Polisblog
25. Oktober 2021

​​Eine Buchrezension zu Te-Ping Chens “Land of Big Numbers”

Die amerikanische Journalistin Te-Ping Chen hat mit ihrer Kurzgeschichtensammlung einen lebendigen und vielschichtigen Einblick in den chinesischen Alltag geschaffen. Besprochen wurde das Werk im Buchclub des Programms connectingAsia.

Von Swaantje Otto und Lars Feyen

 

Am Anfang steht eine junge Frau. Sie ist hochintelligent, ambitioniert – und auch ungehorsam. Ihre Auffassungsgabe und Zielstrebigkeit bringen ihr zunächst den gewünschten Erfolg in Schule und Studium. Doch ihre Empathie und ihr Urteilsvermögen bewegen sie dazu, das politische System, in dem sie lebt, in Frage zu stellen und anzuprangern. 

Dabei lernen wir Lulu nur indirekt kennen. Wir erfahren ihre Geschichte durch die Augen ihres Zwillingsbruders, der deutlich weniger ambitioniert und auch weniger (sozial-)kritisch ist.   

Mittels Figurenhandelns und interpersoneller Charakterisierung repräsentiert Te-Ping Chen ihre erste Protagonistin als eine tragische Heldin, deren Niedergang durch Widerstand determiniert ist – mit Autonomie als Hauptmerkmal erinnert Lulu an Antigone, den literarhistorischen Urtyp weiblich-empathischen und dabei aussichtslosen Widerstandes, der durch Mitgefühl motiviert ist und ethische Integrität zum Ziel hat.

Die erste Erzählung in Chens Kurzgeschichtensammlung Land of Big Numbers ist dabei eine politisch engagierte und poetisch wirksame Einleitung der nachfolgenden Episoden, die uns gleichermaßen Einblick in die Tristesse und die Magie des chinesischen Alltags gewähren. 

Chen, ehemalige China-Korrespondentin für das Wall Street Journal, schafft es auf gut zweihundert Seiten und in zehn abwechslungsreichen Geschichten, die Lesenden in eine Welt zu entführen, von der man in der Berichterstattung über China sonst wenig liest. Es eröffnet sich eine Welt voller alltäglicher Hoffnungen auf kleinster Ebene, aber auch voller Gewalt und staatlicher Willkür, die mal unterschwellig, mal sichtbar das Leben der Protagonist*innen formt.

Lulus Bruder hat sich im Gegensatz zu ihr mit dem politischen System arrangiert. Gleiches gilt für die Heldin der zweiten Geschichte, Hotline Girl. Auf der Flucht vor einem gewalttätigen potentiellen Ehemann in ihrer Heimatstadt flieht Bayi in die große Metropole – und richtet sich als Telefonistin für die staatliche Beschwerdehotline ein. Sie kann mit ihrem eigenen Einkommen ein kleines persönliches Paradies in der anonymen Großstadt errichten und frei über ihr Leben verfügen. 

Der alte Cao Cao wiederum träumt in der dritten Geschichte, Flying Machine, davon, ein eigenes Flugzeug in seinem Garten zu bauen und trotz seines hohen Alters doch noch in die Kommunistische Partei aufgenommen zu werden. Als sein Konstrukt partout nicht vom Boden abheben will, bleibt es an einem kleinen Mädchen, ihn über seine falschen Vorstellungen von der Allmacht der Partei aufzuklären:

„Eigentlich ist es besser als Fliegen“, sagte sie. „Ich war schon mal in einem Flugzeug.“

„Ach, wirklich?“

„Es ist, als säße man die ganze Zeit in einem Raum“, sagte sie. „Man spürt es nicht wirklich. Es ist nicht so, wie man es erwarten würde.“

„Der Parteisekretär sagte, es sei erstaunlich“, sagte er.

„Der Parteisekretär“, sagte sie, „ist ein Idiot.“

„Als sie zum Stehen kamen, stieg sie in ihren weißen Absätzen zierlich aus. ‚Danke, Cao Cao!‘, sagte sie und ging davon, während er sie anstarrte.“

Was die Geschichten für Leser*innen, die keine ausgewiesenen China-Expert*innen sind, so zugänglich macht, ist neben ihren zuweilen liebenswürdig unvollkommenen, zuweilen eindrucksvollen Figuren der fast nachrichtlich sachliche Schreibstil der Journalistin Chen, den sie allerdings mühelos variiert mit magisch-realistischen Einschlägen. 

Die übernatürlichste Erzählung der Sammlung, New Fruit, erinnert stark an Gabriel García Márquez, ebenfalls gelernter Journalist, und seinen magischen Realismus, der sich ohne Weiteres an der kolumbianischen Atlantikküste verorten ließe. Eine Stadt wird in einem Jahr von einer neuartigen Frucht ‘beglückt’, die auf einmal in den Läden zu finden ist. Die Menschen sind begeistert:

“Diejenigen von uns, die die qiguo aßen, bemerkten, dass die Sonne warm auf unseren Gliedern brannte, und der Klang einer Fahrradklingel, die draußen bimmelte, erinnerte uns an die warme Luft, an die Frühlingsbrise, an die Möglichkeiten. Wir lächelten öfter, ließen unsere Blicke sich auf der Straße treffen. ‘Heute hatte ich eine, die so schmeckte, als hätte ich gerade einen guten Witz erzählt, und alle haben gelacht’, würde Lao Sui sagen. Mütter fütterten ihre Babys mit pürierten Fruchtstücken, und wir drängten uns um sie, um die Überraschung und das Staunen in ihren kleinen Gesichtern zu beobachten.”

Doch die Freude des Sommers verwandelt sich in Ekel, Angst und Schuldbewusstsein, als der Genuss der Qiguo mit der kommenden Ernte genau das Gegenteil bewirkt und die Menschen mit ihren Abneigungen, ihren Schattenseiten und Schuldgefühlen konfrontiert. Die Regierung wiederum lässt mit einer fast unsichtbaren Hand die Felder vernichten, auf denen die wundersame und zugleich beängstigende Frucht zuvor gedeihen durfte.

Die Qiguo ist nur eine von unzähligen Metaphern, verspielt oberflächlichen Anspielungen auf ein Regime, das in seiner totalen Kontrolle immer behutsam und so gut wie möglich im Hintergrund zu wirken versucht.

Mehrere Geschichten spielen in den USA und zeigen die persönlichen Verbindungen zwischen Ost und West auf. In Zeiten, wo China in den Nachrichten fast immer nur dann auftaucht, wenn die politische Führung weltbewegende Veränderungen ankündigt oder Nachbarländer durch Peking bedroht werden, erlaubt uns Chen kurze Einblicke in einen Alltag, wie er chinesischer nicht dargestellt werden kann.

Gleichzeitig besitzen die Handlungen und Charaktere oft eine Qualität von universaler Gültigkeit. Auch Lesende außerhalb von autoritären Regimen können sich mit den Handelnden identifizieren. Chens erster Vorstoß in die Welt der Literatur ist so erfrischend wie notwendig, gerade in diesen Zeiten. 

 

Land of Big Numbers. Von Te-Ping Chen. Mariner/Houghton Mifflin Harcourt; 256 Seiten; 9,39€ (E-Book) bzw. 16,50€ (Taschenbuch) – Amerikanisches Original

Ist es nicht schön hier. Von Te-Ping Chen, übersetzt aus dem Amerikanischen von Anke Carolin Burger; aufbau Verlag; 251 Seiten; 14,99€ (E-Book) bzw. 22€ (gebunden) – Deutsche Übersetzung

 

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Bildquelle via pixabay

 

Swaantje hat Lateinische Philologie, Germanistik, Griechische Philologie und Chinesisch als Fremdsprache in Kiel, Paris und Hangzhou studiert. Sie arbeitet zurzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und promoviert interdisziplinär in der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft und Altphilologie. Sie ist im Polis-Programm connectingAsia aktiv.

Lars hat Internationale Beziehungen und East Asian Studies in Erfurt und Groningen studiert. Er arbeitet derzeit beim Podcast-Radio detektor.fm in Leipzig und verfasst zusätzlich einen wöchentlichen Newsletter zur Region Ostasien auf ausblick.substack.com. Er ist im Polis-Programm connectingAsia aktiv.

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