Polisblog
16. Juli 2024

Einwanderung, Flucht und Demografie: Wie Weltoffenheit die wirtschaftliche Vitalität befeuert

Im komplexen Geflecht globaler Angelegenheiten ist Migration zu einem Dreh- und Angelpunkt geworden, an dem sich ethische Überlegungen und wirtschaftliche Zwänge begegnen. In diesem Beitrag möchte ich zwei entscheidende Aspekte beleuchten: die Kriminalisierung von Flucht und Einwanderung sowie die drängenden wirtschaftlichen Herausforderungen in den Zielländern, die sich vor allem aufgrund der Demographie ergeben. Vor dem Hintergrund der deutschen, aber auch vieler anderer westlicher Gesellschaften soll dieser Beitrag helfen, aufzuzeigen, dass Einwanderung sowohl ethisch als auch wirtschaftlich nicht nur tragfähig, sondern notwendig ist.

 

von Enrico Brehm

 

 

Humanitärer Rahmen

Eine humanitäre Perspektive ist unerlässlich, wenn wir Flucht und Einwanderung thematisieren. Betrachten wir etwa die von Strapazen geprägten Routen von Asylsuchenden, die vor Konflikten und Verfolgung fliehen, nur um mit Politiken und gesellschaftlichen Klimata konfrontiert zu werden, die ihre Suche nach Sicherheit kriminalisieren. Flüchtlingslager, Familientrennungen und eine allgegenwärtige Atmosphäre des Misstrauens gegenüber den Geflüchteten tragen zur Erosion grundlegender Menschenrechte bei. Ein weit bekanntes, aber sicher nicht einziges Beispiel für die menschenunwürdige Behandlung Geflüchteter waren und sind die Zustände im Flüchtlingslager Moria (siehe etwa hier und hier). Solche Maßnahmen widersprechen nicht nur den Prinzipien der Mitmenschlichkeit, sondern haben auch tiefgreifende Konsequenzen für einzelne Geflüchtete und schlussendlich für die ganze Gesellschaft.

Wenn Kriminalisierung zur Linse wird, durch die die Gesellschaft Eingewanderte und speziell Geflüchtete betrachtet, führt dies fast unweigerlich zu einem sich selbst verstärkenden Prozess, der für Immigrierte aber eben auch für die Zielländer negative Konsequenzen hat. Stigmatisierung, genährt von entsprechender Rhetorik in Politik und Medien, die Eingewanderte als potenzielle Bedrohungen darstellen, fördert auch nach ihrer Ankunft die gegenseitige Abgrenzung von Immigrierten und der restlichen Gesellschaft. Diese Abgrenzung, verbunden mit einem Mangel an Integrationsmöglichkeiten, wird zu einem Nährboden für Verarmung (siehe etwa hier speziell Kapitel IV Abschnitt „Migration und soziale Ausgrenzung“). Viele Eingewanderte finden sich dann in Randgebieten der Gesellschaft wieder, mit erschwertem Zugang zu Bildung, Beschäftigung und sozialen Diensten (siehe zB hier).

 

Konsequenzen für Geflüchtete

Die Konsequenzen für einzelne Eingewanderte können drastisch sein. Familien werden auseinandergerissen, Träume zerplatzen und Individuen sehen sich mit dem Trauma einer gefährlichen Reise konfrontiert, welches durch die feindselige Umgebung, die sie vorfinden, noch verstärkt wird. Das Versprechen von Zuflucht verwandelt sich in einen Überlebenskampf in einer Atmosphäre, in der Kriminalisierungsnarrative die Anerkennung der gemeinsamen Menschlichkeit überlagern.

Die Stigmatisierung schafft einen sich selbst verstärkenden Kreislauf der Ausgrenzung, der es ihnen erschwert, sich aus prekären Verhältnissen zu befreien. Die Möglichkeit einer vollen Integration in das soziale Gefüge der Mehrheitsgesellschaft wird verweigert, und Eingewanderte finden sich oft in marginalisierten Gemeinschaften wieder, in denen wirtschaftliche Chancen knapp sind und soziale Teilhabe eine ferne Hoffnung bleibt. Genau dann kann es passieren, dass die Kriminalisierung zu einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung wird, sodass Stigmatisierung, Ausgrenzung, Diskriminierung, fehlende Integration und die damit verbundene Verarmung kaum andere Alternativen als den Weg in die Kriminalität zulässt. Sowohl für Eingewanderte als auch für die Gesellschaft, in die sie migrieren, ist es deshalb von größtem Interesse dieser Negativspirale von Beginn an entgegenzuwirken, indem wir Politiken und Narrative der Kriminalisierung von Eingewanderten und Geflüchteten abschaffen und verhindern.

 

Das demografische Argument

Letzteres gilt insbesondere, wenn wir realisieren, dass viele westliche Gesellschaften mit einer demografischen Realität konfrontiert sind, die pragmatische Lösungen erfordert. Die alternde Bevölkerung und rückläufige Geburtenraten verändern die Struktur der arbeitsfähigen Bevölkerung und stellen eine gewaltige Herausforderung für den Erhalt des wirtschaftlichen Status Quo und noch mehr für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum dar. Die gesellschaftliche Notwendigkeit der Einwanderung wird besonders deutlich, wenn wir “die Altenrepublik” Deutschland betrachten. Selbst bei konservativer Betrachtung liegt der Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften hier bei mindestens 400-500 Tausend jährlich (siehe auch hier). Diese Zahl an Menschen in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren wird in den kommenden Jahren bis in die 2060er Jahre notwendig sein, um die Lücke zu schließen, die insbesondere die ausscheidende Babyboomer-Generation hinterlässt.

Deutschland, wie viele westliche Nationen, steht also aufgrund der demografischen Entwicklung vor einer gesellschaftlichen Herausforderung, die einen kontinuierlichen Zustrom von Eingewanderten im Grunde zur Notwendigkeit macht. Wichtig ist hier, dass es nicht nur um die Einwanderung basierend auf Qualifikationen geht. Der steigende Bedarf an Arbeitskräften auf jeder Qualifikationsebene wird von Tag zu Tag offensichtlicher. Natürlich benötigt Deutschland hochspezialisierte Fachkräfte, etwa in Technologie und Gesundheitswesen, doch vergrößert sich auch in verschiedenen Sektoren, in denen Qualifikationen nicht das einzige Kriterium sind, die Nachfrage immer stärker.

 

Alle werden benötigt

Die Trennung von Eingewanderten in „nützlich“ und „nicht nützlich“ basierend auf Qualifikationsniveaus verliert ihre Bedeutung, wenn wir erkennen, dass Gesellschaften Menschen über das gesamte Spektrum der Fähigkeiten benötigen. Von Bauarbeiter:innen und Serviceprofis bis hin zu Gesundheitsdienstleister:innen und Technologieexpert:innen trägt jede:r auf einzigartige Weise zum Funktionieren und zur Vitalität der Wirtschaft und Gesellschaft bei. Die Erzählung, dass Eingewanderte in vorgegebene Qualifikationskategorien passen müssen, spiegelt nicht die Realität wider, dass der Arbeitsmarkt vielschichtig ist und eine vielfältige Belegschaft erfordert.

In westlichen Gesellschaften, wo die demographische Entwicklung unsere wirtschaftliche Entwicklung bedroht, wird eine strategische Umarmung gesamtheitlicher Einwanderung nicht nur zur ethischen, sondern auch zur ökonomischen Notwendigkeit. Eine alternde Bevölkerung und die rückläufigen Geburtenraten erfordern pragmatische Lösungen, um ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum überhaupt zu ermöglichen. Die naheliegendste und humanste Lösung ist gegeben durch eine Gesellschaft, die Einwanderung als Chance sieht, das Leben für alle zu verbessern – seien es die, die kommen, oder die, die schon da sind.

 

Ökonomische Rationalität verbietet Kriminalisierung

Im komplexen Zusammenspiel von Ethik und Ökonomie würde ich die Kriminalisierung von Einwanderung inklusive Flucht als riskanter Fehltritt bezeichnen, den sich westliche Gesellschaften nicht leisten können. Jenseits ethischer Überlegungen ist sie ein Hindernis für die dringend benötigte wirtschaftliche Vitalität und bedroht Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Angesichts sich verändernder geopolitischer Rahmenbedingungen müssen westliche Gesellschaften einen Weg einschlagen, der Weltoffenheit nicht nur als moralische, sondern als ökonomische Notwendigkeit anerkennt.

In diesem Spannungsfeld kristallisiert sich eine Synthese aus Mitgefühl und ökonomischer Rationalität als Eckpfeiler einer nachhaltigen Zukunft heraus. Die ethische Verpflichtung, Hilfsbedürftigen die Hand zu reichen, verschmilzt nahtlos mit der ökonomischen Notwendigkeit, das Potenzial einer vielfältigen und dynamischen Einwandungsbevölkerung zu nutzen. Nur durch ein nuanciertes Verständnis dieses delikaten Gleichgewichts können westliche Gesellschaften eine Zukunft gestalten, in der sich ethische Prinzipien und wirtschaftliche Interessen für das kollektive Wohl vereinen. Hierin liegt das wahre Potenzial der Einwanderung – als Triebkraft, die nicht nur denjenigen hilft, die zu uns kommen, sondern Gesellschaften zu Wohlstand, Widerstandsfähigkeit und einer gemeinsamen chancenreichen Zukunft verhelfen.

 

Polis Blog ist eine Plattform, die den Mitgliedern von Polis180 & OpenTTN zur Verfügung steht. Die veröffentlichten Beiträge stellen persönliche Stellungnahmen der AutorInnen dar. Sie geben nicht die Meinung der Blogredaktion oder von Polis180 e.V. wieder.

 

Bildquelle: pixabay.com

 

Enrico Brehm ist promovierter Physiker und koordiniert Forschungsprojekte im Bereich Quantentechnologien. Er co-leitet den Programmbereich Migration bei Polis180. 

 

Lektorat: Isabel Billmeier

 

Zurück

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen