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18. Februar 2025

Zwischen Abschottung und Solidarität – Eine progressive Perspektive auf die Positionen der Kanzlerkandidat*innen zum Thema Flucht und Migration

Migration ist das bestimmende Thema im Bundestagswahlkampf – doch bieten die Kanzlerkandidat*innen echte Lösungen? Diese Analyse nimmt die Positionen der Kandidat*innen aus progressiver Perspektive unter die Lupe und zeigt, dass Abschottung und rechte Narrative die Debatte dominieren.

Ein Beitrag von Kathrin Liebhäuser und Enrico Brehm

Migration – ein Thema, das in den Bundestagsdebatten und auf Stammtischen gleichermaßen hitzig diskutiert wird. Trotz eines Rückgangs der Zuwanderung hat sich Migration als eines der zentralen Themen im aktuellen Wahlkampf etabliert. Doch der Diskurs ist alles andere als sachlich. Er ist von politischem Kalkül, ideologischen Fronten und einer erschreckend verzerrten Wahrnehmung der Realität geprägt. Dabei scheinen die Fakten immer öfter irrelevant und komplexe Zusammenhänge werden auf einfache Narrative reduziert, die falsche Schwarz/Weiß-Bilder zeichnen. Der Wendepunkt: Nicht nur Merz’ brisanter Tabubruch im Januar, als im Bundestag Mehrheiten der AfD für einen Entschließungsantrags in Kauf genommen wurden, sondern auch die Zustimmung zur GEAS-Reform machen eines deutlich: Der universelle Anspruch der Menschenrechte wird zunehmend zur Randnotiz – auch für die Mitte der politischen Landschaft.

Seitens mancher Kanzlerkandidat*innen überschlagen sich die Forderungen nach noch mehr Abschottung, noch mehr Repressionen, noch mehr Ausgrenzung und Entrechtung wie beispielsweise eingeschränkte Sozialleistungen weit unter dem für Deutschland festgelegten Existenzminimum. Demgegenüber plädieren andere für eine offene Gesellschaft und die Chance, den Wandel positiv zu gestalten und erinnern dabei immer wieder, dass es Migration schon immer gegeben hat und immer geben wird. Veränderung wird nicht als Bedrohung, sondern als Grundvoraussetzung des menschlichen Zusammenlebens betrachtet, mit dem Ziel die Chancen und Bedingungen für alle zu verbessern (progressiv), wohingegen andere für die Verteidigung oder den Ausbau ihrer bestehende Privilegien teilweise hinter erreichte Standards für die Allgemeinheit zurückfallen wollen (konservativ).

Zwangsläufig steht die Menschheit enormen Krisen gegenüber: Klimakrise, Biodiversitätskrise, globale Ungleichheit, Ausbeutung und eskalierende Kriege. Diese Krisen sind die Wurzeln für immer weitere Flucht- und Migrationsgründe. Doch globale Krisen lassen sich nicht durch Abschottung und Egozentrismus, sondern vielmehr durch Zusammenhalt, Solidarität und positive Visionen lösen. Deshalb lohnt es sich, die Positionen der derzeitigen Kanzlerkandidat*innen Olaf Scholz (SPD), Robert Habeck (Bündnis90/Die Grünen), Friedrich Merz (CDU), Alice Weidel (AfD) und Sahra Wagenknecht (BSW) aus einer progressiven Perspektive kritisch zu beleuchten.

Olaf Scholz – Pragmatismus statt Progression

Olaf Scholz und die SPD stehen traditionell für eine Balance zwischen sozialer Gerechtigkeit und staatlicher Ordnungspolitik. Obwohl Scholz oft eine technokratische Haltung einnimmt, wurde seine Position spätestens seit dem medienwirksamen „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“-Interview im SPIEGEL deutlich. Trotz der selbst-proklamierten Fortschritts-Regierung hat die Ampel unter seiner Führung die am weitesten reichenden Asylrechtsverschärfungen seit Jahrzehnten beschlossen (für weitere Infos siehe Amnesty International 2024). Zwar wurde unter ihm das Chancen-Aufenthaltsrecht und das erweiterte Fachkräfteeinwanderungsgesetz durchgesetzt, doch gleichzeitig stimmte die Regierung der von Menschenrechtsorganisationen und Expert*innen kritisierten Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) zu, verabschiedete das Rückführungsgesetz und führte innereuropäische Grenzkontrollen ein.

Diese restriktive Haltung gegenüber Geflüchteten wird oft mit sozialen Spannungen begründet, wobei Scholz immer wieder betont, dass „Ordnung“ und „Integration“ Hand in Hand gehen müssten. Dieser Ansatz bedient jedoch – wenn auch ungewollt – rechte Narrative, die Migration als Belastung für den Sozialstaat und als Sicherheitsproblem darstellen und befeuert Positionen der extremen Rechten, wie selbst parteiintern kritisiert wird. Scholz’ Priorisierung von „Stabilität“ über Menschenrechte lassen wenig Hoffnung auf eine grundlegende progressive Wende in der deutschen Asylpolitik unter seiner Führung.

Robert Habeck – Balanceakt mit Bauchschmerzen

Robert Habeck und Bündnis 90/Die Grünen stehen laut Wahlprogramm für eine menschenrechtsorientierte Migrationspolitik. Sie betonen oft, dass Migration als Chance gesehen werden sollte, statt sie nur als Problem zu behandeln. Habeck spricht regelmäßig von der moralischen Pflicht, Geflüchteten Schutz zu bieten, und setzt sich für eine Reform des europäischen Asylsystems ein. Das Konzept der “sicheren Fluchtwege”, wie die Grünen es fordern, könnte tatsächlich Leben retten und zeigt einen klaren humanitären Ansatz. Auch das Werben für kommunale Aufnahmeprogramme und die Unterstützung von Seenotrettungsorganisationen sind wichtige Schritte, um Solidarität auf lokaler Ebene zu stärken.

Doch bei aller Rhetorik bleibt die Frage: Wie viel Substanz steckt hinter den Vorschlägen? Die Grünen treten im Vergleich zwar für eine progressivere Migrationspolitik ein, jedoch scheinen sie oft den politischen Mut zu scheuen, eine offensive, progressive Kraft gegen die restriktive Politik und deren Gesetzesverschärfungen zu sein und diese konsequent durchzusetzen. Die Zustimmung der Bundesregierung zur Reform des GEAS, die Verteidigung dieser durch Robert Habeck und nicht zuletzt der gescheiterte Versuch, Kinder und Frauen aus europäischen Grenzverfahren herauszunehmen, stehen beispielhaft dafür. Besonders problematisch ist, dass die Grünen ihre eigene Mitverantwortung für diese Politik nicht konsequent reflektieren. Stattdessen bedienen sie sich sinngemäßen Formulierungen wie abschieben mit Bauchschmerzen – eine rhetorische Distanzierung, die zwar moralisches Unbehagen suggeriert, aber an der Umsetzung harter Maßnahmen nichts ändert. Habecks Linie birgt daher die Gefahr, dass Kompromisse letztendlich auf Kosten humanitärer Standards und zum Schaden von Geflüchteten und anderer Eingewanderter eingegangen werden.

Friedrich Merz – der Hardliner-Kurs

Friedrich Merz steht für eine äußerst restriktive Migrationspolitik, die etwa durch die Forderung nach generellen Abweisung an deutschen Außengrenzen zumindest in Teilen  europarechtswidrig ist. Unter seiner Führung hat die CDU ihre Entwicklung nach rechts deutlich intensiviert und bedient verstärkt Rhetoriken von Abschottung und Belastungsgrenzen. Merz’ Forderung nach einer Verschärfung des Asylrechts, mehr Grenzkontrollen und Zurückweisungen an den Grenzen sowie einem Ende der sogenannten „Pull-Faktoren“ zeigen eine völlige Abkehr von humanitären Prinzipien und bedeuten das Ende des Asylrechts (für weitere Infos siehe u.a. Rath 2025, Amnesty International 2025, DeZiM 2024). Seine Aussagen etwa zu “Zahnarztterminen von Geflüchteten” und “kleine Paschas” bedienen nicht nur populistische Narrative, sondern fördern eine Stimmung der Angst und des Misstrauens. Ein Dammbruch in der politischen Kultur in Deutschland war die Bundestags-Abstimmung im Januar, bei der die CDU einen Entschließungsantrag zur Verschärfung der Migrationspolitik einbrachte, welcher mit Unterstützung der AfD und FDP angenommen wurde. Dieser Tabubruch markierte nicht nur einen Wortbruch von Friedrich Merz, der zuvor jegliche Zusammenarbeit mit der AfD ausgeschlossen hatte, sondern auch eine besorgniserregende Normalisierung der extremen Rechten. Damit wurde eine Grenze überschritten, die den demokratischen Konsens – keine Zusammenarbeit mit der AfD – untergräbt. Denn wer die Brandmauer zur extremen Rechten einreißt, öffnet langfristig Tür und Tor für deren Ideologie – und gefährdet damit nicht nur die Rechte von Geflüchteten, sondern die demokratische Grundordnung insgesamt.

Merz’ Haltung stellt ein Symptom einer breiteren politischen Krise dar: Statt solidarischer Lösungen propagiert er eine Politik kurzfristiger Scheinlösungen und der Abschreckung, die die Rechte von Geflüchteten nicht nur praktisch, sondern auch systematisch untergräbt. Seine Politik spricht jene an, die einfache Antworten auf komplexe Fragen suchen – auf Kosten der Schwächsten in unserer Gesellschaft.

Alice Weidel – rassistische Ausgrenzungspolitik und demokratiegefährdender Nationalismus

Alice Weidel und die AfD vertreten rechtsextreme Positionen in der deutschen Migrationsdebatte. Ihre Politik ist geprägt von einem völkischen Nationalismus, der Migration grundsätzlich als Bedrohung für die deutsche Gesellschaft darstellt. Weidel spricht offen von „Remigration“ – ein “rechtsextremer Kampfbegriff für die massenhafte Abschiebung von Nicht-Deutschstämmigen“, die unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus verstanden wird, so der Rechtsextremismusforscher Prof. Matthias Quent (für eine weitere Begriffseinordnung siehe hier). Ihre Partei fordert eine vollständige Abschottung der deutschen Grenzen, die faktische Abschaffung des individuellen Asylrechts und eine restriktive Auslegung des Staatsbürgerschaftsrechts, um Einbürgerungen weitgehend zu verhindern.

Die AfD setzt bewusst auf Angstszenarien, um rassistische und fremdenfeindliche Stimmungen zu schüren. Ihre Rhetorik hat dabei längst den Boden der demokratischen Grundordnung verlassen: Die Partei verbreitet Verschwörungserzählungen über einen angeblichen „Bevölkerungsaustausch“ und kriminalisiert Migrant*innen pauschal. Weidels Politik stellt nicht nur eine Gefahr für die Rechte von Geflüchteten und Migrant*innen dar, sondern für die Demokratie insgesamt, indem sie die Grundlagen einer offenen, pluralistischen Gesellschaft systematisch untergräbt.

Sahra Wagenknecht – Sozialpopulismus auf Kosten von Migrant*innen

Während sich Sahra Wagenknecht als Vertreterin sozialer Gerechtigkeit inszeniert, bedient sie zugleich populistische und migrationskritische Narrative. Wagenknecht kritisiert eine „unkontrollierte Zuwanderung“ und setzt sich für eine restriktivere Asylpolitik ein, die sich an wirtschaftlicher Nützlichkeit orientiert – ein Paradigmenwechsel weg von einer humanitären Schutzlogik. Ihr Fokus auf „Integration vor neuer Zuwanderung“ (BSW-Positionen 2024) sowie ihre scharfe Kritik an „Parallelgesellschaften“ klingen mehr nach rechter Abschottungspolitik als nach linker Solidarität.

Diese Rhetorik ist gefährlich: Sie verstärkt gesellschaftliche Spaltungen und bietet eine vermeintlich sozial gerechte Alternative für migrationskritische Wähler*innen an, während sie Geflüchtete und Migrant*innen als Konkurrenz für deutsche Arbeiter*innen darstellt. Ihr sozialpopulistischer Kurs untergräbt damit nicht nur internationale Menschenrechtsstandards, sondern auch die Prinzipien einer offenen und vielfältigen Gesellschaft. Folglich unterscheidet sich ihre migrationspolitische Linie stark von klassischen linken Positionen.

Eine progressive Perspektive: Vision statt Verwaltung

Doch was macht eine progressive Migrationspolitik eigentlich aus? Um auf die einleitende Erklärung von progressiv zurückzukommen bedeutet dies übersetzt im Minimum: die Einhaltung der universellen Menschenrechte wie etwa das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit (Artikel 3), das Recht auf Asyl (Artikel 14) des deutschen Grundgesetzes und die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention. Ziel ist zudem die gesellschaftliche Teilhabe von Migrant*innen für die Vision einer offenen und vielfältigen Gesellschaft.

Eine konservative Flucht- und Migrationspolitik bedeutet nach gängigen Definitionen des Konservatismus-Begriffs zumindest eine Erhaltung des Status-quos. Nicht zuletzt seit Forderungen einzelner Unionspolitiker*innen, allen voran Friedrich Merz, mit der Forderung nach einem generellen Aufnahmestopp Geflüchteter aus Syrien und Afghanistan scheint selbst die Einordnung als konservativ zu optimistisch, da solche Forderungen eher nationalistische Tendenzen aufweisen.

Aus progressiver Sicht wird klar: Keine der genannten Kandidat*innen bietet langfristig eine ausreichende Antwort auf die Migrationsfrage und auf die demographischen Herausforderungen samt Arbeitskräftemangel in Deutschland. Während Habeck zumindest rhetorische Schritte in eine progressive Richtung wagt, bleibt Scholz defensiv, während sich Merz, Wagenknecht und Weidel klar migrationsfeindlich zeigen. Eine wirklich progressive Migrationspolitik, die auf humanitären Prinzipien basiert, erfordert Prinzipientreue und eine klare Absage an nationalistische Narrative. Eine solche Politik, wie die Autor*innen dieses Textes sie verstehen, sollte Migration in ihrer vollen Komplexität anerkennen, über den nationalen Tellerrand hinausblicken, langfristige Lösungen im Einklang mit internationalem und europäischem Recht aufzeigen und die internationale Solidarität stärken.

Doch weder Olaf Scholz noch Robert Habeck, Friedrich Merz oder Sahra Wagenknecht – von Alice Weidel ganz zu schweigen – bieten derzeit die notwendigen Veränderungen, um allen Menschen ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Stattdessen wirken sie getrieben von einer Opposition, die konservative, migrationsfeindliche und teils offen rassistische Narrative bedient. Nicht nur auf Kosten von Schutzsuchenden, dem Ansehen Deutschlands und seinen proklamierten Werten, sondern auch auf Kosten des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Enrico Brehm ist promovierter Physiker und koordiniert Forschungsprojekte im Bereich Quantentechnologien.

Kathrin Liebhäuser studiert Internationale Beziehungen und Nachhaltige Entwicklung an der KU Eichstätt-Ingolstadt. In Malmö studierte sie International Migration and Ethnic Relations. Beide leiten gemeinsam den Programmbereich Migration.

Bildquelle via Unsplash.

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