Japan gilt als eine der freiesten Demokratien weltweit. Dennoch gibt es bereits seit Jahren keine ernsthafte Alternative zur Regierungspartei von Premierminister Kishida. Das Dilemma der hilflosen Opposition bedarf einer näheren Betrachtung.
Eine Kolumne von Lars Feyen
Japan kann ohne große Einschränkungen als stabile Demokratie bezeichnet werden. Dennoch konnte sich – mit zwei Ausnahmen – bei allen Wahlen seit Mitte der 1950er Jahre nur eine Partei durchsetzen: die auch heute regierende Liberaldemokratische Partei (LDP), deren ideologische Breite von extremem Nationalismus bis hin zu gemäßigt zentristischen Positionen reicht.
Auch bei der im Juli anstehenden Wahl zum Oberhaus, der nachrangigen der beiden Kammern des japanischen Parlaments, ist nicht damit zu rechnen, dass die Opposition überhaupt Sitze dazugewinnen wird. Im Gegenteil: Wählende über das gesamte politische Spektrum zeigen sich derzeit mit der Arbeit von LDP-Premierminister Kishida Fumio zufrieden und erwarten nicht, dass die Oppositionsparteien, allen vorweg die Konstitutionell-Demokratische Partei (KDP), eine ernsthafte Alternative darstellen können.
Das politische System Japans ist, auf dem Papier betrachtet, auf eine alternierende Zweiparteienstruktur ausgelegt, in der zwei dominierende Parteien oder Lager sich bei der Regierungsbildung abwechseln können. Das Problem bei dieser Vorstellung ist, dass es neben der LDP keine weitere politische Kraft gibt, die genügend Sitze erlangen kann.
Die KDP als größte Oppositionspartei ist ein kläglicher Rest der ehemaligen Demokratischen Partei Japans (DPJ), die zwischen 2009 und 2012 regierte und ebenso wie die langzeitregierende LDP eine catch all party sein sollte: ideologisch breit und inhaltlich flexibel. Die Nachfolgepartei KDP kann nicht auf die gleiche Anzahl an Kandidatinnen und Kandidaten in der Fläche zurückgreifen, ihr Wählerpotenzial beschränkt sich im Wesentlichen auf die größeren Metropolen. Problematisch bei dieser Wahlstrategie: Gerade in der Region Kansai hat sich mit der populistisch-konservativen Nippon Ishin no Kai eine weitere politische Kraft etabliert, die nicht nur Stimmen aus dem rechten Lager auf sich vereint, sondern auch einen Großteil der Anti-LDP-Stimmen auf sich vereinen kann.
Auch ein Versuch der linken und liberalen Oppositionsparteien, strategische Wahlbündnisse für die Unterhauswahl im vergangenen Jahr zu bilden, schlug fehl. Da auch die Kommunistische Partei Japans (KPJ) an diesen Bündnissen beteiligt war, fühlten sich gerade zentristische Wähler verschreckt und wandten sich auch von den Konstitutionellen Demokraten ab. Der Hauptgewerkschaftsverband Rengo, eigentlich die wichtigste Unterstützergruppe der KDP, äußerte Kritik an der kontroversen Wahlstrategie. Rengo hat seit längerer Zeit ein strapaziertes Verhältnis zu den Kommunisten. Vor einigen Wochen sorgte dann eine Zusammenkunft der Rengo-Chefin, Yoshino Tomoko, mit Vertretern der regierenden LDP für Aufsehen: dieses Treffen schien zu verdeutlichen, dass sich der Gewerkschaftsbund zukünftig nicht mehr alleine auf die KDP als politische Vertretung verlassen möchte.
Die KDP hat sich nach dem enttäuschenden Ergebnis aus dem vergangenen Oktober personell neu aufgestellt. Neben dem neuen Vorsitzenden, Izumi Kenta, hat vor allem die frisch gewählte Generalsekretärin Nishimura Chinami für Aufsehen gesorgt: sie setzte die Geschlechtergerechtigkeit bei den Kandidatinnen und Kandidaten fürs Oberhaus im Juni 2022 oben auf die Liste. So durften sich in den ersten Wochen ab Februar nur weibliche Kandidatinnen für Listenplätze bewerben, bevor diese wenig später auch für alle anderen Kandidaten geöffnet wurden.
Doch das eigentliche Problem der KDP ist damit nicht behoben. Es lässt sich auf zwei wesentliche Faktoren reduzieren: Die inhaltliche Beliebigkeit der Partei und das Verlangen der japanischen Bevölkerung nach Stabilität.
Die LDP, unter Langzeitpremierminister Abe Shinzo ein Bollwerk der neoliberalen Wirtschaftspolitik, hat sich spätestens seit Amtsantritt von Kishida Fumio neu positioniert. Haushaltsdefizite sind für die meisten Konservativen kein rotes Tuch mehr. Durch die Corona-Pandemie und die angespannte Lage seit Ausbruch des russischen Kriegs in der Ukraine haben immer mehr LDP-Abgeordnete und Interessensgruppen, die der Regierung nahestehen, ihren Widerstand gegen staatliche Hilfen für Privathaushalte und die Wirtschaft aufgegeben. Auch wenn der „Neue Kapitalismus“, wie Premier Kishida seine Wirtschaftspolitik nennt, bisher wenig Konturen aufzuweisen hat, ist er doch weniger marktliberal als die “drei Pfeile” der Abenomics, die Japans Volkswirtschaft über die letzten zehn Jahre geprägt haben. Für die KDP bedeutet dies, dass ihre Politik der stärkeren Unterstützung für einkommensschwache Menschen sich zumindest rhetorisch kaum noch von der regierenden LDP unterscheidet.
Neben der fehlenden inhaltlichen Abgrenzung kann die KDP den Wählenden aber vor allem eines nicht garantieren: Verlässlichkeit und Stabilität. Das Chaos, das die Regierungszeit der Demokratischen Partei nach 2009 begleitete, ist Vielen negativ in Erinnerung geblieben. Die Partei konnte trotz komfortabler parlamentarischer Mehrheiten aufgrund der ablehnenden Haltung des Beamtenapparats und parteiinternen Zerwürfnissen nur wenig Gesetzesprojekte umsetzen. Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten scheinen die Wählerinnen und Wähler die Stabilität der LDP zu schätzen, auch wenn diese noch so uninspiriert erscheinen mag.
Ein weiterer Pluspunkt für die LDP ist die fortdauernde Beliebtheit der amtierenden Regierung von Premier Kishida. Die Umfragewerte seines Kabinetts sind so hoch wie seit Amtsantritt im vergangenen Herbst nicht mehr. Eine solch stabile Unterstützung in weiten Teilen der Wählerschaft ist ungewöhnlich und spiegelt auch das derzeit souveräne außenpolitische Auftreten Japans wider. Kishidas harte Rhetorik gegenüber Russland, Japans fortdauernde Opposition gegenüber einem aggressiver werdenden China und die aus Sicht der Öffentlichkeit konstante Bedrohung durch das nuklear bewaffnete Nordkorea verleihen der regierenden LDP eine Aura der Kompetenz, die von keiner Oppositionspartei ersetzt werden könnte. Auch der gerade abgehaltene Staatsbesuch von US-Präsident Joe Biden dürfte in seiner Nachrichtenwürdigkeit und durch die vielen staatsmännischen Bilder nur zu der positiven Erscheinung Kishidas beigetragen haben.
Solange die LDP also weder übermutige Reformprojekte in Gang setzt (siehe als Beispiel die Regierungszeit von Premier Koizumi Junichiro Mitte der 2000er) oder sich durch geballte Inkompetenz hervortut (siehe die kurze und dennoch erstaunlich desaströse Amtszeit von Aso Taro), bleiben der KDP und den anderen Oppositionsparteien nur wenig Möglichkeiten, um sich ernsthaft zu profilieren. So bleiben die internen Auseinandersetzungen der LDP und die Wahlen für die Führungsposition der Partei oft wesentlich spannender und relevanter als die eigentlichen Wahlen zum Ober- und Unterhaus.
In der monatlichen Reihe Fokus Japan werden aktuelle Themen aus der japanischen Politik und Gesellschaft aufgegriffen und hintergründig aufgearbeitet. Fokus Japan ist eine Kooperation zwischen Polis180, dem Polis-Programmbereich connectingAsia und dem Newsletter Ausblick Ost von Lars Feyen.
Teil 1: Im Zentrum der Macht: Das politische Erbe von Shinzō Abe
Teil 2: Fokus Japan: Wenn die Zugbrücke hochgeht
Teil 3: Fokus Japan: Auf dem Schlachtfeld der Geschichte
Teil 4: Fokus Japan: Zeitenwende auch in Japan?
Teil 5: Fokus Japan: Die Kishida-Doktrin – Ein Blick auf Japans zukünftige Außenpolitik
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Lars hat Internationale Beziehungen und East Asian Studies in Erfurt und Groningen studiert. Er arbeitet derzeit beim Podcast-Radio detektor.fm in Leipzig. Er ist im Polis-Programm connectingAsia aktiv.