Seit einigen Jahren ist eine Polarisierung von Parteiensystemen zu beobachten. Ein möglicher Grund für die Abgrenzung der Parteien voneinander ist die soziale Isolation der Wählenden in ihren gesellschaftlichen Gruppen. Für eine zusammenhaltende Gesellschaft müssen deshalb Anreize zum Austausch in der Bevölkerung und Räume für Kooperation gestärkt werden.
Ein Kommentar von Jan Osenberg
Stämme statt Parteien
Mit dem weltweiten Erfolg populistischer Parteien haben sich die Fronten zwischen den etablierten und populistischen Parteien verhärtet, weshalb von einer politischen Polarisierung gesprochen wird. Dabei verwenden beide Seiten rhetorische Angriffe auf den Gegenpart und politische Positionen werden in Abgrenzung zum Gegenüber gewählt (Schmitt 2018). Auch ideologische Positionen werden in Abgrenzung von anderen Parteien gewählt.
Neben der politischen Polarisierung wird regelmäßig von einer Polarisierung der Gesellschaft gesprochen. Genannt werden die Polarisierung zwischen der Land- und der Stadtbevölkerung, die Polarisierung zwischen arm und reich, gebildet und ungebildet, Traditionellen und Kosmopoliten. Jede dieser Gruppen scheint in den jeweils anderen einen Gegner zu sehen. Folglich gibt es nicht eine Dimension der Polarisierung, sondern viele verschiedene.
Was das zunächst zeigt, ist die starke Identifikation mit der eigenen Gruppe. Dabei gewinnen bestimmte Merkmale so stark an Bedeutung für die eigene Identität, dass der Gegenpol als Feind wahrgenommen wird. Besonders im angelsächsischen Raum wird dieses Mindset wegen seiner Ähnlichkeiten zu traditionellen Stammesgesellschaften, wie zum Beispiel die Stämme indigener Völker in Amerika, gerne mit „Tribalism“ (von eng. tribe: Stamm) verglichen.
Die frühen Stämme waren gekennzeichnet durch strenge Regeln und Normen innerhalb des Stamms. Dazu gehörten Riten und eine strenge Rollenverteilung. In der Regel war der Zusammenhalt innerhalb des Stamms äußerst stark. Mitglieder fremder Stämme wurden dagegen verachtet, Überläufer und ÜberläuferInnen mit Folter und dem Tod bestraft. Gleichzeitig stifteten Stämme Sinn und Bedeutung.
Während der Besiedlung Amerikas sollen deshalb regelmäßig Siedler*innen zu indigenen Völkern übergewandert und nicht zurückgekehrt zu sein. Eine Migration in die andere Richtung fand nicht statt. Solche Schritte gelten als Anzeichen dafür, dass moderne Gesellschaften ihren Mitgliedern kein Zugehörigkeitsgefühl mehr vermitteln.
Entscheidend für die Zugehörigkeit zu einem der gesellschaftlichen Pole heute sind handfeste Unterschiede wie das Einkommen, der Bildungsstand oder der Wohnort. Sie alle haben wichtige Auswirkungen auf den Lebensstil. Dazu kommt eine Kulturalisierung des Lebensstils, wie Andreas Reckwitz sagen würde. Der Lebensstil wird zum Identifikations- und Abgrenzungskriterium (Reckwitz 2017).
Die Verhärtung der Grenzen zwischen unterschiedlichen Gruppen ist ein alltägliches Phänomen: Stell dir vor, ein Autoverkäufer in den 50ern trifft in den Öffentlichen in Berlin auf eine junge Politikstudentin. Sie leben nach den gleichen Regeln, benutzen die gleichen Verkehrsmittel leben im selben Viertel. Die Lebenswelten der beiden haben nur wenig gemeinsam. Leben beide ein typisches Leben, haben sie unterschiedliche Freizeitaktivitäten, interessieren sich für unterschiedliche Themen und konsumieren unterschiedliche Informationen. Soziale Kontakte stammen aus dem jeweiligen Umfeld, weshalb sie sich nicht überschneiden.
Ihre Wahrnehmung sowie ihre Sprache und Rhetorik basiert auf ihrem gruppenbezogenen Weltverständnis. Obwohl sie in derselben Welt leben, liegen ihre Interpretationen womöglich diametral auseinander.
Was der Autoverkäufer sagt, ist für die Studentin erstens unverständlich und zweitens nicht relevant. Beide Gruppen entfalten so selbstverstärkende Eigendynamiken und grenzen sich voneinander ab. Abhängig davon entwickeln sich Normen und Moralverständnisse. Sprache und Verhalten sind Erkennungsmerkmal und Zugangskriterium. Daraus hat sich eine Distanz zwischen ihnen entwickelt, die selten überbrückt wird. Das hinterlässt Gefühle der sozialen Isolation in einer individualisierten Gesellschaft, in der Statusunterschiede dominieren und Solidarität weit entfernt scheint (Goldberg 2018).
Gesellschaftliche und politische Polarisierung
Zentral ist, dass die gesellschaftliche Polarisierung nicht mit der politischen Polarisierung gleichzusetzen ist. Nicht jede*r, der arm und ungebildet ist und auf dem Land lebt, wählt die AFD. Ganz im Gegenteil. Die Wählenden der AFD stammen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen.
Bezeichnend für Wählende der AFD sind primär rechte politische Einstellungen, insbesondere zur gesellschaftlichen und kulturellen Gestaltung. Weil man denen, solange sie nicht verfassungsfeindlich sind, in einer Demokratie mit Meinungsfreiheit nicht entgegenwirken sollte, rückt die Frage ins Zentrum, wie der AFD die Mobilisierung ihrer Wählenden gelingt (Lengfeld 2017).
Hierfür sind Wut gegenüber dem Staat und Angst vor der gesellschaftlichen Entwicklung die wichtigsten Faktoren, die von der AFD ausgenutzt werden (Hoffmann, de Vries 2016). Die Unzufriedenheit bezieht sich nicht nur auf Migration, sondern auch auf ökonomische Ungleichheit, die Gehälter von Manager*innen, Steuerparadiese, Steuervermeidung durch Digitalkonzerne, systemgefährdende Bankgeschäfte oder die mangelhafte Bezahlung von Erzieher*innen oder Krankenpfleger*innen.
Wut auf das politische System trifft also auf den Wunsch nach mehr Zugehörigkeit und Gemeinsamkeiten. Populistische Parteien kanalisieren das in der Ablehnung politischer Eliten und der Forderung nach der Einheit der Nation. An die Stelle einer Gesellschaft der Massen tritt eine Gesellschaft, die unter einer gemeinsamen Nation geeint ist. Sie wird angeführt von einem charismatischen Führer, dessen ideologische Position zweitrangig ist.
Bei der gesellschaftlichen und der politischen Polarisierung handelt es sich also um zwei unterschiedliche Prozesse, die sich gegenseitig begünstigen. Klar ist, dass die gesellschaftliche Polarisierung die politische Polarisierung begünstigt. Die Auswirkungen der politischen Polarisierung sind weniger eindeutig. Auf der einen Seite verstärkt sie Grabenkämpfe und erschwert so die politische Entscheidungsfindung. Auf der anderen Seite kann zunehmende Konkurrenz zwischen Parteien den ideologischen Wettstreit zugunsten fortschrittlicher Lösungen und Ideen befruchten.
Orte für Dialog schaffen
Es müssen also neue Grundlagen für Solidarität, Kooperation und gesellschaftlichen Zusammenhalt geschaffen werden. Stell dir das Potenzial für gesellschaftliche Entwicklung vor, wenn alle möglichen unterschiedlichen Menschen in konstruktivem Austausch wären. Andere Zukunftsentwürfe werden entwickelt und Vielfalt würde uns ständig unterhalten. Im Zuge dessen würde der soziale Zusammenhalt gestärkt.
Aus dem oben dargestellten leite ich drei Politikvorschläge ab: Erstens, es müssen mehr Orte des Zusammentreffens für unterschiedliche Menschen geschaffen werden. Dazu zählen zum Beispiel große öffentliche Veranstaltungen wie Fußball-Meisterschaften und Festivals mit vielfältigem Programm. Diese Funktionen erfüllen auch Vereine und freiwillige Organisationen vom Kegelverein bis zur Wohltätigkeitsorganisation (Tocqueville 1840). Die Zivilgesellschaft sollte also gestärkt werden.
Selbstverständlich müssen die Orte des Zusammentreffens allen zugänglich sein. Das erfordert den Ausbau entsprechender Infrastruktur. Zweitens müssen Anreize zur Zusammenarbeit zwischen Gruppen entstehen. Erfolgreiche Anreize für Kooperation sind zum Beispiel gruppenübergreifende politische Forderungen gegen den Klimawandel oder zweckgebundene Aktionen wie generationenübergreifendes Wohnen (Mouffe 2018).
Drittens sollte Respekt gegenüber jeglichen Lebensformen, ohne ausgrenzend zu werden, an oberster Stelle stehen. In entsprechenden öffentlichen Angeboten sollten dafür Kompetenzen für die notwendigen Übersetzungsleistungen vermittelt werden. Essenzieller Bestandteil ist die Fähigkeit zuzuhören und zu versuchen, die Motive und Handlungen anderer Menschen zu verstehen und zu respektieren.
Während der Corona-Krise ist es besonders wichtig, Orte des sozialen Austauschs beizubehalten. Im Moment beschränkt sich der Kontakt zur Außenwelt auf das enge persönliche Umfeld, das in der Regel aus der gleichen sozialen Gruppe stammt und das Internet, das durch Filterblasen äußerst homogen erscheint. Das droht, die Fragmentierung der Gesellschaft zu unterstützen.
In unserer Blogreihe „Polarisierung“ werfen unsere Autor*innen einen Blick auf die Gesellschaft(en) Europas und erläutern die Frage, ob die zahlreichen Wahlen des Jahres 2019 auf eine zunehmende Polarisierung schließen lassen oder nicht.
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Jan ist im Vorstand von Polis180 für die Publikationen und die Koordination der Programme zuständig. Er koordiniert bei Pulse of Europe das Projekt “HausParlamente”. Seit langer Zeit möchte er sich stärker im Programm Klima und Energie engagieren. An oberster Stelle steht für ihn Europapolitik.