Wenn wir uns die Ergebnisse aktueller Wahlen anschauen, sehen wir vor unserem geistigen Auge wie Land und Kontinent in Menschen mit diametral entgegengesetzten Weltbildern zerfallen. Doch möglicherweise ist dieses Bild vielmehr eine Reflexion unseres eigenen Weltbildes als dem unserer Mitmenschen.
Ein Kommentar von Elmar Stracke
Die fragmentierte Gesellschaft
Ein möglicher Indikator der Polarisierung in Europa könnte der ungleich verteilte Erfolg von einerseits grün bewegten, sehr progressiven und andererseits rechtspopulistischen, sehr konservativen Parteien sein. Im Fall von Deutschland sind es die Grünen und die AfD als entsprechende Gegenentwürfe, die konträre Welt- und Gesellschaftsbilder symbolisieren und hinter sich vereinen: beispielsweise zu klimapolitischen oder gesellschaftspolitischen Fragen.
Wenn man weiß, dass immerhin 29 Prozent der Deutschen den Klimawandel für keine besondere Gefahr halten, 16 Prozent einen Schwangerschaftsabbruch als prinzipiell oder eher unzulässig halten und 18 Prozent die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren ablehnen, kann man schnell auf ein gewisses Wählerpotenzial rechtskonservativer Parteien schließen.
Manch einer würde folgern: ein Viertel der Deutschen ist tendenziell gesellschaftlich konservativ eingestellt, drei Viertel sind progressiv – unabhängig davon, welche der beiden Einstellungen man als gut oder schlecht betrachtet. Doch diese pauschale Rechnung ist vorschnell und gefährlich.
Vorschnelle Schlüsse
Schauen wir uns eine bekannte deutsche Partei an. 34 Prozent ihrer AnhängerInnen finden den Militärdienst wichtig. 32 Prozent denken, dass das ideale Familienbild aus Vater, Mutter und Kind(ern) besteht. 43 Prozent wollen nicht, dass der Islam Deutschland prägt.
Für 48 Prozent ist der Patriotismus ein positiver Wert, solange er nicht zum Nationalismus anwächst. 25 Prozent ist ihr ökologischer Fußabdruck egal. Haben Sie auch gerade die CDU oder AfD vor Augen? Es sind allerdings die Positionen der AnhängerInnen der Partei Bündnis 90/die Grünen (Focus 50/2018: 28-30).
Der Versuch aus der Parteiaffinität auf das Weltbild oder andersherum zu schließen ist nämlich ein schwieriges Unterfangen. In unserem Kopf sortieren wir Menschen schnell in gewisse Kategorien ein – zum Beispiel konservativ oder progressiv – und füllen das, was wir bisher nicht über sie wissen, mit typischen Haltungen auf, die zu dem gewählten Label passen.
Wir haben zwar noch nie gefragt, wie jemand zur Energiewende steht, aber anhand dessen, was er oder sie wählt und was er oder sie zu Migration denkt, muss es wohl folgerichtig das eine oder das andere sein. Dabei ist es möglich und auch alles andere als ungewöhnlich, dass jemand in der einen Frage „konservativ“, in der anderen Frage aber „progressiv“ ist – insbesondere in Lebensbereichen, die sehr lose miteinander verbunden sind.
Wenn wir also bei den o.g. Statistiken davon ausgehen, dass es wahrscheinlich dieselben Menschen sind, die den Klimawandel für irrelevant halten und den Schwangerschaftsabbruch sowie die gleichgeschlechtliche Ehe ablehnen, dann macht es uns das Leben vielleicht einfacher, entspricht aber nicht der Wahrheit.
Wunsch nach Eindeutigkeit und Homogenität
Thomas Bauer zeigte in seiner Studie zur Vereindeutigung der Welt, dass wir mit Mehrdeutigkeit und Inkohärenz immer schlechter umgehen können und sie im Zweifel einfach „wegdefinieren“, um klare Kategorien zu erzeugen. Auch zur Selbstvergewisserung ziehen wir eindeutige Grenzen zwischen uns und den anderen.
Nichts wäre erschütternder als wenn sie durchlässig wären und Individuen und Gruppen mal auf der einen, mal auf der anderen Seite stünden. Spätestens, wenn diese Grenzen in moralischen Kategorien gedacht werden, also in guten und bösen Positionen oder Entscheidungen, entsteht ein starker und vielleicht sogar notwendiger Hang zum Verabsolutieren.
Die Polarisierung an der Wahlurne spiegelt also nicht unbedingt polarisierte Weltbilder wider. 27 Prozent der Grünen-AnhängerInnen stimmen 58 Prozent der AfD-AnhängerInnen zu, dass es nicht mehr als zwei Geschlechter geben muss. Immer noch 50 Prozent der AfD-AnhängerInnen halten den Klimawandel für die größte Gefahr, aber nur 30 Prozent finden das Thema sehr wichtig.
Ähnlich in Europa: Ja, Ungarn hat mehrheitlich auch bei den Europawahlen Fidesz gewählt. Trotzdem halten dort mit rund zwei Dritteln prozentual ungefähr genauso viele Menschen den Klimawandel für eine große Bedrohung wie in Schweden oder den Niederlanden.
Trotz aller demonstrativen und teils nachgesagten Visegrad-Einigkeit sind 64 Prozent der TschechInnen für die gleichgeschlechtliche Ehe, aber nur 27 Prozent der Ungarn. Auch sind beispielsweise die Menschen in Kroatien MuslimInnen gegenüber so offen wie die BewohnerInnen der Schweiz oder Irlands.
Was nicht ist, kann noch werden
Mit anderen Worten: Menschen oder Bevölkerungen, die eine Partei unterstützen, sind keine wandelnden Parteiprogramme. Vielleicht resultierte die Wahlentscheidung nur aufgrund des einen, möglicherweise sogar lokal begrenzten, Themas.
Wir sind ambivalente und nicht immer kohärente Wesen. Auch wenn unsere Meinungen zu einer Frage weit auseinander liegen, ist die Schnittmenge in anderen politischen Fragen wahrscheinlich überraschend groß. Selbst bei gleichen Einstellungen kann schon die persönliche Gewichtung zu Wahlentscheidungen führen, aus denen dann völlig diametrale Weltbilder gelesen werden.
Wenngleich natürlich Parteipräferenzen wie Positionen zu manchen Themen durchaus mit anderen Positionen korrelieren und nicht im luftleeren Raum schweben, sollten wir vorsichtig sein, aus wenigen Anhaltspunkten einen Antagonismus herzustellen. Denn „durch neue politische Grenzziehungen wird der Boden für die Entstehung kollektiver Identitäten bereitet, deren Wesen den demokratischen Umgang mit ihnen erschwert“ (Mouffe 2007:97).
Wenn man Menschen als homogene Gruppen behandelt, läuft man Gefahr, dass sie zu solchen werden. Ob unsere europäische Gesellschaft die auf diesem Wege weiter verstärkte Polarisierung problemlos aushalten würde, darf bezweifelt werden.
Zum weiterführenden Lesen: „Lernen, mit Mehrdeutigkeit zu leben“ von Wolfgang Streitbörger am 30.12.2019 im Deutschlandfunk Kultur.
In unserer Blogreihe „Polarisierung“ werfen unsere Autor*innen einen Blick auf die Gesellschaft(en) Europas und erläutern die Frage, ob die zahlreichen Wahlen des Jahres 2019 auf eine zunehmende Polarisierung schließen lassen oder nicht.
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