Barrikaden wie zuletzt im Mai ‘68: auch die Pariser Müllabfuhr streikt gegen die Rentenreform © Julia Hellmer
Frankreich ringt seit Wochen erbittert um eine Reform seines Rentensystems. Das Projekt, mit dem Präsident Macron bereits bei seiner ersten Wahl 2017 angetreten war, stand bis zuletzt auf Messers Schneide. Nun hat der Präsident sein Ziel erreicht – doch der politische Preis ist hoch.
Eine Kolumne von Lukas Hochscheidt und Etienne Höra
Präsidentschaftswahlkampf 2017. Der junge Polit-Star Emmanuel Macron zieht überraschend in den zweiten Wahlgang ein – und wird zwei Wochen später zum jüngsten Präsidenten Frankreichs gewählt. In Deutschland wird er als “Europäer” und politischer Visionär gefeiert – im eigenen Land steht er von Beginn an wegen seines wirtschaftsliberalen Kurses in der Kritik. Eines der Vorhaben, das Macron seit 2017 anstrebt und in den letzten sechs Jahren nicht umsetzen konnte, ist seine “réforme des retraites”, seine “Rentenreform”.
Worum geht’s?
Die ursprüngliche Idee – eine Harmonisierung der verschiedenen “Zweige” des französischen Rentensystems, verbunden mit einer moderaten Anhebung des Renteneintrittsalters – ist keine Erfindung Macrons. Die französischen Mitte-rechts-Parteien fordern schon lange ein Ende der “Sonderregime” für bestimmte Beschäftigtengruppen und ein Ende der bisher geltenden “Rente mit 62”. Dass sich der junge Liberale Macron dieses Projekt zu eigen machte, war daher nicht überraschend.
Doch auch der Widerstand, gegen den er seither kämpft, war absehbar: Nur Weniges ist den Französ*innen so heilig wie ihr Sozialstaat und vor allem ihre im europäischen Vergleich sehr großzügige Rente. So gab Frankreich im Jahr 2017 13,6 Prozent des BIP für Renten aus, im Vergleich zu Deutschlands 10,2 Prozent und 7,7 Prozent im OECD-Schnitt – nur Griechenland und Italien waren mit 15,5 bzw. 15,6 Prozent großzügiger. Zudem ist der Anteil an Menschen, die im Alter über 65 von Einkommensarmut betroffen sind, mit 4,4 Prozent vergleichsweise gering.
Was man aus dieser Vogelperspektive nicht sieht: Das französische Rentensystem ist geprägt von einer großen Vielfalt an Sonderregimen und -kassen, die mal mehr, mal weniger Vorteile gegenüber dem allgemeinen System versprechen. Die meisten dieser Sonderregeln gelten für den Staatsdienst, etwa die staatlichen Verkehrsunternehmen SNCF und RATP, den Energieversorger EDF, die Opéra de Paris und die Comédie française. Wer von ihnen profitiert, kann im Allgemeinen früher und nach weniger Beitragsjahren ohne Abschläge in Rente gehen – so ist etwa nur ein Prozent der Außendienstmitarbeiter*innen von EDF älter als 61 Jahre – und zahlt oft auch einen geringeren Arbeitnehmer*innenanteil als vergleichbare Beschäftigte. Teilweise werden durch diese Sonderregime alte Privilegien fortgeschrieben, teilweise ergeben sie sich aus Tarifeinigungen: Lohnzurückhaltung im Tausch gegen Vorteile bei der Rente. In jedem Fall geraten diese Systeme unter finanziellen und politischen Druck: Durch wirtschaftliche und demographische Veränderungen fahren diese Sonderregime teilweise deutliche Defizite, die aus der Staatskasse ergänzt werden – der extremste Fall wird die Pensionskasse der Bergbauangestellten sein, deren 1900 Beitragszahlenden 2017 256.000 Rentner*innen gegenüberstanden. 99 Prozent der ausgezahlten Leistungen speisen sich deshalb aus staatlichen Transfers. Insgesamt gab Frankreich 2015 6,4 Milliarden Euro aus, um die Finanzierungslücken der Sonderregime zu stopfen, davon allein 3,2 Milliarden für das Rentensystem der Staatsbahn SNCF. Teil von Macrons Rentenreform ist deshalb auch, mehrere der Sonderregime für Neuangestellte abzuschaffen.
Trotz einer komfortablen absoluten Mehrheit gelang es Macron in seiner ersten Amtszeit nicht, das Gesetzesvorhaben durchs Parlament zu bringen. Der Druck seitens der politischen Gegner*innen und nicht zuletzt der Gewerkschaften überzeugte viele enge Vertraute des Präsidenten, das Projekt wie eine “heiße Kartoffel” zu behandeln und immer wieder fallen zu lassen. Zuerst wollte man sich durch positivere Erzählungen profilieren – dann standen die Wahlen 2022 vor der Tür und im Wahlkampf kamen andere Themen gelegen.
Nun, da Macron in seiner zweiten und qua Verfassung letzten Amtszeit regiert, sollte die von ihm als “Mutter aller Reformen” bezeichnete Idee Realität werden. Neben dem weiterhin hohen öffentlichen Druck gesellte sich 2022 indes ein zweites Problem: Macron verlor bei den Parlamentswahlen im Juni 2022 seine Mehrheit in der Assemblée.
Was folgt, ist schon jetzt historisch: Als das Gesetz Anfang 2023 ins Parlament eingebracht wurde, standen erst der parlamentarische Kosmos und dann das ganze Land Kopf. Von Januar bis Mitte März 2023 gingen bei acht nationalen Kundgebungen insgesamt fast 6,7 Millionen Menschen auf die Straße; an drei der Aktionstage überstieg die tägliche Teilnehmendenzahl die Eine-Millionen-Marke. Grund für die große Mobilisierung war auch die Einigkeit der acht größten Gewerkschaften (die in “normalen Zeiten” als zerstritten bis verfeindet gelten). Diese organisierten neben Großdemonstrationen einen landesweiten Generalstreik, wie ihn Frankreich seit 1995 nicht mehr erlebt hatte: Am 7. März legten mehr als 30 % der Lehrer*innen die Arbeit nieder, beim staatseigenen Energieversorger EDF war nur die Hälfte der Belegschaft im Dienst. Die Konsequenzen der Streikbewegung waren nicht nur in Betrieben und Werkhöfen sichtbar: Am 11. und 15. März fiel in einigen Regionen der Strom aus und in Paris türmten sich am 12. März stolze fünf Tonnen Abfall in den Straßen, da auch die Müllabfuhr sich am Streik beteiligte. In Reaktion darauf griff am 16. März der Pariser Polizeipräfekt zu einem der schärfsten Schwerter des französischen Ordnungsrechts und verpflichtete die streikende Müllabfuhr per Anordnung dazu, den Dienst wieder aufzunehmen. In den Raffinerien könnte sich die Situation ähnlich zuspitzen.
Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende?
Seinen Höhepunkt erreichte die Renten-Tragödie bei der finalen Abstimmung in der Nationalversammlung – denn diese fand nie statt. Stattdessen machte Macrons Premierministerin Elisabeth Borne von Artikel 49 Absatz 3 der französischen Verfassung Gebrauch. Diese hoch umstrittene Klausel erlaubt es der Regierung, ein Gesetzesvorhaben im Steuer- oder Sozialversicherungsbereich zu verabschieden, ohne dass die Abgeordneten darüber in der Sache abgestimmt haben. Das Ganze funktioniert so: Kurz vor der Abstimmung verkündet die Premierministerin, dass sie das Gesetzesvorhaben mit einer Vertrauensfrage verbindet. Nach dieser Ankündigung hat die Opposition 24 Stunden Zeit, ein Misstrauensvotum einzubringen. Scheitert dieses, so bleibt die Regierung im Amt und das Gesetz gilt ohne erneute Abstimmung als angenommen. Erhält das Misstrauensvotum eine Mehrheit, ist die Regierung ihres Amtes enthoben und der Präsident muss eine*n neue*n Premier ernennen oder das Parlament auflösen.
Zwar ist Premierministerin Elisabeth Borne nicht die Erste, die sich dieses Verfahrens bedient. Seit Beginn der 5. Republik 1958 war der “49.3” immer wieder bei Regierungen beliebt, die über keine eigene Mehrheit verfügten. Doch mit bereits 11 Anwendungen seit ihrem Amtsantritt vor nicht einmal einem Jahr liegt Borne auf Rekordkurs: Nur Michel Rocard verwendete die Klausel in seiner dreieinhalbjährigen Amtszeit öfter (28 Mal).
Auch dieses Mal ging die Rechnung für Borne auf: Zwar einigten sich alle Oppositionsfraktionen, die die Reform ablehnen, auf einen gemeinsamen Misstrauensantrag – von der Kommunistischen Partei bis zum rechtsextremen Rassemblement National. Doch da sich die – im Grundsatz mit der Reform einverstandenen – Republikaner nicht daran beteiligten, wurde die absolute Mehrheit verfehlt und das Gesetzesvorhaben gilt damit als angenommen.
Hauptgewinn Pyrrhussieg – und kein Ende in Sicht
Unabhängig davon, wie man zum Inhalt der Reform steht: Am Ende dieses Vorgangs gibt es keine Gewinner*innen. Premierministerin Borne und Präsident Macron wären selbst bei einem ordentlichen Votum des Parlaments damit konfrontiert gewesen, dass 64 Prozent der Bevölkerung die Streiks und Demonstrationen gegen das Gesetz unterstützen. Laut Umfragen sind 68 Prozent der Französ*innen “wütend” über das Vorgehen der Regierung. Selbst die Schüler*innen des prestigeträchtigen Pariser Elite-Lyzeums Henri IV – Inkarnation der französischen Intelligentsia – haben ihre Schule blockiert und sich mit den Streikenden solidarisiert. Hier absolvierte einst auch Emmanuel Macron sein Abitur.
Dass diese Auseinandersetzung mit all ihrer sozialen Sprengkraft ohne demokratische Abstimmung durchs Parlament geprügelt wurde, könnte für die Regierung das Ende bedeuten. Die Opposition mag auf dem formalen Weg des Misstrauensvotums gescheitert sein; doch die in Frankreich traditionell unbarmherzige öffentliche Meinung könnte Borne jetzt erst recht stürzen. Und selbst wenn Borne dem allgemeinen Shitstorm trotzt: Ihr politisches Kapital und ihre Glaubwürdigkeit wird sie aus eigener Kraft nicht mehr zurückgewinnen.
Drei Szenarien erscheinen vor diesem Hintergrund plausibel: Borne könnte in den nächsten Wochen doch noch den Versuch unternehmen, eine dauerhafte Mehrheit im Parlament zu bilden. Dafür müsste sie eine der größeren Oppositionsfraktionen für sich gewinnen – und lagerübergreifende Koalitionen gehören in Frankreich nicht zum politischen Instrumentarium. In Frage kämen nur die konservativen Republikaner, da alle anderen Parteien sich in der Rentenfrage auf maximale Distanz zum Regierungslager begeben haben. Dass sich die Republikaner nun, da die Premierministerin schwach wie nie ist, doch noch für eine verbindliche Zusammenarbeit öffnen, darf zwar als unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen gelten.
Zweitens könnte sich der Präsident entscheiden, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen. Angesichts der schlechten Umfragewerte für ihn und seine Partei wäre jedoch das Risiko hoch, bei Neuwahlen noch schlechter abzuschneiden als 2022. Daher kann auch diese Option als unwahrscheinlich gelten.
Und drittens könnte Macron die Flucht nach vorne antreten und das Amt der Premierministerin neu besetzen. In einigen Wochen, wenn die Wogen sich geglättet haben und Borne wie ein Schwamm den Sturm der Kritik aufgesogen hat, könnte so ein klarer Schnitt und Neustart begründet werden. Die Bürger*innen könnten dem Präsidenten dann sogar verzeihen, da rollende Köpfe im revolutionsnostalgischen Frankreich noch immer viel wert sind. Hinzu kommt: Borne galt als Vertreterin des linken Lagers innerhalb von Macrons liberaler Präsidenten-Partei “Renaissance”. Als Nachfolger könnte eine konservativere Stimme in Betracht kommen, die den entschlossenen Kurs bei der Rentenreform glaubwürdiger vertreten kann.
Nicht zuletzt zeigt diese Episode auch, dass der Verfassungskompromiss der Fünften Republik erodiert: Exekutives “Durchregieren” aus dem Élyséepalast, für das der Artikel 49.3 wie kein anderer steht, lässt sich immer weniger mit den Erwartungen der Französ*innen an eine repräsentative Demokratie vereinen, in der das Parlament das letzte Wort hat – besonders vor dem Hintergrund, dass die Zeit der präsidialen Mehrheit endgültig passée sein könnte, auch über Macrons zweite Amtszeit hinaus.
Wie die Regierung sich auch entscheidet: Durch ihren Versuch, eine der wichtigsten sozialpolitischen Debatten durch ein unilaterales “Machtwort” zu beenden, hat sie nicht nur sich selbst geschadet, sondern auch der französischen Demokratie.
Unsere Blogserie La Grande Nation widmet sich in Deutschland verbreiteten Mythen und Vorurteilen über das Land, das sich selbst nie so nennen würde. Denn während selbst die folkloristischen Aspekte der Länderfreundschaft (Städtepartnerschaften und Frankreichurlaube) auf dem Rückzug zu sein scheinen, erlahmt der deutsch-französische Motor auch und vor allem an der mangelnden innenpolitischen Kenntnis des jeweils anderen. Es gibt zwar einiges Interesse an Frankreich, aber Mythen und Klischees dominieren die deutsche Debatte über unseren wichtigsten Nachbarn – und über viele wichtige Dinge wird erst gar nicht gesprochen. Dies wollen wir in den kommenden Wochen und Monaten ändern.
Part 1: Je t’aime… moi non plus — Wieso die Deutschen Frankreich nicht verstehen (und es gar nicht merken)
Part 2: Die Republik der relativen Mehrheit – Frankreich nach der Parlamentswahl
Part 4: Du pareil au même: Frankreichs Parteienlandschaft im Wandel
Part 5: Berlin oder Paris: Wer ist schuld am Getriebefehler des deutsch-französischen Motors?
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Bildquelle via Julia Hellmer
Lukas blickt aus polit-ökonomischer und feuilletonistischer Perspektive auf Frankreich, wo er einige Jahre gelebt, studiert und gearbeitet hat. Nach einem Studium der Politik-, Sozial- und Europawissenschaften in Nancy, Paris und Berlin ist er seit 2021 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag tätig. Seit 2020 ist er Mitglied des Vorstands von Polis180 und war 2021-2022 zudem Präsident des Vereins.
Etienne versteht nach längeren Aufenthalten in Aix-en-Provence und Paris immer besser, was er an Frankreich nicht versteht. Dabei blickt er auch auf Erfahrungen in der bilateralen Diplomatie der beiden Länder zurück. Momentan schließt er sein Studium der Internationalen Beziehungen in Berlin mit einem handelspolitischen Schwerpunkt ab. Seit Juli 2022 ist er Präsident von Polis180.