25.11.2023
von Frederik Schmitz und Etienne Höra
Taiwan hat die Wahl: Über verhärtete Fronten und mehr als nur China
Am 13. Januar bestimmt Taiwan in seiner achten freien Präsidentschafts- und Parlamentswahl, wer der scheidenden Präsidentin Tsai Ing-wen im Amt nachfolgt. In einem angespannten geopolitischen Umfelds zeichnet sich in der gefestigten und pluralistischen taiwanischen Demokratie zwei Monate vor dem Wahltermin eine Richtungsentscheidung ab.
Der 13. Januar 2024 ist der große Wahltag. An diesem Tag haben die Taiwaner*innen drei Stimmen, um über ihre politische Zukunft zu entscheiden. Zwei Stimmen für das Parlament – den Legislativ-Yuan – und die dritte Stimme für den Präsidenten.
Eine junge, aber gefestigte Demokratie
Heute gilt Taiwans Demokratie als gefestigt: Im Demokratieindex der Economist Intelligence Unit befindet sich Taiwan auf dem zehnten Platz und somit vier Plätze vor Deutschland (14.). Taiwan ist damit eines der 24 Länder, die als “vollständige Demokratie” gelistet werden – neben Japan und Südkorea das einzige in Asien. Die Wahl des Legislativ-Yuans erfolgt über eine Erst- und Zweitstimme, die wie in Deutschland den*die Direktkandidat*in und die Gesamtstärke der jeweiligen Partei bestimmen. Für das Präsidialamt hingegen reicht die einfache Mehrheit der Stimmen. Das präsidentielle System Taiwans ähnelt damit sehr dem der USA. Dabei werden Präsident*in und Vize-Präsident*in gemeinsam für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und können danach einmal wiedergewählt werden. Der*die Präsident*in des Landes ist dann gleichzeitig Staatsoberhaupt, hat den Oberbefehl über die Streitkräfte, vertritt die Nation im Ausland und ist auch damit betraut, den*die Präsident*in des Exekutiv-Yuans, also den*die Premierminister*in, zu bestimmen.
Um die Bedeutung taiwanischer Wahlen zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Die Republik China auf Taiwan zählte sich zwar im Kalten Krieg immer zum US-geführten demokratischen Block; die längste Zeit ihrer Existenz handelte es sich hierbei aber um ein reines Lippenbekenntnis. Mit der Niederlage im chinesischen Bürger*innenkrieg fliehen bis 1949 ca. 1,2 Millionen Soldat*innen unter der Führung des Generalissimus Chiang Kai-shek nach Taiwan. Die Kuomintang hat den Kampf gegen die Kommunist*innen verloren, die 1949 die Volksrepublik China ausrufen. Die Insel Taiwan (und daneben noch weitere kleinere Inseln) wird zum Rückzugsraum der Republik China.
Zwischen 1947 und 1987 regiert die Kuomintang mit Hilfe des Kriegsrechts: Presse- und Meinungsfreiheit sind ausgesetzt, andere Parteien nicht zugelassen und immer wieder werden Aktivist*innen Opfer heftiger Repression durch Staat, Militär und Militärgerichtsbarkeit. Zwischen 1948 und 1992 finden keine allgemeinen Parlamentswahlen statt und das Kriegsparlament bleibt im Amt – offiziell, weil die Republik auf dem von der Kommunistischen Partei kontrollierten Festland keine Wahlen durchführen kann. In ihrer Anfangszeit agiert die Kuomintang-Verwaltung als Besatzungsmacht und greift dabei auf die Strukturen der früheren japanischen Kolonialverwaltung zurück. Dabei kommt es auch immer wieder zu Spannungen mit und zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen: Gemeinsam mit der Kuomintang-Armee fliehen abertausende Wissenschaftler*innen, Ingenieur*innen und andere Mitglieder der Elite auf die Insel. Unter der autoritären Führung Chiang Kai-sheks bildet diese Gruppe die neue Machtelite Taiwans und verdrängt die indigene Bevölkerung, die die Insel bis dahin besiedelt. Das gleiche gilt auch für die, in früheren Jahrhunderten eingewanderten, ethnischen Chines*innen, die mehrheitlich aus den südlichen Teilen des Festlandes stammen und jeweils ihre eigenen Sprachen und Kulturen mitbrachten. Trauriger Höhepunkt dieses dunklen Kapitels der taiwanischen Geschichte ist der sogenannte Zwischenfall vom 28. Februar 1947, ein Aufstand gegen die damalige KMT-Regierung, der blutig niedergeschlagen wird und nur ein Beispiel verschiedener, bis heute weitestgehend nicht aufgearbeiteter Verbrechen der KMT an der Bevölkerung Taiwans ist.
Taiwans Weg zur Demokratie
Chiang Ching-kuo, Chiang Kai-sheks Sohn, der seinem Vater 1978 im Amt nachfolgt, sieht sich durch eine Reihe ineinandergreifender Krisen gezwungen, eine schrittweise Liberalisierung und Demokratisierung des politischen Systems in Taiwan hinzunehmen. Schon in den 1970ern beginnt das Fundament der Diktatur zu bröckeln: Die Rückeroberung des Festlandes wird immer mehr zum unerreichbaren Traum. Dies delegitimiert nicht nur die KMT, sondern auch die Herrschaft eines überalterten Parlaments, das sich größtenteils aus Vertreter*innen des Festlands zusammensetzt, über eine junge, in großen Teilen auf der Insel geborene Bevölkerung. Hinzu kommt eine zunehmend selbstbewusst auftretende Zivilgesellschaft, die sich mehr und mehr gegen Repression und Entrechtung wehrt – von dissidentischen Untergrundmagazinen bis hin zu Protesten gegen von der KMT gedeckte Umweltzerstörung durch multinationale Konzerne in den 1980ern. Die Diktatur führt einen erbitterten Abwehrkampf, für den der Kaohsiung-Vorfall von 1979 symbolisch steht – doch der Druck aus der Zivilgesellschaft wächst weiter. Ausgerechnet die Tian’anmen-Proteste von 1989, die in einem Massaker durch die Volksbefreiungsarmee enden, inspirieren die studentische Demokratiebewegung in Taiwan, die der KMT durch Sitzblockaden und Hungerstreiks immer mehr Konzessionen abringt. Diese Entwicklung mündet schließlich in den ersten freien Wahlen 1992.
Seitdem wächst in Taiwan eine demokratische Gesellschaft, die sich auch als Gegenentwurf zur Volksrepublik China versteht. Wie tief dieses Erbe des Kampfes für Demokratie und Selbstbestimmung verankert ist, zeigt sich in einer anhaltend hohen Wahlbeteiligung – fast 75% bei den Präsidentschaftswahlen 2020 -, aber auch in den zivilgesellschaftlichen Protestbewegungen von 2008 und 2014 gegen die als zu China-freundlich wahrgenommene KMT-Regierung unter Ma Ying-jeou und als repressiv empfundene Polizeimaßnahmen.
Nachdem unter Lee Teng-hui (KMT) die ersten freien und zunächst nur für das Parlament geltenden Wahlen stattfinden, wird er 1996 mit 54% bestätigt. Danach folgt Chen Shui-bian (DPP) ins Amt, der 2004 wiedergewählt wird. Vor der aktuellen Präsidentin Tsai Ing-wen, die nach ihrer zweiten Amtszeit nicht wieder für die DPP antreten darf, bekleidet Ma Ying-jeou (KMT) das Amt für zwei Wahlperioden. Nach „guter alter“ Tradition wechselt das Präsidialamt in Taiwan alle 8 Jahre das politische Lager zwischen KMT und DPP.
Einzig sicher ist: Es wird ein Mann
Dies könnte dieses Mal anders sein. Nicht nur, dass mit der Taiwanischen Volkspartei (TPP) unter der Führung von Dr. Ko Wen-je eine dritte und neue politische Kraft Chancen auf das Amt hat; es zeichnet sich – anders als nach der 2008 erfolgten Abwahl Chen Shui-bians – nicht ab, dass die KMT das oberste Amt im Staat zurückgewinnen kann. In den Umfragen steht der Kandidat der KMT auf Platz 3, hinter Lai Ching-de (DPP) und Dr. Ko. Sollte die DPP, wenn auch nicht unter Tsai, eine dritte Amtszeit für sich beanspruchen könnte, wäre dies ein Novum für die taiwanische Politik: Der historisch gewachsene Dualismus, der mit tiefen gesellschaftlichen Gräben verbunden ist, könnte langsam von einem ideologisch aufgefächerten Parteiensystem abgelöst werden. Zuletzt hat sich eine Koalition zwischen KMT und Dr. Kos TPP angebahnten, um eine weitere Amtszeit der DPP zu verhindern. Dies wäre ebenfalls erstmalig gewesen.
Zwischenzeitlich schien es so, als sei dies das oberste Ziel. Aber das Hin und Her zwischen beiden Parteien entwickelt sich zu einem politischen Schau(er)spiel. Immer deutlicher wird, dass es vornehmlich um die Personen selbst geht. Knackpunkt ist die Frage, wer für das Amt des Präsidenten antritt – und wer “nur” als Vize. Man will es diskutieren, aber kann sich nicht einigen. Man verständigt sich dazu, Umfragen auszuwerten, aber man kann sich nicht einigen und so interpretiert jede Partei die Ergebnisse zu ihren Gunsten und auch dieser Weg scheitert. 24 Stunden vor der Registrierungspflicht der Bewerber*innen treffen sich TTP, KMT und auch der bisher unabhängig antretende Terry Gou noch ein letztes Mal. Dieses Treffen endet in einer Pressekonferenz, die von verschiedenen Beobachter*innen als peinlich kommentiert. Nach dem Tohuwabohus der letzten Tage steht nun fest: Die Wahl wird zwischen Hou You-yi (KMT), Ko Wen-je (TTP) und Lai Ching-de (DDP) entschieden, denn Terry Gou hat seine Kandidatur kurz vor Sperrfrist zurückgezogen. Damit folgt auf die erste Präsidentin des Landes, Tsai Ing-wen, in jedem Fall wieder ein Mann.
Es geht nicht nur um China
Einen Hinweis hierauf geben auch die Themen, die den aktuellen Wahlkampf dominieren: Auch wenn nationale Wahlen in Taiwan klassischerweise außen- und sicherheitspolitische Themen adressieren, so gibt es – anders als bei vorherigen Präsidentschafts – und Parlamentswahlen keine diametral verschiedenen Ansichten über das eigene Verhältnis zur Volksrepublik und damit einem der wichtigsten Streitpunkte zwischen KMT und DPP. Alle großen Parteien möchten den Status quo erhalten. Selbst Lai Ching-te, Spitzenkandidat der DPP, betont, keine formale Unabhängigkeit zu forcieren. Dafür werden eine Reihe von alltäglichen Fragen, die auch andere Demokratien aktuell beschäftigen, in den Blick genommen – allen voran Inflation, steigende Lebenshaltungskosten und die Wiederbelebung der taiwanischen Wirtschaft nach der Covid-Pandemie.
Ende November wissen wir, welche Kandidaten um das Präsidialamt kämpfen werden. Aber die gleichzeitig stattfindende Parlamentswahl bietet mehr Möglichkeiten der Stimmentscheidung. Jenseits der großen Parteien, die sich Chancen auf Parlamentssitze ausrechnen können, zeigt sich die Vitalität der taiwanischen Demokratie und Zivilgesellschaft auch in der Vielzahl von Klein- und Kleinstparteien und Bewegungen, die im Januar ihren Hut in den Ring werfen – darunter nicht wenige, wie etwa die Partei zur Vereinigung mit Japan oder die “Wiedervereinigungspartei”, die einen Anschluss Taiwans an China fordern – die auf Außenstehende abseitig wirken mögen.
So ist im Januar in Taiwan viel zu erwarten: eine spannende Wahl in einer der vitalsten Demokratien Asiens. Anlass genug, genauer hinzusehen: In der Blogserie “Taiwan hat die Wahl” nimmt der Programmbereich connectingAsia von Polis180 jede Woche eine der politischen Kräfte unter die Lupe, von der KMT über die DPP, die TPP bis hin zum inzwischen zurückgetretenen Überraschungskandidaten Terry Gou und den diversen Kleinparteien. Es folgen Einblicke in die Perspektiven ostasiatischer Länder, sowie der USA und EU, und abschließend eine Einordnung der Ergebnisse nach dem Wahltag.
Polis Blog ist eine Plattform, die den Mitgliedern von Polis180 & OpenTTN zur Verfügung steht. Die veröffentlichten Beiträge stellen persönliche Stellungnahmen der AutorInnen dar. Sie geben nicht die Meinung der Blogredaktion oder von Polis180 e.V. wieder.
Bildquelle: Frederik Schmitz
In der Blogserie “Taiwan hat die Wahl” nimmt der Programmbereich connectingAsia von Polis180 jede Woche eine der politischen Kräfte unter die Lupe, von der KMT über die DPP, die TPP bis hin zum inzwischen zurückgetretenen Überraschungskandidaten Terry Gou und den diversen Kleinparteien. Es folgen Einblicke in die Perspektiven ostasiatischer Länder, sowie der USA und EU, und abschließend eine Einordnung der Ergebnisse nach dem Wahltag.
Taiwan hat die Wahl (2): Die Kuomintang in Vergangenheit und Gegenwart
Taiwan hat die Wahl (3): Gleiche Partei, neues Gesicht – die DPP
Taiwan hat die Wahl (4): Ko Wen-je und die TPP – eine ernstzunehmende Alternative für Taiwan?
Taiwan hat die Wahl (5): Er wollte es (wieder) wissen: Terry Gou
Etienne Höra hat Internationale Beziehungen in Freiburg, Aix-en-Provence, Berlin und Genf studiert und forscht zu Geoökonomik, chinesischer Außenpolitik und den Narrativen, die diese stützen, etwa im Bereich der Umweltnormen der Belt and Road Initiative. Seit Juli 2022 ist er Präsident von Polis180.
Frederik Schmitz hat Sinologie in Köln und Tübingen studiert und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) der Universität Bonn. Sein Forschungsschwerpunkt ist Erinnerungspolitik als politische Legitimationsstrategie in China. Im Polis180-Programm connectingAsia organisiert Frederik außerdem den Buchclub.
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