Der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik findet kein besseres Label als das, was derzeit in Belarus vor sich geht, “Situation” zu nennen. Doch es lohnt sich, auf die mannigfaltigen Namen der politischen Bewegung zu schauen, um diese “Nation in der Mache” besser zu verstehen!
Ein Beitrag von Viktar Vasileuski
Am 27. und 28. August kamen im Rahmen des Gymnich-Treffens im Auswärtigen Amt in Berlin Dauerbrenner-Themen wie die EU-Russland-Beziehungen und das Verhältnis zur Türkei im Lichte der Situation im östlichen Mittelmeerraum zur Sprache.
Im prominent platzierten ersten Programmpunkt ging es um die Situation in Belarus. Die “Situation” in Belarus? Der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell hatte seine Schwierigkeiten, die Geschehnisse seit den manipulierten Präsidentschaftswahlen im EU-Nachbarland eindeutig zu benennen und erging sich im Allgemeinplatz.
Dabei fühlt es sich an, als seien die zur Einordnung der belarusischen Protestbewegung verwendeten Begriffe beinahe so zahlreich wie die Massen der Protestierenden auf den Straßen Minsks. Mal ist die Rede von einer Social-Media Revolution. Am nächsten Tag scheint es der Aufstand der Arbeiter oder der Frauen zu sein.
Der 1. September stand wiederum ganz im Zeichen der SchülerInnen und StudentInnen. Auch wenn diese Labels stark durch das Forschungsinteresse der jeweiligen AnalystInnen beeinflusst oder dem tagesaktuellen Geschehen geschuldet sind, gilt doch: Eine Vielzahl der Bezeichnungen trifft zu und sie helfen uns, Belarus im Jahre 2020 besser zu verstehen.
Die Revolution hat ein weibliches Antlitz
Am 29. Mai 2020 läuteten die VertreterInnen der Sicherheitsorgane und Machtstrukturen (Siloviki) und der Präsident Aliaksandr Lukaschenka selbst die Stunde der belarusischen Frauen ein: Zunächst wurde der Blogger und Entrepreneur Siarhei Tikhanouski im Zuge einer gezielten Provokation verhaftet und verlor damit endgültig die Möglichkeit, für das Präsidentenamt zu kandidieren. Daraus resultierte die Ersatz-Kandidatur seiner Frau Sviatlana. Ebenfalls am 29. besuchte Lukaschenka im Rahmen seines Wahlkampfs das Minsker Traktorenwerk und verkündete: “Unsere Verfassung passt nicht auf eine Frau”.
Damit gab der Alleinherrscher Aufschluss über das tief verwurzelte patriarchale Gedankengut, welches sich, zumindest latent, auch in der Verfassung des Landes wiederfinden lässt: Die Frauenrechtsaktivistin Olga Muraschko macht auf Artikel 32, Paragraph 4 aufmerksam, in dem es heißt, Frauen würden die gleichen Rechte wie Männer in einer Vielzahl von gesellschaftlichen Bereichen genießen. Männer dienen hier als Standard, der Status der Frau wird diesem lediglich angepasst.
Daher verwundert es auch nicht, dass Lukaschenka keinen Zweifel am Sieg eines “weisen Politikers mit einer Menge Erfahrung” gegenüber “einer Hausfrau” hatte. Die Repressionen gegenüber der “Kandidatin wider Willen blieben bis in den späten Juli überraschend moderat. Sviatlana Tikhanouskaya nutzte geschickt ihre geschlechtsbedingte Manövrierfreiheit.
Gemeinsam mit zwei weiteren Frauen aus zwei weiteren durch Lukaschenka verhinderten Präsidentschaftskandidaturen zog Tikhanouskaya eine öffentlichkeitswirksame Kampagne auf, die zehntausende Menschen auf die Straßen brachte und hunderttausende Reposts in den sozialen Netzwerken zur Folge hatte. Aus Angst um Leib und Leben weilt die mögliche Gewinnerin der Wahlen derzeit in Litauen, nimmt jedoch weiterhin Einfluss auf die Protestbewegung.
Nach dem anfänglich unerwartet drastischen Einsatz von Gewalt seitens der Polizei und des Militärs drohte den Protesten die Luft auszugehen. Doch die Frauen der Republik verliehen der Bewegung einen langen Atem: Sie bildeten Menschenketten, umarmten Uniformierte, legten Blumen an den Gedenkstätten der Opfer von Polizeigewalt nieder. Nicht zuletzt da Gewalt gegenüber Frauen in Belarus verpönt (und doch präsent) ist, ließ sie der Staat gewähren und die Bewegung somit am Leben halten.
“Jemand” steuert die Proteste
Aliaksandr Lukashenka wird nicht müde zu behaupten, dass die Proteste in seinem Land von außerhalb koordiniert und entfacht würden. Ein derart starker endogener Unmut ist für ihn schlichtweg unvorstellbar. Wahlweise sitzen laut Lukaschenka die verantwortlichen Kräfte im Baltikum und Polen, kommen über Russland ins Landesinnere oder werden in der Ukraine auf ihren Einsatz vorbereitet. Besonders oft schießt er gegen einen aus dem polnischen Exil operierenden Telegram-Kanal, nennt aber nie den konkreten Namen.
Passenderweise leitet sich dessen Name, “NEXTA”, vom belarusischen Wort für “Jemand” ab. Dieser “Jemand” generierte nach dem regierungsinduzierten Internet-Shutdown im Zuge der Wahlen eine enorme Anhängerschaft, die binnen einer Nacht zwei Millionen überstieg. Der mittlerweile zweitbeliebteste Kanal im Spektrum News auf der Plattform weltweit (!) profitierte zum einen von eingebauten “Antizensurmaßnahmen”, die die App im Vergleich zu WhatsApp, Twitter und dergleichen trotz der Internetsperren nutzbar hielten.
Zum anderen profitierte NEXTA von seiner Publikationsstrategie: “NEXTA” hat keine Reporter vor Ort, es werden stattdessen private Nachrichten aus der Bevölkerung an die Redakteure versendet, die anschließend auf dem Kanal repostet werden. Es sollen bis zu 12.000 solcher Nachrichten täglich eingehen. Somit treten der Initiator des Telegram-Kanals, Stepan Putilo, und sein wahrscheinlich dreiköpfiges Team als so etwas wie die Kuratoren des Protests auf.
Die NEXTA-Redakteure vermitteln zwischen den einzelnen Städten und zeigen den Protestierenden, dass ihre Stimme zwar nicht vom Regime, jedoch von ihren Mitmenschen gehört wird. Nicht selten gibt es repostete Aufrufe, kleinere Proteste an bestimmten Plätzen und Straßen zu unterstützen. Durch Handyvideos und -fotos in Echtzeit bleiben die FollowerInnen auf dem Laufenden.
Insofern hat Lukaschenka nicht Unrecht mit seiner Kritik: Die “Redaktion” des Protests sitzt im Ausland, doch die “ReporterInnen” sind nah am Geschehen. Es scheint, als würden digitale Technologien und soziale Medien in Belarus ihrem angeschlagenen Ruf als “Befreiungstechnologien” gerecht werden.
Fakt ist: Die BürgerInnen in Belarus sind in ihren Ausdrucksformen stark eingeschränkt und leben sich somit umso stärker online aus. Der im Titelbild aufgegriffene Instagram-Filter (“Zugriff Bereitschaftspolizei”) geht mit der Situation kreativ und ironisch um: Sein Autor, photonegativki, prangert die Absurdität der Polizeigewalt an – nach dem Motto: „Es kann alles und jeden treffen“.
Hallo, Nation!
Ob die Bewegung, die wir in Belarus erleben, nun eine Revolution des marginalisierten Geschlechts, der neuen Technologien oder einer postsowjetischen Generation ist, scheint letzten Endes doch nicht so wichtig zu sein. Vielmehr sollte im Fokus stehen, dass die belarusische Gesellschaft ein nationales Erwachen im allerbesten Sinne durchlebt.
Trotz der Repressionen des Regimes, der politischen Gefangenen und Verschwundenen im Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen, der brutalen Festnahmen friedlicher Protestierender, der Schikanen gegenüber der freien und ausländischen Presse und dem Umstand, dass das Regime um jeden Preis an der Macht bleiben will, zeigt sich das Volk pazifistisch, entschlossen, vereint, weltoffen, modern – und siegreich?
Bereits vor zwei Wochen sprach Lukaschenka öffentlich die Möglichkeit einer Verfassungsänderung an. In einem pompösen Fernsehinterview mit Beteiligung aller wichtigen russischen Kanäle eröffnete er interessante Details: Zwei Versionen seiner Berater hätte er schon abgelehnt – eine dritte solle die Vollmachten des Präsidenten noch stärker einschränken. Außerdem seien Dialoge mit GewerkschaftsvertreterInnen, StudentInnen und weiteren offiziellen Organen notwendig. Mit der „Straße“, einschließlich dem Internet, gäbe es hingegen nichts zu besprechen.
Genau diese physische und digitale “Straße” ist es jedoch, die schon jetzt als Vorbild in puncto innovative Methoden von Freiheitskampf und Protestbewegung gelten kann. Und wenn der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik in Zukunft nach einem Label für demokratische Protestbewegungen sucht, könnte er sie von nun an vielleicht “belarusische Situation” nennen .
Was die EU leisten kann (und darf)
Auch wenn die “belarusische Situation” vor allem innenpolitisch Wellen schlägt, kann sie sich von geopolitischen Zusammenhängen nicht freimachen. So reagiert Lukaschenka auf die nun bereits über einen Monat anhaltenden Proteste mit verstärkter Orientierung gen Russland.
Vladimir Putin, der deutlich macht, dass Belarus Russlands engster Verbündeter und Russland wichtigster Investor in die belarusische Wirtschaft ist, sicherte ihm im Falle einer Eskalation militärische Unterstützung zu – und die 2019 eingefrorenen Verhandlungen über eine tiefere Integration der beiden Staaten scheinen aktueller denn je.
Die derzeitige Protestbewegung hingegen spricht ganz bewusst keinen der “Blöcke” an. Im Fahnenmeer der Protestzüge sieht man weder die Trikolore des östlichen Nachbarn, noch fünfzackige Sterne auf Ultramarinblau – es sind üblicherweise rot-weiß-rote Fahnen, die an die Zeit vor Lukaschenka erinnern und seit jeher nationalen Geist und Opposition gegenüber illegitimen Mächten in Belarus, wie der Sowjetunion oder Nazideutschland, verkörpern.
Und doch schaut man nicht ganz gleichgültig auf die EU. Nicht zuletzt, weil Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Meinungsfreiheit als Prioritäten der deutschen EU-Ratspräsidentschaft formuliert wurden, erhoffen sich viel Belarusen humanitäre Hilfe, kulturellen Austausch und politischen Druck seitens des Westen.
Geplante Sanktionen gegen ranghohe belarusische Regierungsmitglieder und erleichterte Einreisebestimmungen nach Polen und Litauen (und in die Ukraine) sind erste Signale. Gleichzeitig gibt jede “Einmischung in die nationale Souveränität”, in der Logik Lukaschenkas, dem belarusischen Regime Anlass, die organisch gewachsene Protestbewegung als “westliche Verschwörung” zu diskreditieren. Man darf gespannt sein, ob und wie die Europäische Union mit diesem Dilemma umgehen wird.
Bis Ende des Jahres veröffentlichen wir auf dem Polis Blog exklusive Beiträge auf deutsch und englisch im Rahmen unseres neuen Projekts Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft von jungen Europaexpert*innen analysiert. Unser Fokus liegt dabei auf die priorisierten Themen der deutschen Ratspräsidentschaft wie Klimawandel, der Umgang mit Einschränkungen von Pressefreiheit und Justiz z.B. in Belarus, der Europäische Aufbauplan, Brexit, Digitalisierung, Multilateralismus sowie Rechtsstaatlichkeit.
Das Projekt wird gefördert vom Auswärtigen Amt.
- Zeigt die Berliner Libyen-Konferenz echte Resultate?
- Die europäische Automobilindustrie zwischen Rezession und Modernisierung
- Georgia’s youth is taking European association to another level
- May a hard Brexit clear the air after all?
- Reine (Re)Form-Sache? Die Nachhaltigkeit der GAP in der Kritik
- Eine Aufsicht gegen die “Schlupflöcher” des Binnenmarkts? Wie Europa gegen Geldwäsche vorgehen will
- Die Integration Europas wird im Kultursektor entschieden
- Reproductive health beyond the protests: Quo vadis, Europe?
- Democracy and human rights undermined: The second Nagorno-Karabakh war
- Rechtsstaatlichkeit in Europa: Wo kommen wir her, wo wollen wir hin?
- Portugal’s 4th EU Council presidency: Navigating through unprecedented times
Polis Blog ist eine Plattform, die den Mitgliedern von Polis180 & OpenTTN zur Verfügung steht. Die veröffentlichten Beiträge stellen persönliche Stellungnahmen der AutorInnen dar. Sie geben nicht die Meinung der Blogredaktion oder von Polis180 e.V. wieder.
Bildquelle via Viktar Vasileuski
Key Takeaways
Жыве Беларусь! What do we really know about Belarus’ unique protest movements?
At the informal meeting of EU Foreign Ministers in Gymnich last August, High Representative of the EU for Foreign Affairs and Security Policy Josep Borrel pointed out the “situation in Belarus”. A week before EU Council President Charles Michel announced in a video conference new sanctions against high profile representatives of the Belarusian regime because only “a peaceful and democratic process, underpinned by independent and free media and a strong civil society, can provide sustainable solutions.”
Labeling the ongoing protest in Belarus a “situation” is not enough for our author Viktar, himself from Belarus, who claims that it is worth looking at the manifold labels of the protest in order to understand the “nation to be”. Sometimes people say it’s a social media revolution. The next day they say it is a labour protest or women’s march. Early cases of police brutality overshadowed the protest, but women’s power seemed to overcome the physical fighting. Yet President Aliaksandr Lukashenka, who is convinced that foreign powers are controlling the protest, is a known advocate of patriarchy, not believing that women can handle politics. So he was also not convinced of female presidential candidates, even though he admitted that the current constitution is not really ready for female power.
Collectives like “NEXTA” have more influence. Anyone can send them digital messages, pictures and videos that will be published on their online platforms. Social media determines the path of the protest. It is the main source of communication for like-minded and like-minded-to-be demonstrators. And through it all, Belrausians experience a nation-wide awakening which can be a “role model for future revolutions”. Because despite police brutality, political prisoners and arrests of peaceful demonstrators, the people of Belarus want to show how pacifist, determined, united, open and modern they are (waving two different flags).
Lukashenka constantly recurs to conspiracy theories and Western foreign interference. Geographically, Belarus lies in between Russia and the EU – two allies with different historical pathways and interests. While Vladimir Putin agrees on more economic support and military resources for his “closest ally”, the EU announces sanctions against Belarusian officials insisting on the rule of law, human rights and freedom of speech. These principles are a priority for Germany during its Council presidency, which is why Belrusians expect more humanitarian aid and political pressure from the EU – whether the revolution was triggered by Western powers or not.
Viktar studierte Internationale Beziehungen und Kommunikationswissenschaften. Ein besonderes Interesse hat er am osteuropäischen Raum und Policy-Implikationen digitaler Technologien. Bei Polis engagiert er sich seit März 2020.