Japans Reaktion auf Russlands Angriffskrieg in der Ukraine war für Beobachterinnen und Beobachter ungewohnt eindeutig und schnell. Doch die Positionierung Tokyos deutet vor allem auf die Setzung langfristiger Ziele in der Außenpolitik hin.
Eine Kolumne von Lars Feyen
Die Entscheidungen waren trotz der Geschwindigkeit wohlüberlegt und das Ergebnis langer Abwägungen. So lautet zumindest die offizielle Verlautbarung des japanischen Premierministers Kishida Fumio, als er über die Verhängung von Sanktionen gegen Russland, die Ausweisung russischer Diplomaten und die ungewohnt starke Rhetorik bezüglich des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs in der Ukraine sprach. Doch trotz dieser langen Überlegungen und des Widerstands der nationalistischen Hardliner in der eigenen Regierung, die weiterhin die Rückgabe umstrittener Inseln mit Moskau verhandeln wollten, setzte sich der seit einem guten halben Jahr amtierende Premierminister in seiner ruhigen, aber bestimmten Art durch.
Die Tatsache, dass er seinem weiterhin einflussreichen Amtsvorgänger Abe Shinzo erst nach der Entscheidung über die Sanktionen aus Höflichkeit die neue Sachlage per Telefon übermittelte, spricht dafür, dass Kishida sich trotz des fortdauernden Einflusses von Abe emanzipiert. Und die Außenpolitik könnte für ihn dabei jenes Feld sein, auf dem er sich am meisten profilieren und von seinem Vorgänger absetzen kann.
Eine kurze Reise Kishidas nach Indien und Kambodscha im März gibt bereits Aufschluss darüber, welche Prioritäten die japanische Regierung derzeit verfolgt. So betonte der japanische Regierungschef beim Treffen mit Indiens Premierminister Narendra Modi zwar die Notwendigkeit zur Unterstützung der Ukraine – und ließ Modi dabei in seiner Zurückhaltung gegenüber Moskau recht hilflos aussehen. Vor allem aber wurden auf der Reise neue japanische Auslandsinvestitionen von umgerechnet 42 Milliarden US-Dollar in dem bald bevölkerungsreichsten Land der Welt betont. Dass Japan Russland zwar verurteilt, die fehlende Reaktion aus Neu-Delhi aber nicht zu stark kritisiert, könnte dabei vor allem strategische Gründe haben. Schließlich braucht man Indien als Partner zukünftig für einen erfolgreichen geostrategischen Umgang mit China.
Ein ähnlicher Ansatz war auch bei Kishidas anschließendem Besuch in Phnom Penh zu beobachten. Das Ziel hier: eine Verurteilung des russischen Vorgehens zwar gemeinsam formulieren, vor allem aber substanzielle finanzielle Entwicklungshilfe in Aussicht stellen und darauf aufmerksam machen, dass kein anderes Land in den vergangenen Jahrzehnten so viel in die Region Südostasien investiert hat wie Japan. Kambodscha, das derzeit den Vorsitz der ASEAN-Staaten innehat und als enger Verbündeter Chinas gilt, wurde somit indirekt von Japans Premier aufgefordert, eine engere Bindung an Tokyo zu erwägen.
Im Gegenzug winken dem Entwicklungsland weitere Investitionen, eine mögliche Annäherung an die USA und auf lange Sicht sogar ein bilaterales Freihandelsabkommen mit Japan. Das strategische Kalkül von Kishida scheint bei diesem Vorgehen klar zu sein: den Hintergrund der Ukraine-Invasion nutzen, um ein Partnerland zu klareren Bekenntnissen für die regelbasierte Weltordnung zu bewegen und die Vorteile eines regelkonformen Verhaltens verdeutlichen. Und das gelang anscheinend: Eine indische Website erklärte die Reise von Kishida für so erfolgreich, dass sie fragte, ob Japan sich gerade Kambodscha aus dem chinesischen Lager „weggeschnappt“ hätte.
Dass der japanische Regierungschef gerade im regionalen Kontext diese neuen Akzente setzt, hat drei wesentliche Gründe.
Erstens ist zu erkennen, dass Kishidas Vorgänger ihm ein in Teilen unbestelltes Feld in der Außenpolitik hinterlassen haben. Trotz des umfangreichen Einflusses, den Japan aufgrund seiner Wirtschaftskraft und seiner geostrategischen Position haben könnte, ist Tokyo weit unter den eigenen Ansprüchen zurückgeblieben. Japan, einer der größten Geberstaaten internationaler Organisationen, ist in vielen Institutionen nur geringfügig vertreten oder pflegt schwierige Beziehungen zu diesen.
Auch die äußerst geringe Bereitschaft zur Aufnahme Geflüchteter in den vergangenen Jahrzehnten kommt zu dieser blassen internationalen Performance hinzu, von den kleinkarierten Auseinandersetzungen mit dem Nachbarland Südkorea über eine gemeinsame Geschichtsschreibung ganz zu schweigen. Die eigenwillige Außenpolitik Japans hat dabei zuletzt merkwürdige Blüten getragen. Der sehr personalisierte diplomatische Kurs von Abe Shinzo etwa bescherte dem amerikanischen Staatschef Donald Trump eine vergoldete Baseballkappe und Russlands Präsident Wladimir Putin einen Onsen-Besuch – ließ Tokyo aber letztendlich mit leeren Händen dastehen.
Zweitens hat Kishida als dienstältester Außenminister Japans die wenigen Höhepunkte japanischer Diplomatie über das letzte Jahrzehnt maßgeblich mitgeprägt. So hatte er den historischen Besuch des damaligen US-Präsidenten Barack Obama beim Friedensdenkmal in Hiroshima 2016 organisiert. Bleibenden Eindruck hinterließ Kishida übrigens auch bei seinem russischen Amtskollegen: Eigenen Aussagen zufolge hatte er Russlands Außenminister Sergei Lawrow 2017 bei einem feuchtfröhlich-diplomatischen Treffen mit Wodka unter den Tisch getrunken.
Und weil Kishida nach seiner Zeit als oberster Diplomat ebenfalls Verteidigungsminister war, ist er über die dynamische sicherheitspolitische Gesamtsituation in Ostasien im Bilde und kann die aggressiver werdenden Ansprüche der Volksrepublik China einordnen. Die Bestrebungen Tokyos, das eigene Verteidigungsbudget aufzustocken, dürften also fortgesetzt und womöglich noch intensiviert werden.
Drittens ist eine noch umfassendere und koordinierte China-Politik mit Partnern im Indopazifik drängender denn je. Die wachsenden Konflikte um den Status Taiwans, dessen Eigenständigkeit bereits Teil des japanischen Sicherheitsverständnisses geworden ist, und die aggressivere Haltung Pekings auch gegenüber anderen Regierungen im Indopazifik führen auch Tokyo vor Augen, dass eine institutionalisierte Defensiv-Allianz von gleichgesinnten Staaten ein Ziel Japans sein sollte.
So ließe sich etwa die Quad-Gruppe – bestehend aus Japan, Indien, Australien und den USA – um Südkorea erweitern, dessen neuer Staatschef Yun Seok-yeol bereits Interesse an einer Teilnahme geäußert hat. Auch eine Aufnahme Japans in die AUKUS-Allianz – bestehend aus Australien, dem Vereinigten Königreich und den USA – wäre eine prinzipiell von Tokyo gewollte und von Peking befürchtete Entwicklung hin zu einer institutionalisierten Sicherheitsallianz.
Gepaart mit den verstärkten handelspolitischen Bemühungen Japans – die oben genannten Beispiele Indien und Kambodscha sind neben Tokyos Unterstützung für ambitionierte Freihandelsabkommen zwei weitere Indizien hierfür – bildet sich so eine konsequente und vor allem langfristige Agenda in der Außenpolitik heraus.
Hindernisse bestehen jedoch weiterhin. Zum einen muss Kishida die irrationalen Vorstellungen der Nationalisten in der eigenen Partei unter Kontrolle halten. Die anhaltenden Bestrebungen japanischer Politikerinnen und Politiker, die historische Realität in Schulbüchern zu verfälschen und somit einen schwelenden Streit mit Südkorea heraufzubeschwören, könnten die Akzeptanz eines militärischer agierenden Japans in der Region unterminieren. Zum anderen ist zu befürchten, dass die Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus oder die Wahl eines ebenso protektionistischen US-Präsidenten im November 2024 eine langfristige Allianzbildung im Indopazifik auf allen Ebenen erschweren könnte. Auch wenn Japan sich weiterhin gerne auf die guten Beziehungen zu Washington verlassen möchte, sollten substanzielle Alternativen mit direkten Verbündeten in der Region diskutiert und umgesetzt werden.
Umso mehr ist die Regierung Kishida nun also gehalten, das vorhandene Momentum der politischen Großwetterlage zu nutzen und die strategischen und ökonomischen Partnerschaften in der Region auszubauen. Japan ist als einziger asiatischer Staat Teil der G7-Gruppe und hat theoretisch eine starke Stimme in der internationalen Gemeinschaft. Gleichzeitig ist dieses regionale Alleinstellungsmerkmal Tokyos ein Grund mehr, warum ein verantwortungsbewusstes Handeln des Landes nur unter Berücksichtigung der gesamten Region funktionieren kann.
Sollte ein solcher außenpolitischer Kurs trotz der internen und externen Widerstände für die japanische Regierung möglich sein, ließe sich tatsächlich vom Beginn einer Art Kishida-Doktrin mit ökonomischen und militärisch-strategischen Zielen sprechen.
In der monatlichen Reihe Fokus Japan werden aktuelle Themen aus der japanischen Politik und Gesellschaft aufgegriffen und hintergründig aufgearbeitet. Fokus Japan ist eine Kooperation zwischen Polis180, dem Polis-Programmbereich connectingAsia und dem Newsletter Ausblick Ost von Lars Feyen.
Teil 1: Im Zentrum der Macht: Das politische Erbe von Shinzō Abe
Teil 2: Fokus Japan: Wenn die Zugbrücke hochgeht
Teil 3: Fokus Japan: Auf dem Schlachtfeld der Geschichte
Teil 4: Fokus Japan: Zeitenwende auch in Japan?
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Lars hat Internationale Beziehungen und East Asian Studies in Erfurt und Groningen studiert. Er arbeitet derzeit beim Podcast-Radio detektor.fm in Leipzig. Er ist im Polis-Programm connectingAsia aktiv.