Polis kocht!
Sorgearbeit vs. Frauen* in Führungspositionen? Perspektiven für Brüssel und Berlin
10. April 2019 | Prinzenallee 59, Berlin-Wedding
Mit Gyde Jensen (MdB, FDP) und Prof. Dr. Claudia Gather (Direktorin des Harriet Taylor Mill-Instituts für Ökonomie und Geschlechterforschung)
Bei Polis kocht! am 10. April 2019 ging es um das Thema „Sorgearbeit vs. Frauen* in Führungspositionen?“ aus politischer und wissenschaftlicher Perspektive sowie um Politikvorschläge für Brüssel und Berlin. Noch immer verrichten Frauen* in Deutschland 52,4% mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer. Gleichzeitig sind Frauen* in Führungspositionen weiterhin stark unterrepräsentiert: Im EU-Vergleich belegt Deutschland bei allgemeinen Leitungspositionen den 11. Platz und liegt damit sogar unter dem EU-Durchschnitt. Um diese Problematik zu diskutieren, luden wir zwei Expertinnen ein: Gyde Jensen, Mitglied des Deutschen Bundestages für die FDP und Prof. Dr. Claudia Gather, Direktorin des Harriet Taylor Mill-Instituts für Ökonomie und Geschlechterforschung der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Die Veranstaltung wurde organisiert durch den Polis-Programmbereich Gender und Internationale Politik.
Mit Blick auf die kommende Europawahl machten wir u.A. belgische Waffeln, und schon während des Kochens wurde sich rege ausgetauscht. Unser Publikum bestand aus Studierenden, jungen Berufstätigen und allgemein Interessierten, was zu einer abwechslungsreichen Diskussion führte.
Auf die Frage hin, ob man Gleichstellungspolitik der Wirtschaft allein überlassen könne oder ob es stärkere Maßnahmen durch den Staat brauche, erklärte Gyde Jensen, Gegnerin sämtlicher Frauenquoten, vor allem in der Wirtschaft, gewesen zu sein. Durch ihre Arbeit in der Politik sei sie sich nun deren Vorbildfunktion bewusst geworden. Um voranzukommen, müssten Unternehmer*innen von Parität überzeugt sein, wozu die Politik erstmal mit gutem Beispiel vorangehen müsse.
Professorin Gather wies darauf hin, dass die Ungleichheit im Arbeitsleben sehr persistent sei und sich der sogenannte ‚Gender Pay Gap’ seit den neunziger Jahren kaum verbessert habe. Eine Verbesserung sei zwar in der Tendenz erkennbar, diese vollziehe sich aber zu langsam und nicht konsequent genug. Als Folge sei bemerkbar, dass in Deutschland die Frauen, die es in Führungspositionen geschafft haben, oft keine Kinder hätten; auch weil in Deutschland zu wenig Betreuungsangebote zur Verfügung stünden. Im Umkehrschluss erschwere das Kinderkriegen Frauen beruflichen Erfolg. Daher forderte sie grundlegendere Maßnahmen, politischen Willen und auch kulturelle Veränderung, um die traditionellen Geschlechterbilder und -rollen zu überkommen.
Auch Gyde Jensen kritisierte die allgemeine gesellschaftliche Auffassung, dass man eine Führungsposition nur dann innehaben kann, wenn man 100% arbeitet. Sie forderte: „Das muss auch mit 35% gehen!“ Ihrer Auffassung nach würden sich die Akzeptanz unterschiedlicher Arbeitszeitmodelle, die Abschaffung von Kitabeiträgen sowie verlängerte Betreuungszeiten positiv auswirken. Außerdem sagte sie, dass es an Rollenvorbildern fehle – auch im Bundestag. In der Gesellschaft müsse sich stärker die Auffassung durchsetzen, dass Kinder einfach überall dazu gehören.
Mit Blick auf die EU sagte Gather, dass Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt der nordischen Länder besser funktioniert, weil diese Länder eine andere kulturelle Entwicklung vollzogen hätten als beispielsweise Deutschland. Da es im Norden Europas kein Bürgertum gegeben habe, konnte die Gesellschaft in gleicheren Verhältnissen in die Moderne eintreten. Darüber hinaus existiere dort ein größeres Selbstverständnis, dass der Staat für Pflege zuständig sei. Mit Blick auf Frauen in Führungspositionen sei die Lage dort auch nicht ideal aber definitiv besser als in Deutschland.
Der Wahlprogrammcheck von Polis 180 zu den anstehenden Europawahlen hat ergeben, dass die FDP keine konkreten Vorschläge in Richtung Gleichberechtigung auf dem (europäischen) Arbeitsmarkt nennt. Daher wollten wir von Gyde Jensen wissen, ob sie glaubt, dass die EU nicht die richtige Ebene sei, um Maßnahmen zu fördern. Sie sagte, dass es keine falschen Ebenen gibt, es aber konkrete Beauftragte brauche. Die FDP sei noch weit davon entfernt, eine Quote zu fordern; dennoch müsse die Politik hier Vorbild sein. Sie merkte an, dass je weiter man nach Osteuropa schaute, desto herausfordernder dies sei. Claudia Gather fügte hinzu, dass EU-Politik jedoch häufig bereits progressiver als deutsche Politik sei.
Mit Blick auf Outsourcing von Pflege an Migrant*innen erklärte Gather, dass hier verschiedene Notlagen zusammen funktionierten. Deutsche Mittelschichtfamilien bräuchten jemanden, der im Haushalt hilft und Frauen z.B. aus Osteuropa bräuchten Arbeit. Diese Frauen hinterließen in ihren Familien dadurch auch eine Lücke, die wiederum von anderen Frauen gefüllt würde. Um diesen Prozess zu durchbrechen, braucht es laut Professorin Gather eine Aufwertung der Care-Arbeit. So schlussfolgerte ein Gast, dass die strukturellen Probleme der Gleichstellung nur mit einem ganzheitlichen feministischen Ansatz, der Arbeits- und Wirtschaftspolitik neu denkt, gelöst werden könnten.