In den letzten zwei Wochen haben wir unseren inneren Kalender unbewusst auf die Auferstehung Jesus gerichtet. Zahlreiche Medien und Redenschreiber bemühen sich, eine Parallele zwischen dem Messias und der weltweiten Wirtschaft zu erschreiben. Genau in diesen außerordentlichen Zeiten wird ein Vokabular entstaubt, dass normalerweise im außenpolitischen Diskurs nicht zum guten Ton gehört.
Ein Beitrag von Sylvia Wittmer
Religiöse Narrative machen noch keine Theokratie
Mit der alljährlichen Ausnahme von Weihnachten und Ostern spielt Religion in unserem Alltag und unseren politischen Entscheidungen keine bewusste Rolle. Im ersten “Wort zum Sonntag” hat Elmar Stracke bereits die Beobachtung argumentativ aufgenommen, dass Religion in einer säkularen Außenpolitik schnell als persönliche Angelegenheit oder Hindernis für rationale Entscheidungen abgetan wird.
In unseren Bemühungen, verschiedenen Modernisierungstheorien gerecht zu werden, wird die Religion im außenpolitischen Diskurs so weit heraus differenziert, dass ihr Einfluss komplett negiert wird. Dies birgt die Gefahr, dass eine erfolgreiche Zusammenarbeit, die auf gemeinsamen Werten basiert, nicht möglich ist. Denn ohne Kenntnis über die Herkunft unserer politischen Narrativen und Verständnis für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede können wir nicht zielführend miteinander kommunizieren, geschweige denn verhandeln und übereinkommen.
Bei Religiosität und Außenpolitik wandern die Gedanken oftmals zu theokratisch geprägten Staaten, wie beispielsweise dem Iran. In unserer vorausgesetzten Säkularisierung verkennen wir jedoch, dass auch Gesellschaften wie die Vereinigten Staaten von Amerika und Israel, die uns in den vergangenen Jahrzehnten in vielen außenpolitischen Weichenstellungen nahe standen und deren Werte wir teilten, schon immer zutiefst religiös geprägt waren.
Diese Prägung wird aktuell nun vermehrt ausschließlich im Kontext des aufstrebenden Populismus in diesen beiden Ländern thematisiert. Vergleichbare Tendenzen lassen sich auch in Brasilien identifizieren, wo sich Präsident Bolsonaro auf die Unterstützung evangelikaler Christen berufen hat. Hieraus allerdings den Schluss zu ziehen, dass Religion inherent populistisch in der Politik sein muss, ist verkürzt.
Die aktuellen Beispiele zeigen vielmehr, dass wir uns mit den zugrundeliegenden Narrativen auseinandersetzen müssen, um einen solchen Missbrauch der religiösen Parabeln etwas entgegensetzen zu können. Hierbei wird auch stets unser Verständnis der Rhetorik von unserer jeweiligen kulturellen und eben auch religiösen Vorprägung beeinflusst.
So ist der Aufruf des amerikanischen Präsidenten, an Gott sein Land zu segnen, Teil einer christozentrischen Mehrheitskultur, die im Kontrast zur religiösen Vielfalt seines Landes und der theoretischen Trennung von Staat und Kirche steht. Gleichzeitig ist “God bless America” zutiefst in der politischen Tradition des Landes verankert.
Außenpolitisches Handeln bedarf der Religionskompetenz (religious literacy)
Obwohl die Bundesrepublik einen ähnlichen Anteil an christlichen BürgerInnen aufweist, ist ein direkter Bezug zur Religion rhetorisch selten. Die staatliche Verbindung zwischen der Bundesrepublik und den christlichen Kirchen in Form der Kirchensteuer ist wiederum historisch gewachsen und für Außenstehende schwer nachvollziehbar. Auch bei deutschen Redenschreibern finden sich darüber hinaus in beliebten deutschen Redewendungen verdeckte christliche Bezüge.
Durch Luthers Bibelübersetzungen wurden beispielsweise existierende Begriffe in ihren Wertungen religiös geprägt, die auch heute noch in diesem Sinne verwendet werden. Unsere religiösen Vorprägungen lösen daher unterbewusst möglicherweise andere Assoziationen aus als bei anderer kultureller und religiöser Prägung. Um sich dessen bewusst zu werden und dies gegebenenfalls zu ändern oder als Werkzeug zu nutzen, bedarf es schließlich der besseren Kenntnis religiöser Narrativen und Kontexte.
Der deutsche Ansatz, der keineswegs als europäischer Ansatz in diesem Kontext verallgemeinert werden sollte, Außenpolitik rein wissenschaftlich zu betrachten, stößt sich damit oftmals am Unverständnis der Herkunft der Prägung und Interessen des Gegenüber.
Es gibt hier zwar erste Bemühungen durch das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und dem Auswärtigem Amt, dem Konnex zwischen Religion und Außenpolitik gerecht zu werden. Diese fokussieren sich jedoch primär auf die Zusammenarbeit mit Führungsfiguren spezifischer religiöser Gruppen, beispielsweise den christlichen Kirchen und bauen selbst wenige eigene Kompetenzen in diesem Themenkomplex auf.
Durch diesen blinden Fleck zeigen sich allerdings nicht nur die Folgen unseres Säkularisierungsbestrebens der vorangegangen Jahrzehnte, sondern auch unser christozentrischer Fokus.
Dem Ruf nach einer eigenständigen Auseinandersetzung mit verschiedenen Religionen und Narrativen steht oftmals die insbesondere im progressiven Spektrum präsente Religionskritik entgegen. Dabei ist diese oftmals primär durch die eigene (a)religiöse Vorprägung bestimmt. Eine Kritik an der eigenen religiösen Zugehörigkeit oder primären Religion, der man ausgesetzt war, wird auf alle Religionsgemeinschaften verallgemeinert.
Dies zeigt sich beispielsweise in der fälschlichen Annahme, dass jegliche religiöse Gemeinschaften identische politische Haltungen teilen, auch wenn die prominenteste Haltung, wie zu Abtreibungen und der Anerkennung von Homosexualität als Ausdruck natürlicher Sexualität, von der katholischen Kirche oder evangelikalen christlichen Strömungen stammen.
Was wir glauben, übereinander zu wissen
Aufgrund unserer limitierten Kenntnis der Verhandlungsbasis verpassen wir Chancen mit Religionsgemeinschaften zu kooperieren, die in ihrer Haltung möglicherweise abweichen oder zumindest differenzieren. Durch die Auseinandersetzung mit anderen religiösen Perspektiven wird vielmehr die eigene Wertvorstellung nicht zwingend durch diese beeinflusst, sondern das eigene Profil geschärft.
Was andere Gruppen bewegt, kann neue Fragestellungen frühzeitig aufzeigen. Wir lernen dabei über uns selbst, welche Werte wir teilen und woher diese ursprünglich stammen. Eine solche Reflektion ermöglicht die Hinterfragung unserer vermeintlichen Säkularität und die Identifikation religiöser Wurzeln, die uns mangels Beschäftigung mit dem Vokabular und der Denkschule der prägenden Mehrheitsreligionen im Alltag nicht offenkundig erscheinen.
Darüber hinaus ermöglicht uns die Identifikation religiöser Wurzeln unserer Werte eine Reflektion darüber, inwiefern diese die gesamtdeutsche Gesellschaft jenseits der christlichen Mehrheitskultur widerspiegeln. Im Rahmen dieser kontinuierlichen Selbstreflektion bietet sich die Möglichkeit, religiösen Minderheiten – insbesondere unseren muslimischen und jüdischen MitbürgerInnen – Gehör zu verschaffen. Deren Erfahrungen und Perspektiven sollten verstärkt in unserem Wertekanon einfließen, denn diese sollten ebenfalls Teil des deutschen Narrativs sein.
Religious Literacy erfordert hierbei nicht, dass Glaubenssätze übernommen werden, sondern sie hilft diese zu erkennen und anzuerkennen, um sich im Diskurs mit diesen auseinanderzusetzen. Eine solche Bereicherung des Diskurs erreicht man aber nicht, wenn man sich nur mit religiösen Akteuren und Organisationen der christlichen Kirchen auseinandersetzt.
Während die Inklusion dieser beispielsweise in die Friedens- und Entwicklungsarbeit in den vergangenen 20 Jahren löblich ist, berauben wir uns dem Erfahrungsschatz der anderen in Deutschland und global vertretenen Perspektiven. Gerade in der Außenpolitik werden wir mit anderen Denkschulen konfrontiert.
Deutschlands Fokus auf Partnerschaft und Kooperation erfordert daher eine Stärkung der religious literacy, um die Beweggründe unserer Gegenüber besser zu verstehen, ihnen gegebenenfalls etwas entgegen zu setzen, unsere eigene Diversität zu reflektieren und damit Lösungen jenseits der bisherigen Scheuklappen zu finden.
“Wort zum Sonntag” – eine Blogreihe des Programmbereichs Religion & Außenpolitik
Unsere Blogreihe verdeutlicht, welche Rolle religiöse AkteurInnen, Theologien und die Verankerung kulturell-religiöser Praktiken und Ansichten innerhalb von Staat und Gesellschaft in der Außen- und Europapolitik spielen und warum sich eine Beschäftigung mit dem Themenkomplex Religion & Außenpolitik lohnt. Eine rein negative Betrachtung von Religionen als Risikofaktor bezüglich des aus säkularer Perspektive gesehenen Fortschritts lehnen wir ab.
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