Event Report
DIASPORA? – Diversität in der deutschen (Kultur-)Politik
Warum Vielfalt politisch ist
29. Oktober 2021, 18:30-19:30
mit Annette Kammerer, Journalistin, und
Serhan Şahin, Sozial- und Kulturwissenschaftler
Anlässlich der Veröffentlichung der vierten Folge unserer Serie DIASPORA?, in der wir mit der Journalistin Annette Kammerer über ihre russlanddeutsche Teilbiografie gesprochen haben, wollten wir nach der Bundestagswahl eine Diskussion zum Diversitäts- und Vielfaltsbegriff in der (Kultur-)Politik anregen. Unser Ziel war es, mit unserem Publikum eine differenzierte Diskussion zum Thema Vielfalt, diversitätsbezogene Politik und Parteipositionen in Deutschland zu führen und verschiedene Herangehensweisen zum Thema Diversität zu erkunden.
Dazu luden wir ein: Annette Kammerer, Journalistin, Angehörige der russlanddeutschen Minderheit in Deutschland, und Serhan Şahin, Kultur- und Sozialwissenschaftler, der zum Thema des soziokulturellen Wandels türkischer Einwanderer*innen nach 2015 promoviert und zwischen Istanbul und Berlin forscht.
Der Auftakt der Diskussion bildete das Interview mit Annette, die mit uns ihre Erfahrung als Teil der russlanddeutschen Minderheit in Deutschland teilte.
Dieser Abend zeigte ganz besonders, wie fruchtbar eine Diskussion werden kann, auch und ganz besonders wenn die Blickwinkel auf das Thema unterschiedlich sind.
Beide Gäste betonten die Notwendigkeit, kulturelle Vielfalt stets vor dem Hintergrund pluraler Identitäten zu denken. Trotz sehr unterschiedlicher Biografien fanden Annette und Serhan viele Gemeinsamkeiten in der Art und Weise, wie sie sich als Teil einer größeren Gesellschaft sehen. Gemeinsamer Nenner war eben diese vielseitige, vielschichtige Identität innerhalb derer Herkunftsort, sozioökonomische Verhältnisse, Kultur, Gender, sexuelle Orientierung und Identität, Religion usw. nur jeweils eine Teilrolle spielen in einem komplexeren und vielfältigeren persönlichen Identitätsaufbaus.
Die Wechselwirkungen zwischen Identität und Politik sind also vielschichtig. Sowohl Annette als auch Serhan betonten, dass Parteien natürlicherweise versuchen, sich einzelne „Identitäts-Komponenten“ herauszupicken und durch diese Wähler*innen zu mobilisieren. In der Praxis – so die Meinung der beiden – funktioniert das aber bereits heute schon nicht mehr. Annette erinnerte daran, dass die vermeintliche AfD-Nähe der Russlanddeutschen sich nicht in den tatsächlichen Wahlergebnissen zeige. Und Serhan wies darauf hin, dass Teile der deutsch-türkischen Wählerschaft in Deutschland DIE LINKE wähle – die eher kosmopolitische Einsichten vertritt – und in der Türkei die AKP – die eher nationalistische Narrative vertritt.
Die Vielfalt innerhalb von Gruppen mit einem ähnlichen Herkunftsland machte Serhan anhand einer soziokulturellen Analyse der „neuen Welle“ der türkischen Einwanderer*innen in Deutschland, die seit 2015 die Türkei verlassen, besonders deutlich: Jung, gut ausgebildet, häufig liberal gesinnt und religionslos, verstehen sie sich oftmals als transnationale Bürger*innen und unterscheiden sich sozial und kulturell maßgeblich von der Generation der Gastarbeiter*innen und deren Nachfahren. Eine Reduktion auf die vermeintliche Herkunft sei also in der Konzeption einer diversitätsbezogenen Politik irrelevant. Immer mehr junge Menschen mit Migrationsgeschichte verstehen sich als „transnational“ und nicht als Träger*innen eines national verankerten Narrativs. Für eine klassische Milieu-Bildung sind die meisten Minderheiten zu heterogen und haben zu viele innere Widersprüche – und das unabhängig von der Frage, ob sie sich als transnationale Gruppe identifizieren oder nicht. Vor diesem Hintergrund finden beide, dass identitätsbasierte Parteien, die in anderen Ländern aufgrund besonderer Merkmale wie Religion oder kultureller Gemeinschaften ihre Wähler*innenschaft binden, in Deutschland weder wahrscheinlich noch erstrebenswert wären.
Als Annette Kammerer davon sprach, dass ihre Migrationsgeschichte eine Art „Teilheimat“ für sie geschaffen habe, und dieser Begriff sich auch bei Serhan widerspiegelte, wurde den Teilnehmenden klar, inwiefern Menschen mit Migrationsgeschichte den Begriff der „Herkunft“ in anderen Kategorien denken als der Mainstream das tut. Mit klassischen „Heimats-Begriffen“ sind migrantische Biografien nicht zu beschreiben oder begreifen. Annette zum Beispiel ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, besuchte Russland erst als erwachsene Frau – dennoch spürt sie eine starke „Resonanz“ mit diesem Land, wo sie sich nicht ganz als Fremde fühlt. Serhan hingegen ist in der Türkei groß geworden und erst im Erwachsenenalter nach Deutschland gekommen – für ihn wiederum ist sein Heimatland ein fremder Ort geworden, da die dortige politische Entwicklung andere Aspekte seiner pluralen Identität radikal infrage stellt.
Doch was haben die Geschichten von Annette und Serhan mit dem Begriff “Diaspora” zu tun? Unsere beiden Gäst*innen waren sich unschlüssig, inwiefern sie diese Kategorie für sich beanspruchen würden. Fest steht jedoch, dass die Auseinandersetzung mit der Diaspora-Thematik uns neue Perspektiven auf die großen gesellschaftspolitischen Themen unserer Zeit bietet. Und dass sie unsere Denkräume öffnet – für plurale Identitäten und einen offenen Diskurs über Migration. Um es mit den Worten des indischen Philosophen Amartya Sen zu sagen:
“We have to make sure, above all, that our mind is not halved by a horizon.”
Die Serie DIASPORA? geht weiter mit der fünften Folge und der Protagonistin Dalia Grinfeld, die ihre Erfahrung als deutsch-jüdische junge Frau mit uns teilte und sich für die Sichtbarkeit der LGBTQI* Jüd*innen engagiert!
Das Projekt DIASPORA? wird von Polis180 durchgeführt und von der Berliner Landeszentrale für politische Bildung gefördert.