Polisblog
15. September 2023

Tauchet und findet – Chinas politische Unterwasserarchäologie im Südchinesischen Meer

von Etienne Höra und Frederik Schmitz

 

15.09.23

 

In den vergangenen Jahrzehnten hat die Volksrepublik China (VR China) enorme Summen in die Erforschung des Seebodens im Südchinesischen Meer investiert – allerdings nicht in die Suche nach Rohstoffen. Mit neuen Forschungsinstitutionen sowie modernen Bergungsschiffen und -robotern soll eine “neue Ära” der Unterwasserarchäologie “mit chinesischen Besonderheiten” eingeläutet werden. Diese soll selbst die berühmtesten bisherigen Funde in den Schatten stellen, wie etwa die Nanhai Nr. 1. Hierbei handelt es sich um ein mit Porzellan und Silber beladenes Handelsschiff aus der Song-Zeit, das 1987 vor der Küste von Guangdong gefunden wurde und seit seiner Bergung 2007 in einem eigenen Museum ausgestellt wird. Das neue Kapitel der chinesischen Unterwasserarchäologie soll die sogenannte “maritime Seidenstraße” sicht- und greifbar machen – ein Konstrukt der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, das im Kontext der Belt and Road Initiative aktuell vor allem in China eine Renaissance erlebt

Warum aber so viel Aufhebens um ein paar Wracks und etwas Porzellan? Ein wichtiger Teil der Antwort hat mehr mit Propaganda und Nationalismus zu tun, als mit wissenschaftlichem Interesse an der Vergangenheit dieses dicht vernetzten Raums. Ein Land, das mit selektiven Lesarten seiner (älteren und jüngeren) Geschichte aktiv Politik betreibt, hat starke Anreize, diese mit selektiven Lesarten historischer Artefakte zu untermauern. So soll dem “großen Wiederaufblühen” der chinesischen Nation, einem zentralen Herrschaftskonzept der aktuellen Führung der Kommunistischen Partei Chinas, auch unter Wasser der Boden bereitet werden. In einer Meeresregion, die von widerstreitenden Gebietsansprüchen und zunehmenden Spannungen geprägt ist, steht für China und die anderen Anrainerstaaten also einiges auf dem Spiel. 

Graben für die nationale Zukunft

Der aktuelle Boom der chinesischen Unterwasserarchäologie ist eng mit einer juristischen Niederlage verbunden: 2016 gab ein internationales Schiedsgericht, das unter der UN-Seerechtskonvention eingesetzt worden war, den Philippinen Recht – der Inselstaat lehnt Chinas weitreichende Ansprüche im Südchinesischen Meer und die damit verbundene expansive Politik unter der sogenannten Nine-Dash Line ab, ebenso wie die anderen Anrainerstaaten. Laut Schiedsgericht habe die VR China, die am Verfahren nicht aktiv teilgenommen hatte, das wichtigste Argument, dass die Region  seit Jahrhunderten durch chinesische Fischer genutzt werde, nicht ausreichend rechtlich und faktisch belegt. Überdies habe in der Rechtsanwendung die UN-Seerechtskonvention Vorrang, die derartige historische Ansprüche ausschließe. 

Wer die geopolitischen Entwicklungen seitdem verfolgt hat, wird feststellen, dass dieses Urteil keine große praktische Relevanz entwickelt hat; die VR China erkennt den Schiedsspruch weiterhin nicht an und setzt ihre Aktivitäten im Südchinesischen Meer fort. Angesichts dieser Umsetzungslücke wird klar: Die wichtigste Konfliktzone liegt nicht im Gerichtssaal, sondern in den Geschichtsbüchern. Wenn China hier seine Lesart der Vergangenheit durchsetzen kann, wird es umso leichter fallen, internationale Kritik an seiner aktuellen Politik im Südchinesischen Meer zurückzuweisen und diese Politik intern als Wiederherstellung eines historischen Normalzustandes zu legitimieren. Parteimedien wie die Global Times bereiten diese Botschaften für ein internationales Publikum auf.

Im Trüben fischen – warum es so einfach nicht ist

Kernstück dieser Legitimationsstrategie sind Behauptungen, die die Wracks selbst nicht hergeben. Unbestritten ist, dass bis zur Seesperre, die die Ming-Dynastie im 14. Jahrhundert zur Bekämpfung der Piraterie einrichtete, über das Südchinesische Meer ein reger Handel zwischen den Küstenprovinzen des Kaiserreichs und Partnern in Ost- und Südostasien betrieben wurde, der später periodisch unter günstigen politischen Rahmenbedingungen wiederauflebte. Beispielhaft hierfür sind die Reisen des Ming-Admirals Zheng He, der im Auftrag der Kaiser Yongle und Xuande Südostasien und Teile Ostafrikas erkundete. Seine Reisen dienten neben wirtschaftlichen und diplomatischen auch nachweislich militärischen Zwecken. Trotzdem werden chinesische Akteur*innen nicht müde, ihn als Beweis für das historische Narrativ der chinesischen Friedfertigkeit zu bemühen – über die gesamte vielfach bemühte fünftausendjährige Geschichte Chinas. Ob diese Gemengelage insgesamt als chinesische Kontrolle über die Region gelten kann, bleibt zweifelhaft, und viele offizielle Antworten der VR China auf diese Frage sind zutiefst ahistorisch. Sie projizieren ein modernes Verständnis von Souveränität auf einen Zeitabschnitt, dem dieses Konzept in seiner heutigen Form vollkommen fremd war, und vereinnahmen Schiffe und Händler*innen, die die betreffenden Routen nutzten, als “chinesisch”, ohne dass aus dem vorliegenden Material seriöse Aussagen über entsprechende zeitgenössische (Selbst-) Zuschreibungen abgeleitet werden könnten. Wer auf diese Art versucht, historische Epochen und ihre Zeugnisse alleine aus gegenwärtigen Interessen heraus zu verstehen, fischt zwangsläufig im Trüben. 

Es ergeben sich zwei große Verlierer: die übrigen Anrainerstaaten und die Chance auf eine fundierte archäologische Erforschung des Südchinesischen Meeres. Die VR China verfolgt nicht nur selbst eine aktive Ausgrabungsstrategie, sondern unterbindet durch den Einsatz seiner militarisiert-aufgerüsteten Küstenwache auch Grabungen ausländischer Teams in den betreffenden Meeresgebieten – notfalls durch Zwang. Damit schneidet es die südostasiatischen Staaten von einem Teil der Geschichte ab, der auch ihnen zugänglich sein sollte und der besonders den ethnisch chinesischen Minderheiten in diesen Ländern neue Erkenntnisse über ihre jahrhundertelange Geschichte bringen könnte. Wichtige Fundstücke könnten unwiederbringlich verloren gehen: durch unsachgemäße Ausgrabungen, die zerstörerisch wirken können, oder durch ein bewusstes Auslassen all dessen, was nicht in vorgefertigte Schemata und Erzählungen passt. Hier zeigt sich der selektive Charakter der Archäologie “mit chinesischen Besonderheiten”, die einzig und allein der Manifestierung der eigenen Narrative und Geschichte gilt. Fatal ist diese Verengung für die friedliche Zukunft der Region: Eine vielstimmige und vielschichtige Geschichte von Handel, Austausch und Konflikt im dichtesten Interaktionsraum seiner Zeit wird auf die politisch motivierten Narrative eines einzigen Akteurs reduziert. Aus dieser verarmten Vergangenheit lässt sich wenig lernen.   



In diesem Herbst nimmt der Programmbereich connectingAsia mit der Reihe „Ocean Talks“ die Region rund um das Südchinesische Meer aus vielfältigen Perspektiven genauer unter die Lupe. Die Region ist nicht zuletzt aufgrund der wachsenden Spannungen zwischen China, Taiwan, den Philippinen und anderen Ländern immer wieder in den Schlagzeilen präsent. Durch verschiedene Formate, wie Events, Podcasts und Blogposts möchten wir die Positionen der Anrainerstaaten sowie globale Perspektiven auf die Region beleuchten.

Bildquelle: pixabay.com

Etienne Höra hat Internationale Beziehungen in Freiburg, Aix-en-Provence, Berlin und Genf studiert und forscht zu Geoökonomik, chinesischer Außenpolitik und den Narrativen, die diese stützen, etwa im Bereich der Umweltnormen der Belt and Road Initiative. Seit Juli 2022 ist er Präsident von Polis180.  

Frederik Schmitz hat Sinologie in Köln und Tübingen studiert und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) der Universität Bonn. Sein Forschungsschwerpunkt ist Erinnerungspolitik als politische Legitimationsstrategie in China. Im Polis180-Programm connectingAsia organisiert Frederik außerdem den Buchclub.

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