Die Ermordung von Ex-Premierminister Shinzo Abe hat Japans Politik verändert. Abe könnte auch nach seinem Tod die Politik des Landes weiter prägen. Doch auch die Kontroversen um seine Person reißen nicht ab.
Eine Kolumne von Lars Feyen
Als meine Blogreihe “Fokus Japan” Ende letzten Jahres ihren Anfang fand, war für mich der logische Ausgangspunkt, um das Japan der Gegenwart zu verstehen, der Mensch, der die Politik und Gesellschaft wie kein anderer in den letzten Jahrzehnten geprägt hat: Shinzo Abe.
Ich war damals der Überzeugung, dass Abe durch die Auswahl seiner Nachfolger als Premierminister die japanische Politik und die regierende Liberaldemokratische Partei (LDP) noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte über das Ende seiner Amtszeit hinaus prägen würde. Das war ungefähr sieben Monate, bevor Abe Anfang Juli bei einer Wahlkampfveranstaltung im westjapanischen Nara angeschossen wurde und am gleichen Tag in einem Krankenhaus an den Schussverletzungen starb.
Das Attentat, welches sich zwei Tage vor der Wahl zum Oberhaus des nationalen Parlaments ereignete, versetzte Japan diesen Sommer für einige Wochen in eine Art Schockstarre. Alle relevanten politischen Parteien unterbrachen den Wahlkampf.
Nicht nur in Japan, sondern auch in vielen verbündeten Staaten zeigten politische Amtsträger große Bestürzung. US-Außenminister Antony Blinken verlängerte seine am G20-Gipfel ausgerichtete Asienreise für einen Besuch in Tokyo. Japan und die USA seien enge Freunde und in schweren Zeiten stehen Freunde einander bei, so Blinken. Indien verkündete eine eintägige Staatstrauer zu Ehren Abes, in der taiwanischen Hauptstadt Taipeh leuchtete das Hochhaus Taipei 101 mit Dankesbotschaften an den Verstorbenen in den tropischen Nachthimmel. Abe galt als einer der kompromisslosesten Unterstützer eines unabhängig regierten Taiwans.
Die Reaktionen aus den anderen Anrainerstaaten waren, kaum verwunderlich, weniger positiv. Südkoreas konservativer Präsident Yun sprach den Angehörigen und dem japanischen Volk erst nach längerem Schweigen sein Beileid aus. Und während Chinas Staatsführung den Einsatz Abes zur Normalisierung der bilateralen Beziehungen hervorhob und das Attentat verurteilte, äußerten sich chinesische Netizens deutlich kritischer und abwertender. Abes revisionistische Sicht auf Japans Kolonialgeschichte und von der kaiserlichen Armee in ganz Asien begangene Kriegsverbrechen lieferten ihnen mehr als genug Gründe für Häme.
Es bleibt schwer, Abes politischen Nachlass eindeutig zu bewerten. Auf der einen Seite war er der Enkel von Premierminister Nobusuke Kishi, der entgegen der damaligen Stimmung für den Aufbau einer japanischen Armee in den 1960er Jahren plädierte. Abes politische Karriere begann eher zurückhaltend als Sekretär seines Vaters, der in den 1980er Jahren Außenminister war. Schon vor seiner ersten Amtszeit als Premierminister vor 2007 wurde Abe als vehementer Unterstützer der von Nordkorea entführten japanischen Staatsbürger bekannt.
Seine starke Verankerung in einer politischen Dynastie ist zwar nicht ungewöhnlich; jedoch galt Abes Loyalität Beobachtern zufolge vorrangig der eigenen Familie, weniger dem Land. Ein Großteil von Abes Nationalismus speiste sich aus der Sozialisierung im großelterlichen Haus und der politischen Gesinnung seines Großvaters. Diese enge Verbindung zur eigenen Familiengeschichte sowie der ungebrochene Wille, das eigene Land grundlegend auf eine neue Zeit vorzubereiten, machten Abe zu einem „Politiker des 19. Jahrhunderts, der sich im 21. Jahrhundert zurechtfinden musste“, wie es Abe-Biograph Tobias Harris in einem Nachruf formulierte.
Und so erscheint es fast wie eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die engen Verbindungen seines Großvaters zur sektenartigen Unification Church zu Abes Ermordung geführt haben. Der Attentäter gab an, sich für an der sektenartigen Organisation rächen zu wollen; weil er keine Chance sah, die Kirchenführung selbst anzugreifen, entschied er sich lieber für jenen Politiker, der den großen Einfluss der Unification Church auf die regierende LDP wie kaum ein anderer in den letzten Jahrzehnten ermöglicht hat.
Und während nach seiner ebenso katastrophalen wie kurzen Amtszeit viele Beobachtende den blass gebliebenen Abe 2007 bereits abgeschrieben hatten, kehrte er 2012 umso schlagkräftiger zurück. Mit einem ambitionierten Wirtschaftsprogramm, um die stagnierende japanische Wirtschaft wiederzubeleben – Abenomics – und dem unverrückbaren Plan, Japans Militär wieder aufzubauen. Und während viele dieser Initiativen wie aus dem Handbuch eines gestandenen konservativ-nationalistisch gesinnten Politiker zu stammen scheinen, war Abe ebenso ein Unterstützer der stärkeren Einbindung für Frauen in die Arbeitswelt. Abe war für die japanischen Nationalisten stets wichtiger als andersherum.
Außenpolitisch bleibt Abes harter Kurs gegenüber China in Erinnerung, ebenso wie seine Weigerung, Japans historische Verbrechen vollumfassend anzuerkennen. Gleichzeitig war es vor allem dank seiner Initiative, dass das mit den USA geplante Freihandelsabkommen TPP nach dem Amtsantritt von Donald Trump auch ohne Washington eingeführt wurde. Auf Abe geht auch das Konzept eines „offenen und freien Indopazifik“ zurück, welches er bei einer Rede vor dem indischen Parlament 2007 im politischen Lexikon etablierte. Eine solche Sicht auf die Region, die vor allem gegen die stärker werdenden Einflüsse aus Peking militärisch und handelspolitisch gewappnet sein soll, ist inzwischen zu einem Standardbegriff auch in westlichen Hauptstädten geworden. Die USA, die EU und auch einzelne europäische Staaten wie Deutschland haben inzwischen eigene Indopazifik-Strategien erarbeitet.
Trotz seiner langen zweiten Amtszeit (2012-2020), die ihn zum dienstältesten Regierungschef seit Beginn der Meiji-Restauration von 1868 beförderte, blieb jedoch ein Großteil seiner politischen Projekte auf der Strecke. Die Wirtschaft konnte sich nach anfänglich vielversprechenden Zeichen nicht dauerhaft erholen und die Deflation der letzten 30 Jahre umkehren. Der lange Zeit starke Widerstand gegen eine Änderung der Verfassung, die für eine offizielle Remilitarisierung notwendig wäre, verhinderte die Abschaffung der Pazifismus-Klausel in Artikel 9. Ebenso ist der Anteil an arbeitenden Frauen, auch aufgrund fehlender Kinderbetreuung, weiterhin beschämend gering im Vergleich mit den meisten anderen Industriestaaten.
Trotzdem war nach Abes Rücktritt vor knapp zwei Jahren – ebenso wie bei seinem ersten Rücktritt offiziell wegen chronischer Gesundheitsprobleme – klar, dass sein Schatten weiterhin über der regierenden LDP hängen würde. Seine Unterstützung hob zwei weitere Premierminister ins Amt. Und besonders der derzeit amtierende Fumio Kishida dürfte sich als „beste Erfindung“ Abes herausstellen, wie ein Kommentator vor kurzem bemerkte. Denn trotz seiner Ambitionen war Abe selten bereit, zuzuhören und seine Kritiker durch Verständnis zu überzeugen. Kishida dürfte gegebenenfalls besser in der Lage sein, selbst die ambitioniertesten Projekte von Abe in die Realität umzusetzen, weil er weniger konfrontativ und dennoch bestimmt auftreten kann.
So hat Kishida beispielsweise nach längerem Abwägen harsche Sanktionen gegen Russland verhängt, die vielen in der LDP zu weit gingen, Japan aber in Einklang mit westlichen Verbündeten gebracht hat. Die sich ändernde öffentliche Meinung in Japan sowie das gute Abschneiden der LDP bei den Anfang Juli veranstalteten Oberhauswahlen haben der Regierung eine solide Ausgangsposition gegeben, um die Verfassung doch noch zu ändern.
Doch wieder einmal sind es Kontroversen um den verstorbenen Abe, die solchen Plänen im Weg stehen könnten. Denn das von Premierminister Kishida ausgerufene Staatsbegräbnis – erst das zweite seiner Art für einen Premierminister nach 1945 – und die damit verbundenen hohen Kosten sorgen für ebenso viel Unmut wie die nicht abreißenden Berichte über die Verbindungen der Unification Church zur LDP und praktisch der gesamten politischen Elite Japans.
Japan wird innen- wie außenpolitisch nach Abes Ermordung nicht mehr das gleiche Land sein. Und auch, wenn Shinzo Abe Japan wie kein anderer Premierminister geprägt hat und für die absehbare Zukunft prägen wird: In Tokyo könnte über kurz oder lang eine neue Zeitrechnung beginnen.
In der monatlichen Reihe Fokus Japan werden aktuelle Themen aus der japanischen Politik und Gesellschaft aufgegriffen und hintergründig aufgearbeitet. Fokus Japan ist eine Kooperation zwischen Polis180, dem Polis-Programmbereich connectingAsia und dem Newsletter Ausblick Ost von Lars Feyen.
Teil 1: Im Zentrum der Macht: Das politische Erbe von Shinzō Abe
Teil 2: Fokus Japan: Wenn die Zugbrücke hochgeht
Teil 3: Fokus Japan: Auf dem Schlachtfeld der Geschichte
Teil 4: Fokus Japan: Zeitenwende auch in Japan?
Teil 5: Fokus Japan: Die Kishida-Doktrin – Ein Blick auf Japans zukünftige Außenpolitik
Teil 6: Fokus Japan: Eine Demokratie ohne Wettbewerb?
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Lars hat Internationale Beziehungen, Romanistik und East Asian Studies in Erfurt und Groningen studiert. Er arbeitet derzeit beim Podcast-Radio detektor.fm in Leipzig und Teil der Programmleitung im Polis-Regionalschwerpunkt connectingAsia.