Heute feiert der Elysee-Vertrag seinen 60. Jahrestag. 60 Jahre kodifizierte, institutionalisierte und damit ein Stück weit rationalisierte Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland.
Eine Kolumne von Lukas Hochscheidt
Es ist kein Geheimnis, dass die Länderfreundschaft – wie jede echte Freundschaft – in ihrer Geschichte Höhen und Tiefen kannte – und dass sie auf Regierungsebene seit Adenauer und de Gaulle auch immer stark vom persönlichen Zusammenspiel ihrer Protagonist*innen geprägt war. Ebenso weit verbreitet ist die Auffassung, dass die letzten Jahre und Monate eher zu den Tiefpunkten des Verhältnisses gehören.
Paris setzt auf Atomstrom – Berlin bringt Kohlenmeiler wieder ans Netz; Paris will die europäische (und französische) Rüstungsindustrie stärken – Berlin kauft F-35 Kampfflieger aus den USA; Paris setzt auf die strategische Autonomie der EU – Berlin ruft zuerst in Washington an.
Die Vorwürfe beruhen dabei stets auf Gegenseitigkeit: Von französischer Seite wird die Bundesregierung zunächst fürs Hinhalten (Merkel) und nun fürs Aussitzen (Scholz) gerügt; von deutscher Seite beklagt man Alleingänge des französischen Staatspräsidenten, wie zuletzt bei der Lieferung von Spähpanzern an die Ukraine. Fest steht: Als im Herbst 2022 die turnusmäßigen deutsch-französischen Regierungskonsultationen kurzfristig abgesagt wurden, kamen ernsthafte Zweifel an der Tragfähigkeit der Achse Berlin-Paris auf.
Natürlich ist die Absage eines Gipfeltreffens nur Symptom einer Problemlage. In der Sache kristallisierte sich diese zuletzt in der Energie- und Außenpolitik heraus, konkret: bei der EU-Taxonomie für grüne Energieträger (wir berichteten) und bei Scholz’ Reise nach Beijing, auf der Macron ihn gerne begleitet hätte, aber nicht eingeladen war.
Doch wer hat recht, wenn er dem jeweils anderen die Schuld an den zerrütteten Verhältnissen gibt? Eine Spurensuche.
Macron a raison !
In den späten Merkel-Jahren waren sich Kommentator*innen links und rechts des Rheins weitgehend einig: Der junge, ideenreiche Macron wird von der amtsmüden, politisch ohnehin trägen Kanzlerin allein gelassen mit seinen europapolitischen Vorschlägen. Paris calling – no answer, hieß es da regelmäßig. Denselben Vorwurf kann Macron nun auch gegen Merkels Nachfolger erheben, denn auch Olaf Scholz nimmt die Bälle, die aus Paris herüber gespielt werden, nicht wirklich auf. Da ist etwa Macrons “Politische Gemeinschaft”, die – über die Grenzen der EU hinweg – eine Allianz der Demokratien gegenüber dem Aggressor Russland schaffen soll. Oder der Diskurs um “strategische Autonomie”, den Macron auch mit einem Bekenntnis zu europäischen Schlüsselindustrien untermauern will – und für den sich Scholz ebenfalls nur bedingt erwärmen kann.
Doch nicht nur Scholz dürfte in Paris als Bremser wahrgenommen werden: Auch die Regierungsbeteiligung der FDP und deren kritische Haltung gegenüber aktiver (also auch subventionistischer) Industriepolitik in Europa und einer Reform des EU-Vergaberechts ist für Frankreich lästig. Generell dürfte das Ampel-Gerangel dem französischen Präsidenten seit dem Verlust der absoluten Mehrheit in der Nationalversammlung zwar bekannt vorkommen. Doch die unbedingte und zeitfressende Notwendigkeit von ständiger Aushandlung und Kompromissen, die die deutsche Politik kennzeichnet, ist aus französischer Sicht noch immer befremdlich.
Auch außenpolitisch kann Macron einige Missstände beklagen, die kein besonders gutes Licht auf die Kooperationsfähigkeit des Bundeskanzlers werfen. Als Olaf Scholz überraschend nach China reiste, wäre Macron gerne mitgekommen – der Kanzler fuhr lieber ohne seinen Kollegen und nahm dafür eine deutsche Unternehmerdelegation mit. Als der chinesische Präsident 2019 in Paris zu Gast war, sicherte Macron sich zwar ebenfalls exklusive Zeitfenster mit Xi – doch Ex-Kommissionspräsident Juncker und Altkanzlerin Merkel waren auch tatsächlich eingeladen.
Letztlich dürfte Macron auch auf einer persönlichen Ebene enttäuscht sein: Im Gegensatz zu Macron ist der Bundeskanzler kein “Franco-allemand”, sondern durch und durch Transatlantiker. Bereits im Wahlkampf nannte Scholz die USA als wichtigsten Partner Deutschlands; mit Frankreich hatte er in seinem früheren Werdegang schlicht wenig Berührungspunkte. Anders Macron: Als Teil der französischen Elite spricht der Präsident selbstredend Deutsch und hat sich hierzulande auch immer wieder politisch inspirieren lassen (z.B. in Vorbereitung seiner Rentenreformpläne oder bei der Liberalisierung des Arbeitsmarkts).
Scholz hat recht!
Doucement, werden viele rechts des Rheins entgegnen: Längst habe sich Macrons Rolle gewandelt – wenn sie denn je so eindeutig war. Nicht nur sind die großen Gesten des Präsidenten Olaf Scholz so fremd wie seiner Vorgängerin: Dahinter verbirgt sich eine große Portion machtpolitischen Kalküls, das sich – wie auch in der Innenpolitik – immer wieder mit einem erstaunlichen Mangel an kommunikativem Gespür verbindet.
Macrons Rhetorik kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass viele seiner Vorstöße vor allem von französischen Interessen getragen sind: Das Waffenarsenal der “europäischen Souveränität” im Verteidigungsbereich, allen voran die Kampfjets der nächsten Generation, käme zu einem guten Teil aus Frankreich; die Europäische Politische Gemeinschaft war zumindest in ihren Ursprüngen als Alternative zur in Paris ungeliebten EU-Osterweiterung angelegt, und als Macron die NATO 2019 für “hirntot” erklärte, klatschte man in Berlin auch nicht gerade Beifall.
Bei aller Liebe zu Deutschland und Europa scheut sich Macron auch nicht, unliebsame Entscheidungen mit Machtmitteln zu blockieren – auch gegen die erklärten Interessen Deutschlands. In der Energiepolitik wurde dies besonders deutlich. Was in Hinblick auf Nord Stream II rückblickend richtig erscheint – Frankreich hatte 2019 in den Verhandlungen für die Neufassung der EU-Gasrichtlinie erheblichen Druck auf das Projekt aufgebaut -, hinterlässt in anderen Kontexten einen Nachgeschmack. Frankreichs Blockade der geplanten MidCat-Pipeline durch die Pyrenäen auf dem Höhepunkt der Energiekrise 2022 sorgte nicht nur in Berlin für Irritationen – ob hier der von Frankreich angeführte Natur- und Klimaschutz entscheidend war, oder aber die Interessen der französischen Häfen, die Flüssiggas importieren, bleibt offen.
Macron fiel, seit seine Vorschläge zur EU-Reform mehr oder weniger ungehört verhallt waren, auf der europäischen Ebene oft eher als trotziger denn als konstruktiver Akteur auf. Um seiner Forderung nach tieferer Integration Nachdruck zu verleihen, legt er 2019 ein Veto gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien ein – ein Land, das für seine EU-Perspektive immerhin seinen Namen geändert und damit einen jahrzehntelangen Konflikt mit seinem Nachbarland beigelegt hatte. Die Nachbar*innen vor der Tür stehen lassen, um die eigene Sache voranzutreiben – eine ungewöhnliche Art, sich in Zeiten wachsender russischer Einflussnahme für ein geopolitisch souveränes Europa einzusetzen.
Ähnliche Fragen muss Macron sich in der Sicherheitspolitik gefallen lassen: Nicht nur für das transatlantisch orientierte Deutschland war seine Idee der “europäischen Souveränität” nie eine echte Alternative, sondern sie lenkte immer wieder von dringend notwendigen Debatten über NATO-Kapazitäten in Europa ab. Und auch von der europäischen Demokratie hat Macron ein ganz eigenes Verständnis, das für deutsch-französische Reibung sorgt: Nachdem die von ihm propagierte Idee der transnationalen Wahllisten gescheitert war, torpedierte er – wiederum 2019 – den Spitzenkandidat*innen-Prozess zur Wahl der*des Präsident*in der EU-Kommission und verhalf statt Manfred Weber lieber Ursula von der Leyen ins Amt.
Ça passe ou ça casse – Macrons Politikstil hat im konsensliebenden politischen Deutschland nicht viele Anhänger*innen gefunden, und dies zu ändern scheint für ihn keine Priorität mehr zu sein.
Et alors ?
Und wie so oft gilt auch hier: Wo gute Freunde sich streiten, gibt es keinen Gewinner. Denn beide Seiten können legitime Vorwürfe erheben. Wo ein Schiedsspruch also ausbleibt, sind zwei Fazits möglich:
Zum einen mag man argumentieren, dass eine Verschlechterung im deutsch-französischen Verhältnis strukturelle und historische Gründe hat: Seit der Wiederversöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die beiden Länder ökonomisch und geostrategisch extrem unterschiedlich entwickelt. Frankreich ist als Atommacht und Volkswirtschaft, die von der Binnennachfrage lebt, stark dem gaullistischen Autarkie-Gedanken verschrieben. Deutschland hingegen wurde Exportweltmeister, hat seine Truppe bis zur Verteidigungsunfähigkeit vernachlässigt und wurde durch die offensive Westbindung außerordentlich globalisierungsfreundlich. Das Verhältnis hat also lange aus einer gemeinsamen Vergangenheit gelebt; aber es wird zunehmend schwieriger, aus einer auseinander driftenden Gegenwart eine gemeinsame Zukunft zu gestalten.
Dem könnte man entgegenhalten, dass der vermeintliche Streit zwischen Paris und Berlin gar nicht so tiefgehend ist, wie er scheint. Denn im Krisenjahr 2022 zeigten Deutschland und Frankreich in einem beachtlichen Pas de deux, dass sie durchaus noch gemeinsame Sache machen können, wenn es darauf ankommt: Die durch eine Lockerung des EU-Wettbewerbsrechts ermöglichten staatlichen Beihilfen für notleidende Unternehmen kamen zu 80% aus Deutschland und Frankreich. Italien – immerhin die drittgrößte Volkswirtschaft der EU – kam nur auf magere 4,7%. Will heißen: Als die EU entschied, den Mitgliedstaaten ausnahmsweise Spielraum bei wettbewerbsverzerrenden Subventionen zu geben, war man sich an Spree und Seine dann doch recht einig.
Und so bleibt auch dieses Fazit wie die deutsch-französischen Beziehungen: utterly inconclusive.
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Unsere Blogserie La Grande Nation widmet sich in Deutschland verbreiteten Mythen und Vorurteilen über das Land, das sich selbst nie so nennen würde. Denn während selbst die folkloristischen Aspekte der Länderfreundschaft (Städtepartnerschaften und Frankreichurlaube) auf dem Rückzug zu sein scheinen, erlahmt der deutsch-französische Motor auch und vor allem an der mangelnden innenpolitischen Kenntnis des jeweils anderen. Es gibt zwar einiges Interesse an Frankreich, aber Mythen und Klischees dominieren die deutsche Debatte über unseren wichtigsten Nachbarn – und über viele wichtige Dinge wird erst gar nicht gesprochen. Dies wollen wir in den kommenden Wochen und Monaten ändern.
Part 1: Je t’aime… moi non plus — Wieso die Deutschen Frankreich nicht verstehen (und es gar nicht merken)
Part 2: Die Republik der relativen Mehrheit – Frankreich nach der Parlamentswahl
Part 4: Du pareil au même: Frankreichs Partienlandschaft im Wandel
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Bildquelle via Lukas Hochscheidt
Lukas blickt aus polit-ökonomischer und feuilletonistischer Perspektive auf Frankreich, wo er einige Jahre gelebt, studiert und gearbeitet hat. Nach einem Studium der Politik-, Sozial- und Europawissenschaften in Nancy, Paris und Berlin war er bis Ende 2022 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag tätig. Seit 2020 ist er Mitglied des Vorstands von Polis180 und war 2021-2022 zudem Präsident des Vereins.