Der „Chinesische Traum“ ist als das zentrale Ideologie-Programm von Xi Jinping bekannt. Doch der eigentliche Verfasser ist nicht Xi selbst, sondern ein außerhalb Chinas relativ unbekannter Politikstratege: Wang Huning. Wer ist der Mann, der als engster Vertrauter Xi Jinpings gilt und es vom Professor zum Chefideologen der KPCh schaffte?
Ein Portrait von Moritz Lohmann und Marius Kretzschmar
Von Shanghai nach Beijing – Aufstieg des Chefideologen
Wang Huning ist ein Spitzenfunktionär in den Bereichen Ideologie, Propaganda und Parteiorganisation der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Als Strategieberater für alle drei Parteichefs der letzten dreißig Jahre handelt es sich bei Wang um eine der dienstältesten Führungspersönlichkeiten der KPCh. Trotz seines hohen politischen Stellenwertes ist nur wenig über das Leben eines der mächtigsten Politiker innerhalb und außerhalb Chinas bekannt.
Wang meidet öffentliche Auftritte und trifft sich grundsätzlich nicht mit Vertretern ausländischer Regierungen oder Institutionen. Trotzdem ist er seit über zwei Jahrzehnten eine Schlüsselfigur der chinesischen Politik. Er studierte in seiner Heimatstadt Shanghai an der Elite-Universität Fudan, an der er später auch promovierte. Danach unternahm er eine Forschungsreise in die USA und veröffentlichte anschließend einen kurzen Reisebericht: „America against America“. In diesem Bericht kritisiert er scharf die amerikanische Gesellschaft, Demokratie, Kapitalismus und Kultur. Seit dem Sturm auf das Kapitol am 6.1.2021 ist das Buch in China deutlich populärer geworden und einige Exemplare wurden für über 2000€ verkauft.
Aufgrund seiner wissenschaftlichen Arbeiten als Dekan der Fudan Universität wurde Wang Anfang der 90er-Jahre durch Jiang Zemin, den ehemaligen Präsidenten Chinas, als Berater in die aktive Politik einbezogen. Unter seiner Leitung wurde Wang Mitglied der Shanghai-Bande, ein Patronage-Netzwerk des Präsidenten und wichtiges politisches Lager der KPCh für die aufstrebenden Küstenregionen. Durch die Unterstützung dieses Netzwerkes stieg er schnell zum Chefberater der Parteispitze auf. Internationale Medien wie The Guardian verliehen ihm aus diesem Grund den Spitznamen „China’s Kissinger“ oder „Chefstratege von Zhongnanhai“, dem machtpolitischen Zentrums Chinas.
Unter Jiang Zemin wurde er Leiter des Central Policy Research Office (CPRO) – ein staatlicher Think Tank, der Leitlinien und Strategien für die chinesische Außenpolitik entwirft. 2012 wurde Wang schließlich – für die KPCh ungewöhnlich – in das Politbüro gewählt. Fast alle Mitglieder des Politbüro haben entweder in Führungspositionen auf Provinz- oder Kommunalebene oder als Regierungschefs gedient, bevor sie in das Politbüro aufsteigen. Wang fällt mit seiner vorherigen Arbeit im CPRC aus diesem Schema heraus und gilt deshalb als Richtungswechsel in der traditionellen Aufstiegspolitik der KPCh. Besonders sein enges Verhältnis zu Xi Jinping wird auf diesen Aufstieg zurückgeführt, der sich 2017 deutlich zeigte, als er in das mächtigste Gremium Chinas, den ständigen Ausschuss des Politbüros (PBSC) erhoben wurde.
Wangs Einfluss und ideologische Ausrichtung
Wangs wirtschaftliche und politische Ideologie lässt sich von seinen Arbeiten und Aussagen ableiten. In seinen Veröffentlichungen vertritt er häufig die Theorie des „Neo-Autoritarismus„. Diese Theorie besagt, dass politische Stabilität für die wirtschaftliche Entwicklung von grundlegender Bedeutung ist und dass Demokratie und individuelle Rechte erst zu einem späteren Zeitpunkt zum Tragen kommen sollten, wenn die Zeit dafür reif ist.
Durch seine wichtige Position als Strategieberater von allen drei Parteichefs der letzten 30 Jahre: Jiang Zemin, Hu Jintao und Xi Jinping, gilt er schon lange als überaus einflussreicher Staatsmann. Dieser Einfluss lässt sich vor allem an seinem Mitwirken bei den theoretischen Leitlinien der “Dreifachen Representation” und der „Harmonischen Gesellschaft„ erkennen, welche die zentralen Leitprinzipien der KPCh vor der Ära Xi Jinpings waren. Unter Xi war er besonders für die Formulierung der ideologischen Strategie des “Chinesischen Traums” verantwortlich und beeinflusste den Präsidenten maßgeblich bei der Konzeption seines Buches: “Socialism with Chinese Characteristics for the New Era”, wie die Nachrichtenagentur Xinhua berichtet. Diese Ideen, welche die Partei sich selbst und ihren Bürgern regelmäßig zum Studieren verschreibt, bilden die zentralen Grundlage des heutigen Chinas.
Wang und die Sino-U.S. Beziehungen
Neben seiner Rolle in der Formulierung von vergangenen und gegenwärtigen Parteistrategien ist zu erkennen, dass Wang zwar keine direkte politische Macht ausübt, aber bei der Gestaltung der politischen Richtung des heutigen China erheblichen Einfluss genießt. Er ist somit mehr als ein bloßer Berater. Wangs lange Amtszeit, sein rascher Aufstieg in der Partei, bis in das Politbüro, und sein Beitrag zu grundlegenden politischen Ideologien wie des „Chinesischen Traums“ verdeutlichen seine ideologische Linie. Der rasche Aufstieg und die lange Amtszeit zeigen zudem seine Bedeutung bei der Bewältigung der gewaltigen konstitutiven und gesellschaftlichen Herausforderungen, denen sich die Xi-Regierung gegenübersieht.
Auch die ideologische Ausrichtung der Partei und der Umgang mit dem Westen ist eine der, wenn nicht die wichtigste zukünftige Herausforderung Chinas. Wang Huning ist nicht nur durch seine engen Beziehungen zu Xi Jinping und außenpolitische Expertise einer der entscheidenden Faktoren für die Beziehungen zum Westen. Der sogenannte chinesische Kissinger wird auch aufgrund seines langjährigens Wirkens an der Fudan-Universität und seinen Erfahrungen über U.S.-Politik häufig an vielen richtungsweisenden außenpolitischen Entscheidungen maßgeblich beteiligt. Der Stratege ist Xi’s Mann für den Blick gen Westen – deshalb sollten wir ihn nicht aus den Augen verlieren.
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Bildquelle via Marius Kretzschmar
Moritz arbeitet für die Senatskanzlei der Stadt Hamburg als Koordinator der Eventreihe CHINA TIME. Er studierte am Leiden University College in den Haag Human Diversity und schrieb seine BA über die soziologische und stadtgeographische Geschichte der Stadt Taipei, wozu er an der National Taiwan University als Gaststudent forschte. Bei Polis180 beschäftigt er sich mit Chinas innerparteilichen und außenpolitischen Themen, sowie Taiwan.
Marius studiert Politik und Wirtschaft an der Universität Potsdam. Er war Gaststudent an der University of International Business and Economics in Peking und arbeitete als Praktikant am Deutschen Institut Taipei für den Auswärtigen Dienst. Seine Interessens- und Forschungsschwerpunkte sind Geopolitik, Sicherheitsforschung in Asien und Digitalisierung. Bei Polis180 ist er Co-Leiter des Programms connectingAsia.