Im Lichte des aktuellen Vormarschs von illiberalem Populismus in Europa verlieren die theoretischen Überlegungen über das Verhältnis von Populismus und Demokratie im Allgemeinen ihre Relevanz. Im Umfeld der europäischen liberalen Demokratien hat Populismus wegen seines immanenten illiberalen Charakters eine per se schädliche Auswirkung auf die demokratische Qualität. Parallel dazu verwirklicht Euroskeptizismus das Outsourcing populistischer Konfliktdichotomien von der nationalen Politikebene auf die europäische und ermöglicht dadurch das stabile Überleben von populistischen Akteuren in nationalen Regierungspositionen.
Ein Beitrag von Daniel Hegedüs
Während der letzten fünfzehn Jahre sind kaum, wenn überhaupt, Artikel im Bereich der Populismusforschung geboren worden, die nicht mit einer Reflexion der schwer definierbaren, wechselhaften Natur (mercurial nature) des Populismusphänomens anfangen. Unter dem Druck dieser Tautologie haben die besten Autoren weit überdurchschnittliche Mengen ihrer Bemühungen darauf verwendet, die wahre Natur des Populismus definiert (ob als Ideologie, Logik, Diskurs, Strategie, Stil, usw.) und seine kontextunabhängige Substanz identifizieren zu können.
In einem weiteren Kristallisierungspunkt der Populismusforschung nahmen die Autoren wiederkehrend das Verhältnis zwischen Demokratie und diesem oben erwähnten, im Allgemeinen und kontextunabhängig definierten Populismus unter die Lupe und kamen oft zur Konklusion, dass Populismus zwar per se als illiberal, aber wegen seines immanenten demokratischen Charakters (appeal to the people) und der im Populismus verankerten fundamentaldemokratischen Anforderung (the will of the people) nicht als per se antidemokratisch angesehen werden kann.
Diese, während der letzten Jahrzehnte konsequent gefolgten Leitsätze der Populismusforschung leiden aber unter zwei ebenso theoretischen wie praktischen Schwachstellen.
Demokratieprojekt Populismus?
Erstens kann die Behauptung, dass der im Allgemeinen definierte Populismus prinzipiell nicht gegen die nach minimalistischer wahldemokratischer Auffassung definierte Demokratie (electoral democracy) verstößt, als eine wichtige theoretische Konklusion angesehen werden, doch trägt das nichts zu den konkreten empirischen Untersuchungen und case studies bei. Ganz im Gegenteil: Eher überschattet es sie. Es gab zwar Anstrengungen, z.B. seitens Cas Mudde und Christóbal Rovira Kaltwasser, die Auswirkung des Populismus auf die Demokratie strukturiert und ‘kontextabhängig’ zu untersuchen, jedoch herrscht die allgemeine Auffassung, dass die zweifellos illiberalen und die unter die Lupe genommenen demokratischen Charakteristiken des Populismus getrennt diskutiert werden sollten.
In, nach der minimalistischen Auffassung (etwa nach Robert Dahls Polyarchie-Konzept) definierten, reinen Wahldemokratien muss Illiberalismus ja nicht zwangsläufig als antidemokratisch angesehen werden. Doch man findet in der Europäischen Union keine minimalistisch definierten Demokratien, sondern ausschließlich – den Kopenhagen Kriterien entsprechend – mehr oder weniger konsolidierte liberale Demokratien. Zumindest fand man keine, bis Ungarn 2010 den demokratischen Rückfallprozess Ostmitteleuropas eingeleitet hat.
Als theoretische Demokratiestandards sollten daher eher Modelle des liberal-demokratischen Ansatzes, wie die Embedded Democracy-Theorie von Wolfgang Merkel angewendet werden, wenn man die Auswirkungen des Populismus auf die Demokratie in Europa untersucht. Die minimalistischen Demokratietheorien leisten einen guten Dienst in der Transformationsforschung und im globalen Vergleich und können sogar effektiv in der Populismusforschung im lateinamerikanischem Kontext angewendet werden. Ihre Verwendung in einem europäischen Kontext ist aber eindeutig kontraproduktiv, da die real existierenden demokratischen Systeme in Europa viel ausgebreiteter und weiterentwickelter sind, als der theoretische Standard selbst.
Illiberalismus im Europäischen Kontext steht für Demokratieabbau
Der illiberale Charakter des Populismus muss also als eine klare und reale antidemokratische Herausforderung angesehen werden, weil die real existierenden Demokratien in Europa liberale Demokratien sind und aktuell auch nichts anderes sein können. Die Debatte über die „illiberale Demokratie“ (Fareed Zakaria, Merkel) gehört nicht zu unserem engeren Thema. Doch unabhängig davon, ob man illiberale Demokratie als eine verminderte Subkategorie der Demokratie oder als hybride Regime (also keine Demokratie) ansieht, muss man unter jeden Umständen eingestehen, dass illiberale Demokratie im Vergleich zur liberalen Demokratie einen demokratischen Rückfall bedeutet. Aus dieser Sicht kann der illiberale, den gesellschaftlichen Pluralismus und die liberalen Hürden der mehrheitlichen Willensbildung ablehnende Populismus auch nur als grundsätzlich schädlich für die Demokratie in Europa angesehen werden.
Demokratietheorie hat während der letzten Jahrzehnte maßgeblich sowohl die historische Entwicklung, als auch die real existierende Heterogenität demokratischer Regime, also in gewisser Weise die Kontextualität der Demokratie reflektiert. Auch die Populismusforschung sollte dieser Kontextualität mehr Aufmerksamkeit widmen, vor allem weil die Auswirkungen populistischer Politik auf die Demokratie nicht aus der theoretisch rekonstruierten, kontextunabhängigen Substanz des Populismus, sondern durch seine kontextabhängigen Manifestationen zu identifizieren ist.
‚Outgesourcter‘ Populismus
Die zweite Schwachstelle kann man darin erkennen, dass Populismusforschung zwar oft europaskeptische populistische Parteien unter die Lupe nimmt, dies aber aus nationalpolitischer Perspektive tut und so den Fakt unbeachtet lässt, dass es sich in der Europäischen Union um eine multi-level polity handelt. Auch diverse andere einschlägige Ergebnisse der Europeanization-Literatur werden vernachlässigt. Euroskeptizismus ist jedoch kein sekundärer Ergänzungsdiskurs von Populismus. Wenn es den Appell an das Volk oder an die Nation ebenso beinhaltet, kann Euroskeptizismus als ein Äquivalent von Populismus im Mehrebenensystem der europäischen Politik angesehen werden.
Man muss nicht Laclaus Populismustheorie, die behauptet, dass letztendlich alle antagonistischen „Wir“- und „Sie“-Dichotomien als populistischer Diskurs eingeordnet werden sollten, akzeptieren, um einzusehen, dass Euroskeptizismus Strukturen des populistischen Diskurses aufweist und so durch die Logik des populistischen Diskurses erklärt werden kann. Die Eliten, also „die da oben“ sind heutzutage – selbstverständlicherweise – nicht mehr nur in den nationalstaatlichen Strukturen verankert. Dementsprechend sollte Populismus auch nicht in dieser Weise verstanden werden. Wenn der Appell an das Volk oder an die Nation als konstitutives Element gegeben ist, spielt es keine entscheidende Rolle mehr, was für ein leerer Signifikant (empty signifier) dem gegenübergestellt wird: Die globale kapitalistische Weltverschwörung, die Europäische Kommission, muslimische Immigranten oder im Falle Lateinamerikas die Vereinigten Staaten. In allen diesen Fällen handelt es sich dann um Populismus.
Die wichtigste Konklusion dieser Erkenntnis ist, dass die Dichotomie des Populismus von dem Terrain der nationalen Politik in die europäischen föderativen Strukturen oder in den Bereich der internationalen Politik ausgegliedert, outgesourct werden kann. Die meisten Autoren teilen die Auffassung von Margaret Canovan, dass eine stabile und langfristige populistische Regierungspolitik eher unvorstellbar ist, da die Populisten in Macht- und Elitenpositionen nicht mehr mit dem Instrument der populistischen Mobilisierung erfolgreich leben können.
In Canovans Verständnis stammt Populismus aus der strukturellen Spannung zwischen der „Politik der Erlösung“ (redemptive politics) und der „Politik des Pragmatismus“ (pragmatic politics) und in dem kompromissorientierten prozessualen Alltagsgeschäft der pragmatischen Politik geht das Versprechen der weltlichen Erlösung durch Politik ganz schnell verloren. Doch die Gegenbeispiele, die unterstreichen, dass eine stabile populistische Regierungspolitik durchaus möglich ist, sind immer eindeutiger. Die Fälle Ungarn und Polen zeigen ganz eindeutig, dass die fundamentale Konfliktdichotomie des Populismus in die europäischen Strukturen outgesourct werden kann, was die Aufrechterhaltung populistischer Mobilisierung seitens Regierungsakteuren wie Fidesz oder PiS weiterhin ungestört ermöglicht.
Letztendlich ist diese outgesourcte Form von Populismus noch gefährlicher, da es nicht nur die liberalen demokratischen Strukturen im Lande aushöhlt, sondern durch den Aufbau der Europäischen Union ebenso das europäische Friedensprojekt untergräbt und verbreitet so aufgrund seiner innenpolitisch motivierten Handlungslogik Instabilität in den internationalen Beziehungen.
Der Beitrag stammt aus dem Programm EU und ist Teil der Populismus-Blogserie, für die sowohl Mitglieder von Polis180 als auch externe Experten Artikel verfassen. Im Zuge der Serie findet am 11. Januar 2017 eine Veranstaltung in Berlin statt.
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