Als am 04. Juni die ersten Ergebnisse der Wahlen zum indischen Unterhaus verkündet wurden, war die Überraschung groß. Der erwartete Erdrutschsieg von Modis hindu-nationalistischer BJP blieb aus. Stattdessen ist er künftig auf eine Koalitionsregierung angewiesen. Wie ist der Wahlausgang angesichts der prekären Verfassung der indischen Demokratie einzuordnen und welche Konsequenzen ergeben sich für Europa? Es lohnt sich ein Perspektivwechsel.
von Theo Kaiser
Bei den 18. Wahlen zur Lok Sabha, dem Unterhaus des indischen Parlaments, standen sich zwei Koalitionen mit denkbar ungleichen Chancen gegenüber.
Die rechtsgerichtete National Democratic Alliance, angeführt von der Bharatiya Janata Party (BJP) des amtierenden Premierministers Narendra Modi, konnte sich auf die wohlwollende Berichterstattung von weiten Teilen der indischen Medienlandschaft verlassen. Die Kampagne der BJP konzentrierte sich auf die Erfolge der vergangenen Regierungsperiode, wie die Ausgabe von kostenlosem Getreide und gesteigerten Auslandsinvestitionen in die indische Wirtschaft. Teil von Modis Wahlkampf waren auch gezielte Hetze gegenüber muslimischen Menschen, die mit 220 Millionen Staatsbürger*innen eine Minderheit in der indischen Gesellschaft darstellen. Modi bezeichnete diese Gruppe als Eindringlinge (infiltrators) und baute eine Drohkulisse auf, wonach Muslim*innen den Reichtum von Hindus an sich reißen könnten. Diese Äußerungen fügen sich ein in eine Ideologie der BJP, die Indien primär als Staat der Hindus sieht und für ein selbstbewusstes Auftreten Indiens in der Weltpolitik eintritt.
Historischer Kontrahent gegenüber dieser Weltanschauung ist die Kongresspartei, die säkular ausgerichtete Partei Gandhis und Nehrus. Sie führte im Wahlkampf den Oppositionsblock an, der sich unter dem Namen der Indian National Developmental Inclusive Alliance (I.N.D.I.A.) zusammenschloss. Die Kongresspartei, die mehr als 50 Jahre den Premierminister Indiens stellte, befindet sich in einer tiefen Krise. Dies hängt nicht zuletzt mit den dynastischen Parteistrukturen zusammen, in denen Spitzenpositionen in der Partei fast ausschließlich von Mitgliedern der Gandhi-Nehru-Familie besetzt werden. Dem während des Wahlkampfs häufig belächelten und verhöhnten Spitzenkandidat Rahul Gandhi gelang jedoch eine Trendwende mit voraussichtlich 234 Parlamentssitzen für den I.N.D.I.A-Block, während die National Democratic Alliance mit etwa 293 Sitzen unter der Führung Modis auch die nächste Regierung bilden wird.
Das Ergebnis ist für Modi dennoch kaum ein Grund zur Freude, bedeutet es doch einen unerwarteten Verlust an Zustimmung in der Bevölkerung. Diese Trendwende ist Ausdruck der Unzufriedenheit vieler Menschen mit der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Während ausländische Beobachtende oft die jährlichen Wachstumsraten von mehr als sechs % hervorheben und dem Land eine allgemein vorbildliche Wirtschaftspolitik attestieren, ist die Betrachtung in Indien differenzierter. Es wird bemängelt, dass von dem Wachstum nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung profitiert und sich die prekäre Situation vieler Menschen kaum ändert. Gandhis Wahlversprechen für ein umfassendes Sozialprogramm, verbunden mit dem Versprechen von umfangreicheren Zulassungsquoten zugunsten von benachteiligten Kasten, hat hier offenbar verfangen. Diese Zulassungsquoten garantieren, dass beim Zugang zu Universitäten, bei den Bewerbungen auf öffentliche Jobs und im politischen Betrieb die Mitglieder von historisch marginalisierten Kasten ausreichend berücksichtigt werden. Der wohl wichtigste Grund für die Renaissance der Opposition liegt jedoch in der Fähigkeit der Kongresspartei begründet, ihre neue Rolle im indischen Parteiensystem anzunehmen. Im indischen Mehrheitswahlrecht ist es überaus schädlich, wenn sich nahestehende Parteien in einem Wahlkreis gegeneinander antreten. Die ehemals hegemoniale und staatstragende Kongresspartei hat sich lange geweigert, Bündnisse mit kleineren Regionalparteien darüber zu schließen, welche Partei in welchem Wahlkreis antritt. Im vielfältigen Indien mit seinen über 700 Sprachen und zahlreichen lokalen Identitäten nehmen diese Regionalparteien jedoch einen wichtigen Platz ein und haben in vielen Landesteilen eine motivierte Anhängerschaft. Die katastrophalen Wahlniederlagen der vergangenen Wahlperioden haben zu einem Mentalitätswechsel in der Kongresspartei geführt, welcher in der aus 28 Parteien bestehenden I.N.D.I.A-Allianz mündete. Nur durch diese Allianz, die über eine eigene Organisationsstruktur verfügt, waren Stimmenzuwächse für die Opposition möglich.
Die außenpolitische Bedeutung
Für Europa sind die Auswirkungen zumindest vordergründig überschaubar, die sich aus der nun vollziehenden Koalitionsbildung der BJP mit kleineren Parteien ergeben dürften. Diese Parteien fühlen sich in erster Linie ihrer regionalen Wählerschaft verpflichtet und haben das Interesse, die Entwicklung in ihren Heimatregionen voranzutreiben. Indiens Außenpolitik wird weiterhin das Ziel verfolgen, sowohl gute Beziehungen zu westlichen Staaten zu pflegen, als auch eine Führungsrolle im Globalen Süden einzunehmen. Dieselbe Rolle wird jedoch ebenfalls von der Volksrepublik China beansprucht, mit der Indien angespannte Beziehungen pflegt. Eine umstrittene Grenzziehung sowie die enge Partnerschaft Chinas mit Pakistan, welche von Indien als Terrorismusunterstützung wahrgenommen wird, belasten das Verhältnis der Nachbarstaaten. In Europa wird das zerrüttete Verhältnis Indiens mit seinen Nachbarn gemeinhin als Chance empfunden, selbst engere Beziehungen zum demokratischen Indien aufzubauen und einen engen Partner in der von den Autokratien Russland und China geprägten Region zu finden.
Eine stärkere Partnerschaft westlicher Staaten mit Indien ist in zweierlei Hinsicht schwer umzusetzen und offenbart ein mangelndes Verständnis für Indien.
Erstens hat Modis Indien selbst keinerlei Interesse daran, eine wertegeleitete Blockbildung voranzutreiben. Indien schließt Partnerschaften auf der Grundlage der eigenen wirtschaftlichen und militärischen Interessen. Moralische Appelle des Westens, etwa zur Unterstützung von Sanktionen gegen Russland, werden in Indien als Doppelmoral von ehemaligen Kolonialmächten kritisiert. Verstärkte Partnerschaften, etwa in Form des derzeit verhandelten Freihandelsabkommens zwischen Indien und der EU, werden in Indien nur auf der Basis eines gegenseitigen Wirtschaftsinteresses Anklang finden.
Zweitens ist der demokratische Charakter des indischen Staates ohnehin bedenklich. Staatliche Behörden wie das ‘Directorate of Enforcement’ und die Steuerverwaltung haben selektiv die Arbeit der Oppositionsparteien eingeschränkt. So wurden die Konten der Kongresspartei aufgrund des Vorwurfs der unrechtmäßigen Verwendung von Schenkungen eingefroren und der Bürgermeister von Delhi kurz vor der Wahl wegen Geldwäschevorwürfen inhaftiert. In Verbindung mit einer gegenüber der BJP in großen Teilen wohlwollenden Medienlandschaft ergibt sich das Bild eines ungleichen Wahlkampfs.
Trotz dieser Befunde verfügt Indien über einige resiliente Institutionen. Insbesondere das unabhängige Verfassungsgericht sowie der ausgeprägte Föderalismus erschweren eine Machtakkumulation der BJP. Die diesjährigen Parlamentswahlen haben offenbart, dass es eben nicht das eine Indien gibt. Wenngleich die hindu-nationalistische Weltanschauung der BJP viel Anklang findet, ist das Land weiterhin von diversen politischen Überzeugungen geprägt, die sich besonders regional stark unterscheiden. Diese Ambivalenzen zuzulassen und gleichzeitig ein Verständnis für die Perspektive Indiens zu entwickeln, wird die Voraussetzung für gelingende Beziehungen Europas mit dem aufstrebenden Indien nach dieser Wahl sein.
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Bildquelle: Theo Kaiser
Theo Kaiser ist Master-Kandidat für Internationale Beziehungen am St. Antony’s College in Oxford. Er hat Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Universität Konstanz studiert. Derzeit verfolgt er die indische Politik aus Kolkata, der kulturellen Hauptstadt Indiens.
Lektorat: Eva Hager
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