-Politik äußert Hou die Absicht, die Beziehung zu den USA zu vertiefen, ohne sich auf deren Hilfe in Sicherheitsfragen verlassen zu wollen, und bittet um Unterstützung dabei, weiteren regionalen Handels- und Wirtschaftsvereinbarungen beitreten zu können. 

 

Die Innenpolitik betreffend spricht Hou Themen wie die Energiesicherheit an und wirft der derzeitigen Regierung vor, einen überstürzten Ausstieg aus der Atomenergie anzusteuern. Er verspricht eine pragmatische Herangehensweise, bei der Taiwans Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen schrittweise reduziert, die Erzeugung von erneuerbarer Energie gesteigert und vorhandene Kernenergiequellen wirksam genutzt werden sollen. Außerdem möchte Hou die taiwanesische Wirtschaft und Widerstandsfähigkeit der Lieferketten stärken und betont dabei auch Taiwans tragende Rolle in der globalen Halbleiterindustrie. Auch die Cybersicherheit will Hou stärken. In Bezug auf die niedrige Geburtenrate und die schrumpfende Erwerbsbevölkerung plant Hou, Männer nach ihrem Militärdienst bei der Integration in den Arbeitsmarkt zu unterstützen und Probleme wie den Zugang zu Wohnraum, Bildung und Kinderbetreuung anzusprechen.

 

(Keine) Aussicht auf Erfolg?

Trotz seiner aufeinanderfolgenden Wahlsiege in den Bürgermeisterwahlen in Neu-Taipeh scheint es Hou jedoch auf nationaler Ebene an politischer Plattform zu fehlen. Ihm wird unter anderem vorgeworfen, nicht “blau” genug zu sein. Die “tief-blaue” Fraktion der Partei wünscht sich eine engere Verbindung zur Volksrepublik als die ambige Haltung Hous gegenüber China erwarten lässt. 

 

Vereint hinter dem Ziel, die DPP als Regierungspartei bei den Präsidentschaftswahlen 2024 abzulösen, bahnte sich eine blau-weiße Koalition zwischen der KMT und TPP an. Nach privaten Verhandlungen zwischen dem Parteivorsitzenden der KMT, Eric Chu, und dem Präsidentschaftskandidaten der TPP, Ko Wen-je (柯文哲) wurde bei einer Pressekonferenz verkündet, dass die beiden Parteien sich für die Parlamentswahlen im Januar 2024 zusammenschließen werden, um ihre Parlamentssitze zu maximieren. Beide Parteien stehen für eine China-nähere Politik. 

 

Gerangel um die Frage, welcher Kandidat als Präsident und welcher als Vize antreten würde, machten eine Kooperation in den Präsidentschaftswahlen 2024 jedoch zunichte und nun tritt die KMT als eine der drei Parteien um das Amt des Präsidenten Taiwans an.  



Bildquelle: Frederik Schmitz

 

Polis Blog ist eine Plattform, die den Mitgliedern von Polis180 & OpenTTN zur Verfügung steht. Die veröffentlichten Beiträge stellen persönliche Stellungnahmen der AutorInnen dar. Sie geben nicht die Meinung der Blogredaktion oder von Polis180 e.V. wieder.

 

Carla Zappen studierte im Zwei-Fach-Bachelor Ostasienwissenschaften mit Schwerpunkt Sinologie und Politikwissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Zurzeit macht sie ihren Master in Peace Research and International Relations an der Eberhard Karls Universität in Tübingen.



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