Die Parlamentswahlen im Juni dieses Jahres haben Frankreichs Politik (wieder einmal) grundlegend aufgemischt – und sind auch an den Parteien nicht spurlos vorbeigegangen. Noch mehr als drei Monate nach dem zweiten Wahlgang – sind die damals angestoßenen Veränderungen in vollem Gange. Doch was steckt dahinter, und passiert so etwas öfter? Ein Blick auf die Eigenheiten des französischen Parteiensystems.
Eine Kolumne von Lukas Hochscheidt und Etienne Höra
Die Parlamentswahlen im Juni dieses Jahres haben Frankreichs Politik (wieder einmal) grundlegend aufgemischt – und sind auch an den Parteien nicht spurlos vorbeigegangen (wir berichteten). Noch heute – mehr als drei Monate nach dem zweiten Wahlgang – sind die damals angestoßenen Veränderungen in der Parteienlandschaft in vollem Gange: Die konservativen Républicains suchen zum zweiten Mal binnen eines Jahres eine neue politische Führung, die Parti socialiste verliert sich erneut in Flügelkämpfen, die Partei von Präsident Macron ändert mal wieder ihren Namen (von “La République en marche” zum wohlklingenden “Renaissance”, unter dem sie auch zu den Parlamentswahlen antrat) und die Grünen wie Mélenchons “Insoumis” kämpfen mit Me-Too-Skandalen in ihren Führungsriegen.
Nun könnte man dieses illustre Zeitgeschehen ausgiebig kommentieren, einordnen, (v)erklären. Doch um die oft tektonisch erscheinenden Bewegungen in der französischen Parteienlandschaft wirklich zu verstehen, lohnt sich ein gründlicherer Blick hinter die Kulissen. Denn wer oder was eine Partei in Frankreich ist, hat mit unseren hiesigen Parteien nicht viel gemein. Beginnen wir jedoch dort, wo Parteien normalerweise herkommen: bei ihren Mitgliedern.
The more the merrier? Pas tellement.
Während Parteien in Deutschland den Anspruch haben, sich auf eine “Basis”, das heißt eine möglichst zahlreiche Mitgliedschaft, zu stützen, ist der Begriff der Parteizugehörigkeit in Frankreich von vornherein schwierig. Anders als hierzulande, wo ein Parteieintritt rechtlich reglementiert ist (man kann nicht ohne weiteres Mitglied zweier konkurrierender Parteien sein) und in der Regel mit (von der Steuer absetzbaren) Mitgliedsbeiträgen einhergeht, reichten ein paar Klicks und eine Einverständniserklärung, um 2017 Mitglied von Macrons Partei “En Marche” zu werden. Selbstverständlich kostenlos.
So erklärt sich, dass “En Marche” 2017 zwar offiziell angab, knapp 400.000 Mitglieder zu zählen, bei der Abstimmung über die Umbenennung der Partei dieses Jahr aber nur gut 25.000 “zertifizierte” Mitglieder abstimmen durften. Denn zählt man nur die aktiven und zahlenden Mitglieder, wird klar: Frankreich steht fest in der Tradition der Kader- oder Funktionärsparteien – und deren Schwerpunkt liegt auf Amtsträger*innen und solchen, die es werden wollen. Zum Vergleich: Selbst die mitgliederschwächste Partei im Deutschen Bundestag, die AfD, brachte es zum 1.1.2022 auf 32.000 Mitglieder. SPD und CDU – die in der Wählergunst schon eher in Macrons Liga spielen – bringen es auf knapp 400.000 Mitglieder.
Diese Mitgliederstruktur hat auch finanzielle Auswirkungen: Deutlich wichtiger als die Beiträge der wenigen (und oft säumigen) Mitglieder ist die staatliche Unterstützung, die in Stufen abhängig von den erreichten Stimmanteilen ausgezahlt wird. Dass Wahlkampagnen deshalb nicht nur ein politisches, sondern auch ein finanzielles Vabanque-Spiel sein können, mussten 2022 Les Républicains und Europe Écologie Les Verts feststellen: Da ihre Präsidentschaftskandidat*innen unter der Schwelle von 5% der abgegebenen Stimmen blieben, bleiben sie auf einem Großteil ihrer Wahlkampfkosten sitzen. Doch nicht nur die Zahl der Mitglieder und ihre Finanzierung unterscheidet Frankreichs Parteien von ihren deutschen Pendants – auch ihre Langlebigkeit.
Neue Namen, alte Gesichter
Vor allem im Mitte-rechts-Lager wechseln sich in der Fünften Republik diverse Formationen ab. De Gaulle, Pompidou, Giscard, Chirac, Sarkozy gehörten nominell verschiedenen Parteien an – doch ihre politische Ausrichtung stand stets in derselben Tradition des (mehr oder weniger gemäßigt) konservativen Gaullismus. Die Partei ist somit eher die jeweils zeitgenössische “Inkarnation” einer bestimmten politischen Kraft, nicht aber diese selbst.
Abspaltungen und Neugründungen sind ebenso an der historischen Tagesordnung der französischen Parteipolitik. Viele der aktuell im Parlament vertretenen politischen Kräfte sind in ihrer derzeitigen Form erst in den letzten Jahren entstanden: Die Präsidenten-Partei Renaissance besteht (anfangs noch unter dem Namen En Marche bzw. La République en marche) erst seit 2016; zuvor war Emmanuel Macron Mitglied der Parti socialiste. Wie Renaissance haben auch andere in den letzten Jahren schlicht ihren Namen verändert – so der rechtsextreme Front National, der seit 2018 als harmloseres Rassemblement National verstanden werden will.
Angestoßen werden diese Neugründungen und Namenswechsel daher in der Regel nicht durch Veränderungen der politischen Konfliktlinien, sondern durch sich verändernde Machtoptionen innerhalb einer politischen Strömung. Statt tiefgehendem gesellschaftlichem Wandel kommt als Erklär-Matrix für die Parteien-Entwicklung eher das Kalkül charismatischer Persönlichkeiten in Betracht. Dies gilt für die präsidentielle Renaissance ebenso wie für La France Insoumise, das Projekt des abtrünnigen Sozialisten Jean-Luc Mélenchon. Interessanterweise sind es just diese beiden Parteien, die durch verschenkte Mitgliedschaften den Eindruck besonders großer Mitglieder-Scharen erwecken wollen.
Gemeinwohl oder Partikularinteressen? Die historischen Wurzeln der französischen Parteien-Skepsis
Diese Fluktuation erklärt sich vor allem durch die Institutionen der Fünften Republik, die um den*die Präsident*in als zentrale Figur des politischen Lebens kreisen – und die Charles de Gaulle, Architekt der Verfassung und erster Präsident, sich auf den Leib geschneidert hat. Der*die Präsident*in wird direkt gewählt und ernennt die Regierung; er*sie ist, abgesehen vom 2007 eingeführten Amtsenthebungsverfahren, weder dem Parlament noch einer Partei verantwortlich. Die Aufgabe der Parteien in diesem System ist primär, der Regierung eine Mehrheit für ihr politisches Projekt zu beschaffen.
Diese Personalisierung betrifft auch die Wahlen zum Parlament: Da in den einzelnen Wahlkreisen Personen gewählt werden und keine (Partei-)Listen, sind Kandidat*innen und Abgeordnete deutlich weniger von ihrer Partei abhängig als in Demokratien mit Verhältniswahlrecht. Über ihren Erfolg entscheidet vor allem ihre lokale Verankerung und Popularität.
Diese Personalisierung ist eine Lektion aus dem Scheitern der Vierten Republik – Frankreichs Experiment mit dem Verhältniswahlrecht von 1946 bis 1958, das den politischen Parteien und dem Parlament eine stärkere Rolle gab. In den zwölf Jahren der Vierten Republik gaben sich 24 Regierungen die Klinke in die Hand, von denen die langlebigste 13 Monate im Amt war, die kurzlebigste nur zwei Tage. Dabei spielten die Parteien eine unrühmliche Rolle: Die Kultur der organisierten Verantwortungslosigkeit, in der Regierungen wieder und wieder aufgrund politischer Manöver ihre Mehrheit verloren, verhinderte eine effektive Antwort auf die Krisen der Zeit, allen voran den Zerfall des französischen Kolonialreichs und den Unabhängigkeitskrieg in Algerien. So ist die durch de Gaulle geprägte, semipräsidentielle Verfassung der Fünften Republik auch eine Verfassung gegen die Macht der Parteien – anders als etwa Deutschlands Grundgesetz, das den Parteien in Art. 21 Rechte und Pflichten bei der politischen Willensbildung gibt.
Die relative Schwäche der politischen Parteien in Frankreich hat tiefe historische Wurzeln: Ihre sozialen Strukturen konnten sich erst deutlich später bilden als etwa in Deutschland. Frankreich zeichnet sich im gesamten 19. Jahrhundert durch einen ausgeprägten Antikorporatismus aus. Dieser geht auf die Französische Revolution zurück, die auch eine Revolution gegen die allgegenwärtigen Zünfte und ständischen Vereinigungen des Ancien Régime ist. Bis zum Gesetz von 1901, das die Gründung von Vereinen regelt, sind jegliche Vereinigungen von mehr als 20 Personen genehmigungspflichtig, ihre Gründung anderweitig strafbar. Die geringe Verankerung der Parteien in der Breite der Gesellschaft trug und trägt vielfach zu einer parteienkritischen Mentalität bei – die Intellektuelle Simone Weil forderte gar 1940 die Abschaffung der politischen Parteien, da sie jeder demokratischen und gemeinwohlorientierten Politik entgegenstünden.
Doch auch im aktuellen politischen Diskurs kann Polemik gegen das Parteiwesen oft noch punkten: Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2017 stilisierten sowohl Emmanuel Macron als auch Jean-Luc Mélenchon ihre jeweiligen Formationen als innovative “Bewegungen” mit massenhaftem Zulauf, regelrechte Anti-Parteien – die mit der Zeit aber immer mehr der Wankelmütigkeit ihrer Konkurrenz gleichen dürften: du pareil au même, wie man in Frankreich sagt.
Unsere Blogserie La Grande Nation widmet sich in Deutschland verbreiteten Mythen und Vorurteilen über das Land, das sich selbst nie so nennen würde. Denn während selbst die folkloristischen Aspekte der Länderfreundschaft (Städtepartnerschaften und Frankreichurlaube) auf dem Rückzug zu sein scheinen, erlahmt der deutsch-französische Motor auch und vor allem an der mangelnden innenpolitischen Kenntnis des jeweils anderen. Es gibt zwar einiges Interesse an Frankreich, aber Mythen und Klischees dominieren die deutsche Debatte über unseren wichtigsten Nachbarn – und über viele wichtige Dinge wird erst gar nicht gesprochen. Dies wollen wir in den kommenden Wochen und Monaten ändern.
Part 1: Je t’aime… moi non plus — Wieso die Deutschen Frankreich nicht verstehen (und es gar nicht merken)
Part 2: Die Republik der relativen Mehrheit – Frankreich nach der Parlamentswahl
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Bildquelle via Lukas Hochscheidt
Lukas blickt aus polit-ökonomischer und feuilletonistischer Perspektive auf Frankreich, wo er einige Jahre gelebt, studiert und gearbeitet hat. Nach einem Studium der Politik-, Sozial- und Europawissenschaften in Nancy, Paris und Berlin ist er seit 2021 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag tätig. Seit 2020 ist er Mitglied des Vorstands von Polis180 und war 2021-2022 zudem Präsident der Vereins.
Etienne versteht nach längeren Aufenthalten in Aix-en-Provence und Paris immer besser, was er an Frankreich nicht versteht. Dabei blickt er auch auf Erfahrungen in der bilateralen Diplomatie der beiden Länder zurück. Momentan schließt er sein Studium der Internationalen Beziehungen in Berlin mit einem handelspolitischen Schwerpunkt ab. Seit Juli 2022 ist er Präsident von Polis180.