Polisblog
13. November 2020

Reine (Re)Form-Sache? Die Nachhaltigkeit der GAP in der Kritik

Vom 20. bis zum 23. Oktober hat der seit Juli unter deutschem Vorsitz stehende Rat der Europäischen Union über eine umfassende Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) abgestimmt. Die dieses Jahr anstehende strukturelle Überarbeitung hatte allerdings nicht nur den wie alle sieben Jahre “klassischen” Reformbedarf, sondern musste vielmehr Bezug auf die durch die Covid-19-Krise befeuerten Krisensymptome nehmen. 

Ein Beitrag von Lukas Seelig

 

Die Entwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union

Wirft man einen Blick auf die allgemeine Haushaltsverteilung der EU, rückt augenblicklich die zentrierte Position der ältesten gemeinsamen Politik der EU ins Zentrum, nämlich die der GAP. Unter anderem aufbauend auf dem in Artikel 3 des “Vertrages über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft” (Römische Verträge 1957) genannten Ziel der “Einführung einer gemeinsamen Politik auf dem Gebiet der Landwirtschaft”, zielte die GAP bereits damals darauf ab, in einem noch vom Krieg geprägten Europa eine erschwingliche Nahrungsmittelversorgung mit einem ausreichenden Einkommen für die Landwirte zu verbinden. 

Seit ihrer Etablierung in den 1960er Jahren auf dem freien Warenverkehr in der EWG, dem Vorrang der innergemeinschaftlichen Erzeugung vor Importen aus Drittstaaten und der finanziellen Solidarität basierend, wird die GAP in der Forschung auch als “Frontrunner” europäischer Integration bezeichnet. Vor diesem Hintergrund entfielen bereits 1970 90 Prozent aller Ausgaben des damaligen Haushaltes der EWG an diesen Sektor

So haben Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande nicht nur Binnenzölle auf die wichtigsten Agrarprodukte abgeschafft, sondern sich auf das Erheben gemeinsamer Abgaben auf Importe sowie das staatliche Subventionieren von Exporten in die restliche Welt geeinigt. Auch die Einführung des Systems der garantierten Preise, welches sicherstellt, dass Landwirte für die von ihnen bereitgestellten Produkte verlässliche Erlöse erzielten, kennzeichnete bereits damals die frühen Konturen der GAP.

In Anbetracht der Notwendigkeit kontinuierlicher Modernisierung, manifestierte dann die “Agenda 2000”-Reform der GAP deren bis heute anhaltende, auf zwei Säulen basierende Struktur: Direktzahlungen an die Landwirte und Förderung für die ländliche Entwicklung. Um die in der ersten Säule inkorporierten Direktbeihilfen jedoch in voller Höhe zu erhalten, muss jeder Landwirt zusätzliche Verpflichtungen erfüllen, die sogenannten „Cross-Compliance“-Regeln. Diese verbinden die Einhaltung bestimmter Grundregeln mit der die GAP kennzeichnenden Einkommensstütze der EU und zielen u.a. darauf ab, bereits genutzte Flächen in einem guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand zu erhalten, und etwaige Bodenerosion zu verringern. Ferner greifen diese Regeln generelle Verpflichtungen zu Tierschutz oder zu Lebensmittelsicherheit auf.

Heute noch werden aus der ersten Säule die Direktzahlungen an die Landwirte finanziert, um vor allem die Stärkung kleinerer und mittlerer Betriebe sowie die wirtschaftliche Unterstützung benachteiligter Regionen zu gewährleisten. Darüber hinaus wird die Perpetuierung dieser finanzierungsbezogenen Verfasstheit der ersten Säule kontinuierlich damit begründet, dass die in ihr enthaltenen Direktzahlungen weiterhin extensive Stabilisierungsfunktionen in Bezug auf die Einkommenssicherung für Landwirte haben und die Auswirkungen der Preisschwankungen bei Agrarprodukten konterkarieren. 

Auch die inhaltlichen Förderungsstrukturen der zweiten Säule sind bis heute konstant geblieben. So beinhaltet diese immer noch die gezielten Förderprogramme, welche etwa auf Maßnahmen wie eine nachhaltige und umweltschonende Bewirtschaftung abzielen. Eingefasst in das Konzept des “Greening”, werden hier seit der Reform von 2014 30 Prozent der Direktbeihilfen für umweltfreundliche Anbaumethoden gewährt. Doch die Direktzahlungen im Zuge der Ökologisierung brachten im Nachhinein die Kritik mit sich, die Reform als Momentum verpasst zu haben, um das System der Direktzahlungen prozedural mit einem System gezielter Honorierung öffentlicher Güter zu substituieren. Vor diesem Hintergrund hat der Europäische Rechnungshof herausgestellt, “dass die Ökologisierung so, wie sie derzeit umgesetzt wird, wohl kaum signifikant zur Verbesserung der Umwelt- und Klimaleistung der GAP beitragen wird”. 

Zudem lässt sich seit mehreren Jahren die strategische Verknüpfung der GAP zu den umweltspezifischen Objektiven der Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen und den hier enthaltenen Zielen 1, 2, 6, 12, 15 beobachten. Seit 2015 werden agrarpolitische Problematiken auch zunehmend in Regimenetzwerken wie den G7- und G20-Gipfeln aufgegriffen, etwa unter Rekurs auf die Themen der Antibiotikaresistenz oder aber der Stärkung der Landwirtschaft als Arbeitgeber im Kontext der europäischen Flüchtlingskrise.

In Anlehnung an die regionalen Differenzen im Framework der GAP, kommt auch dem Austritt des Vereinigten Königreiches (UK) aus der Europäischen Union eine transformativ mächtige Rolle zu. Gingen noch 2016 60 Prozent aller britischen Agrarexporte in die EU, ist für die britische Agrarindustrie künftig das “Agriculture Bill” ausschlaggebend. Für die verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten hingegen bedeutet der Austritt des Vereinigten Königreichs vor allem die Entstehung eines zunehmenden Wettbewerbsdrucks, da mit dem UK ein großer Absatzmarkt weg- und ein interner Wettbewerb um Absatz ausbricht.

 

Weniger Überproduktion, mehr Umwelt- und Tierschutz: Ansprüche an die GAP

Angesichts der GAP als einem Politikfeld, das den Alltag von nahezu 40 Millionen Arbeitsplätzen prägt, wurden seit der letzten Reform diverse Ansprüche an deren neue Version formuliert. So kritisieren vor allem die Landwirte seit mehreren Jahren, dass die agrarische Realität stark von der europapolitischen differiere. Hierüber hinausgehend sieht sich die GAP seit ihrem Bestehen auch mit Herausforderungen wie dem Generationenwechsel auf den Höfen und in landwirtschaftlichen Betrieben, dem internationalen Wettbewerb oder aber jüngst den Brexit sowie den Implikationen der Covid-19-Pandemie konfrontiert.

Vor dem Hintergrund des langfristigen Anliegens der EU, im globalen Wettbewerb einer der Vorreiter in den Bereichen des Umwelt- und Tierschutz zu werden, ist für die allgemeine Kontextualisierung der Ambitionen einerseits der 2019 durch die Europäischen Kommission veröffentlichten “Green New Deal” essenziell. Andererseits kommt auch den im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie initiierten “EU Wiederaufbaufonds” eine zentrale Funktion zu. Diese sehen den Umbau der europäischen Landwirtschaft vor und intendieren, die strukturelle Modifikation landwirtschaftlicher Praxis an den Inhalten der im Green Deal formulierten Klimaziele zu orientieren. 

Ferner reflektierte das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft den im Zusammenhang mit der vorherigen GAP-Variante vorgebrachten Vorwurf, nach welchem die Ökologisierung der Direktzahlungen den administrativen Aufwand für Agrarverwaltungen und Landwirte deutlich erhöht habe. Dieser Vorwurf wurde von der Bundesregierung im Vorfeld der EU-Ratspräsidentschaft aufgegriffen und mit dem Ziel, “die GAP für Landwirte und Verwaltungen [zu] vereinfach[en], flexibilisier[en] und [zu] stärken” in das Programm der Präsidentschaft inkludiert.

Ein weiterer Schwerpunkt, dem sich die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im Anschluss an die Forderung nach mehr Transparenz und Flexibilität verschrieben hatte, war das Voranbringen eines europäischen Tierwohlkennzeichens, welches als konstitutiver Baustein für eine zunehmend tierwohl-fokussierte europäische Nutztierhaltung interpretiert wird. Vor dem Hintergrund, dass die globalen Dimensionen der Landwirtschaft auch ein Forum des internationalen Wettbewerbs darstellen, unterstrich Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft Julia Klöckner zudem das Ziel der deutschen Ratspräsidentschaft, dass “die europäischen Landwirte auch beim Übergang zu umweltfreundlicheren Methoden wettbewerbsfähig bleiben”. 

Im Vorfeld der Präsidentschaft wurde hierzu ergänzend herausgestellt, stärker auf die Funktionalisierung von Digitalisierung sowie neue Technologien zu setzen, um Ressourcen exakter einzusetzen und etwa den Bedarf an Betriebsmitteln wie Pflanzenschutz- und Düngemitteln zu verringern. Auch nicht-staatliche Akteure wie der NABU haben im Vorfeld der deutschen Ratspräsidentschaft die Reform der GAP als „die größte Chance in diesem Jahrzehnt“ identifiziert, um „die Bedingungen für die überfällige Veränderung der Landwirtschaft zu schaffen“. 

Die Fleischindustrie, deren ProduzentInnen und AbnehmerInnen in diesem Jahr auch mit plötzlich eingebrochenen Handelsketten, fehlenden LohnarbeiterInnen und der Schweinepest konfrontiert wurden, kam zu allem Übel in den Verruf, als Corona-Infektionsherd zu gelten. Deutsche Schlachthöfe wurden genauer unter die Lupe genommen, wo sich nicht nur abgetane Zustände für Tiere, sondern auch für europäische LeiharbeiterInnen abzeichneten. Weltweit, ausgelöst durch das in China erstmals von Tier auf Mensch übertragene Coronavirus, wobei wiederum China erst kürzlich die importierte deutsche Schweinehaxe für neue Infektionsausbrüche verantwortlich machte; oder gigantische Fleischfabriken in den USA reihenweise von Corona betroffen und von der Vergasung von tausenden Nutztieren berichtet wurde, schien eine neue Welle des Umdenkens stattzufinden. 

Es geht um “artgerechte” Tierhaltung, den Verzehr von zu viel Fleisch, aber natürlich auch um erschreckende Arbeitsbedingungen. Könnte die EU die globale Lebensmittelindustrie modernisieren, so wie das etwa der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft e.V. im Vorfeld der Reform forderte? Können die Schreckensmeldungen auch als Chance wahrgenommen werden, das Preis-Leistungs-Niveau bei Nahrungsmitteln anzuheben? Und kann Deutschland, wie in einigen anderen umweltpolitischen Bereichen, auch hier als gutes Beispiel vorangehen? 

 

Die deutsche Ratspräsidentschaft und die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik

Der analytischen Untersuchung der deutschen Prioritäten vorgreifend, ist es für die transnationale Kontextualisierung der adressierten Problematiken zunächst einmal zentral, die Inhalte der agrarpolitischen Treffen vor dem Hintergrund der Trio-Präsidentschaft mit Slowenien und Portugal zu interpretieren. So hat sich Julia Klöckner im Vorfeld mit den AgrarministerInnen der beiden Kooperationsländer abgestimmt. 

Im Vorfeld des in Luxemburg organisierten Treffens der zuständigen EU-MinisterInnen zum Rat für Landwirtschaft und Fischerei am 19. und 20. Oktober, vor dem Hintergrund der anfänglich genannten und in der agrar- und umweltökonomischen Forschung erarbeiteten Schwächen der aktuellen Form der GAP, haben sich die inhaltlich zunächst konfligierenden Mitgliedstaaten im Rahmen der “Allgemeinen Ausrichtung” auf eine inhaltliche Reform der GAP geeinigt.

Neben einem intensivierten Anspruch der “Grünen Architektur”, sieht die Einigung vor, dass zukünftig alle in der ersten Säule der GAP eingefassten Direktzahlungen mit spezifischen Konditionen korreliert, und umwelt- und klimabezogene Nachhaltigkeitskriterien erfüllt werden. Zu diesen Kriterien gehören etwa die Herausnahme von Flächen aus der Produktion für Biodiversität oder aber der Erhalt von Dauergrünland, sowie der Schutz von Feuchtgebieten.

Vor dem Hintergrund eines weiteren, auch von der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina auf der Agenda manifestierten Kernelementes des “European Green Deal”- biodiversitätsspezifischen Policies hat der Rat am 24. Oktober auch diverse Ratsschlussfolgerungen zu der ein Budget von etwa 20 Milliarden Euro umfassenden “EU-Biodiversitätsstrategie 2030” beschlossen. Die Strategie sieht vor, neben einer Stärkung der Biolandwirtschaft auch die Quantität bewaldeter Naturräume auszubauen und etwa bis 2030 drei Milliarden Bäume anzupflanzen.

Ferner soll auch der Einsatz von schädlichen Pflanzenschutzmitteln bis 2030 um 50 Prozent reduziert werden. Dementsprechend einigten sich die 27 MinisterInnen auf die an die Kommission gerichtete Forderung, die Ziele der Biodiversitätspolitik der EU in relevante künftige Legislativvorschläge aufzunehmen, die Ziele in andere Sektoren wie Landwirtschaft, Fischerei und Forstwirtschaft einzubeziehen, und kohärente rechtsverbindliche Ziele für die Wiederherstellung der Natur vorzuschlagen. Außerdem begrüßte der Rat das Ziel, ein kohärentes Netz gut verwalteter Schutzzonen einzurichten und diese auf mindestens 30 Prozent der Landfläche und 30 Prozent der Meere der EU zu erweitern

Um auch die anhaltende Reproduktion der Fischbestände in europäischen Meeren sowie die Erhaltung des maritimen Ökosystems zu sichern, werden auf EU-Ebene regelmäßig sogenannte Mehrjahrespläne sowie jährliche Fangbeschränkungen erlassen. Erstere, von denen der aktuellste am 1. Januar 2014 in Kraft getreten ist, konkretisieren die Ziele für die Bewirtschaftung der Fischbestände. Die jährlichen Fangbeschränkungen hingegen reflektieren die kommerzielle Seite des Fischfangs und definieren die durch den Rat jährlich festgelegten TACs (“total allowable catches”). Unter anderem aufbauend auf den Zielen der “Gemeinsamen Fischereipolitik zur Erreichung einer nachhaltigen Fischerei”, wurden eingefasst in die deutsche Ratspräsidentschaft die für das Jahr 2021 geltenden Fangquoten beschlossen. 

Wegen der anhaltenden schwierigen Beschaffenheit der Fischbestände in der Ostsee, berücksichtigen die neu formulierten Fangquotenbeschlüsse für die zehn kommerziell wichtigsten Fischbestände auch die Probleme des Klimawandels, der Eutrophierung und industrieller Verschmutzung. Neben der abschließenden Beratung des Vorschlages für den Europäischen Meeres-, Aquakultur- und Fischereifonds nach 2020, wurde sich auch auf die Förderung der endgültigen Stilllegung von Fischereifahrzeugen in der Ostsee sowie die Milderung der Auswirkungen für die betroffenen Fischer geeinigt.

Ein weiteres, die deutsche Ratspräsidentschaft im Agrarsektor prägendes Objektiv, war und ist die Formulierung konkreter Ziele und Inhalte der Strategie “Vom Hof auf den Tisch” (“Farm to Fork”). Diese 27 Maßnahmen umfassende Strategie wurde im Rahmen des grünen Deals im Mai 2020 vorgestellt und soll – vor dem Hintergrund einer nachhaltigen, flächengebundenen, innovativen Landwirtschaft – eine gesündere und umweltfreundlichere Lebensmittelproduktion mit den Dimensionen wirtschaftlicher Tragfähigkeit, Krisenresilienz sowie gesellschaftlicher Akzeptanz korrelieren. 

Konkret tangieren die Inhalte der Strategie eine tiergerechte und nachhaltige Produktion, den Erhalt der Arten- und Sortenvielfalt, den Schutz des Klimas sowie die attraktive Gestaltung von Natur- und Erholungsräumen. Darüber hinaus sieht die Strategie unter anderem eine Kürzung der Lieferketten, die Reduktion des Einsatzes von Düngemitteln, die Reduzierung von Lebensmittelverschwendung sowie die Schaffung eines Lebensmittelsystems vor, das die Interdependenz zwischen der Gesundheit der Bevölkerung, den Belastungsgrenzen der Umwelt sowie die Gewährleistung eines gerechten Einkommens für Primärerzeuger reflektiert. 

Der Ambition entsprechend, sich im Rahmen der Ratspräsidentschaft auch für ein höheres Maß an Tierwohl einzusetzen und den Raum Europas für über die einzelstaatlichen Kontexte hinausgehende Kooperation zu nutzen, gelang es Landwirtschaftsministerin Klöckner, die Unterstützung der AgrarministerInnen der Europäischen Union zu gewinnen und dieses als einen ersten Baustein auf dem Weg zu mehr Tierwohl in der europäischen Nutztierhaltung zu identifizieren. Um allerdings die Möglichkeiten, die die Position der deutschen Ratspräsidentschaft mit sich bringt, realistisch einschätzen zu können, ist auf den Umstand zu verweisen, dass das Initiativrecht für eine entsprechende EU-Regelung ausschließlich bei der Europäischen Kommission liegt. 

Dementsprechend liegt es aus der Perspektive kompetenzieller Ordnungen nur in dem deutschen Möglichkeitsbereich, während der deutschen Ratspräsidentschaft Ansatzpunkte für die Ausgestaltung eines EU-weiten, im Idealfall für alle Mitgliedstaaten verpflichtenden Tierwohlkennzeichens zu erörtern. Mit anderen Worten, reflektiert man die das EU-Recht prägenden und vertraglich exakt festgeschriebenen Kompetenzzuweisungen zwischen der EU und den Nationalstaaten, so eröffnet sich aus legislativer Perspektive auch im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft kein window of opportunity, um auf der Ebene der MST ein verpflichtendes System erweiterter Nährwertkennzeichnung zu installieren. Es besteht lediglich die Möglichkeit, das Etablieren einer staatlichen Empfehlung zu diskutieren, diese haben allerdings keinen rechtlich bindenden Charakter.

 

Neue Reform oder alte Norm? Eine kritische Reflektion der deutschen Ratspräsidentschaft

Es ist gelungen, künftige Direktzahlungen an klare Umweltschutzmaßnahmen zu binden, für alle Staaten verpflichtende, kollektive Standards für den Umwelt- und Klimaschutz zu etablieren und diese Regularien mit der für Landwirte essentiellen Einkommens- und Ertragssicherung zu korrelieren. Allerdings lenken die Erfolge in diesem Zusammenhang von dem ausbleibenden Erreichen nennenswerter Erfolge im Bereich der Saison- und Leiharbeit ab. So hat der Rat im Oktober zunächst festgehalten, dass SaisonarbeiterInnen einen wichtigen Beitrag zu dem europäischen Binnenmarkt leisten, in dem selben Zusammenhang jedoch auch Bedingungen diagnostiziert, in deren Rahmen diese in der EU häufig unter schlechten Bedingungen und – in der Folge mangelhafter Aufklärung über die eigenen Rechte – häufig unter an Ausbeutung grenzenden Umständen arbeiten. 

So fordert der Rat die einzelnen Mitgliedstaaten zwar auf, die Rechtsvorschriften der EU im Rahmen ihrer Zuständigkeiten konsequent durchzusetzen und zu erwägen, spezielle Anforderungen an Zeitarbeits- und Arbeitsvermittlungsagenturen zu stellen, verpasst aus der Perspektive diverser Akteure jedoch auch hier das window of opportunity für noch weitreichendere Schlussfolgerungen. So bemerkte etwa die Europäische Gewerkschaftsvereinigung für Ernährung, Landwirtschaft und Tourismus (EFFAT) in ihrer überwiegend würdigenden, aber dennoch kritisch reflektierenden Bezugnahme auf die Schlussfolgerungen des Rates das Fehlen eines klaren Hinweises auf die Notwendigkeit, rechtsverbindliche EU-Maßnahmen zu verschiedenen Aspekten zu entwickeln

Im Anschluss an die vom NABU im Vorfeld der Ratspräsidentschaft formulierten Ziele, kritisierte dieser im Nachhin eine aus seiner Perspektive unzureichende Tragweite der im Rahmen der Reform formulierten Policies. So argumentierte etwa der Bundesgeschäftsführer der NABU, Leif Miller, dass die beschlossenen Reformen ein “schädliches Subventionssystem von vorgestern” zementieren würden und die landwirtschaftlichen Betriebe in Hinblick auf die Bearbeitung unweigerlich steigender Klima- und Umweltauflagen alleine gelassen würden.

Dass das neue GAP-Reformpaket auch abseits der nicht-staatlichen Ebene argumentativ aufgeladene und vor allem kritische Perspektivierungen mit sich brachte, ließ sich am 28. Oktober zudem in der im Bundestag abgehaltenen Aktuellen Stunde nachvollziehen. In deren Rahmen kritisierte etwa Friedrich Ostendorff (Bündnis90/Die Grünen), dass die von der Bundesregierung vorangebrachte Reform weiterhin das Prinzip der Flächenbewirtschaftung zentriere und vor diesem Hintergrund eine bewusste Irreführung der Öffentlichkeit intendiere. Neben Matthias Miersch (SPD), der konstatierte, dass auch mit der reformierten Version der GAP der “große Wurf” ausgeblieben sei, schloss sich auch Kirsten Tackmann (Die Linke) dieser eher kritischen Perspektivierung der Reform an und nahm Rekurs auf das Ausbleiben eines etwaig erhofften Paradigmenwechsels für den Zeitraum bis 2027. 

Diese von sowohl national- als auch nichtstaatlicher Ebene vorgebrachten Kritikpunkte, wonach die im Rat beschlossenen Elemente der GAP noch nicht den von Experten als erforderlich eingeschätzten Umfang aufweisen, verliert an argumentativer Schlagkraft, wenn man sich die allgemeine institutionelle Verfasstheit der EU sowie die kennzeichnende Art der Verhandlungsführung vor Augen führt. So ist zu bedenken, dass gerade in einem historisch stark kontestierten Politikfeld wie der Agrarpolitik der misfit, also die divergierenden Ansprüche zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Politikprogrammen, extensive Formen annehmen kann. 

Ohne also die anhaltende Notwendigkeit der Reform einiger Elemente der GAP zu negieren, kann den erreichten Kompromissen vor diesem Hintergrund ein gewichtiger Stellenwert zugemessen werden, da diese das Ergebnis 27 teilweise stark kontrastierender Perspektiven und heterogener Agrarstrukturen darstellen. Die unter deutscher Ratspräsidentschaft erarbeiteten Reformen sorgen daher auch weiterhin dafür, dass EU-Bürger von gesicherten Angeboten an qualitativ hochwertigen Lebensmitteln profitieren, zeitgleich aber die Leistungen der Landwirte in diesem Bereich honoriert werden. 

 

Bis Ende des Jahres veröffentlichen wir auf dem Polis Blog exklusive Beiträge auf deutsch und englisch im Rahmen unseres neuen Projekts Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft von jungen Europaexpert*innen analysiert. Unser Fokus liegt dabei auf die priorisierten Themen der deutschen Ratspräsidentschaft wie Klimawandel, der Umgang mit Einschränkungen von Pressefreiheit und Justiz z.B. in Belarus, der Europäische Aufbauplan, Brexit, Digitalisierung, Multilateralismus sowie Rechtsstaatlichkeit.

Das Projekt wird gefördert vom Auswärtigen Amt.

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Polis Blog ist eine Plattform, die den Mitgliedern von Polis180 & OpenTTN zur Verfügung steht. Die veröffentlichten Beiträge stellen persönliche Stellungnahmen der AutorInnen dar. Sie geben nicht die Meinung der Blogredaktion oder von Polis180 e.V. wieder.

Bildquelle via AK Glück

 

Key Takeaways 

Only a number of reform measures won’t make the CAP generally greener and fairer

From the 20th to the 23rd of October, the EU voted to update its Common Agricultural Policy, like every seven years. But this year’s structural revision happened under special circumstances: the coronavirus pandemic. If we look back at the beginning of a shared European agricultural policy, the oldest common policy in Europe, we understand that after World War II ensuring food supply by paying farmers a reasonable income (e.g. guaranteed prices for products) was one of the main goals of the 1957 Treaty of Rome. Which is why the CAP is called the frontrunner of early European integration. In the 1970s, 90 percent of the EU-budget went to that economic sector. The original members of the European Community France, Germany, Italy and the Benelux states Belgium, Netherlands and Luxembourg have not only agreed to remove tariffs on agricultural goods, but paid common import duties and export subsidies for a growing internal market. 

Another important step in modernising the CAP took place a few decades later when the so called cross-compliance rules were introduced. These combine direct payments with the aim to ensure sustainable land use (later called greening) and avoid soil erosion. Cross-compliance commits farmers and producers to animal welfare and food safety (high standards). A longtime goal here is to stay ahead of global competition, ambitions that are reinforced in the European Commission’s Green New Deal, and lately in the EU’s recovery plan. The new reforms which have been introduced during Germany’s current EU Council presidency promise also to reduce bureaucracy for farmers. Another German initiative presented by minister Julia Klöckner is the European animal welfare label.

Not only in Europe came the meat industry under fire and was linked to coronavirus hotspots. China for instance decided to ban German pork because of new African swine fever cases. But the disastrous impact on global supply chains, closed borders, reduced staff (seasonal workers) also revealed a window of opportunity to change the way we think about animal farming and consuming cheap meat. There might be a chance for Europe to stay ahead, and Germany could lead the way. “The Farm to Fork Strategy is to help achieve a fair, healthy and environmentally sound food system. It provides for shorter supply chains, the use of less fertiliser, the development of organic farming and enhanced animal welfare.”

But critics argue that the Council missed another important window of opportunity by improving working and living conditions of seasonal and other mobile workers. One of the oldest and largest environment associations in Germany, NABU (Nature And Biodiversity Conservation Union) rather questioned the impact of these new reforms by calling it a “flagrant subsidy system from the past”, as farmers are being left alone through increasing climate and environmental regulations. That Germany missed its chance to step up and move ahead towards a greener and fairer agricultural policy for everyone in Europe, was the conclusion of some German politicians instead. Nevertheless, considering the to some extent massive differences between 27 EU member states and their agricultural structures, compromises are only legitimate even if they don’t meet the original ideals of single member states.

Lukas

Lukas studiert im Bachelor Politikwissenschaften und Geschichtswissenschaften an der Universität Bielefeld. Zu seinen Interessen- und Kompetenzbereichen gehören die europäische, US-amerikanische und deutsche Außen- und Innenpolitik sowie Theorien der internationalen Beziehungen. Lukas ist seit Juli 2020 bei Polis180 aktiv und engagiert sich unter anderem im Programmbereich The America(n)s.

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