Polisblog
7. November 2023

Bericht: Gegennarrative zum „System Orbán” (Workshop & Exkursion mit der JSOG nach Budapest)

15. – 17. September 2023

 

von Lena Krois & Lara Franken



In den letzten Jahren hat Ungarn mit verschiedenen politischen Entwicklungen und Kontroversen Schlagzeilen gemacht. Dazu gehört beispielsweise das Kinderschutzgesetz, welches im Juni 2021 verabschiedet wurde und die Darstellung von Homosexualität und Geschlechtsumwandlung in Schulen und Jugendmedien verbot. Neben dem Anti-Homosexualitätsgesetz hat die ungarische Regierung in den letzten Jahren auch verstärkt ihre Kontrolle über die Medienlandschaft des Landes ausgebaut. Laut Reporter ohne Grenzen befindet sich Ungarn aktuell (Stand September 2023) auf Platz 72 von 180 in der Rangliste der Pressefreiheit

 

Doch wie reagieren junge Akteur*innen auf die Veränderungen innerhalb des Landes? Was für Gegenstimmen gibt es zum „System Orbán”? Hiermit beschäftigte sich der erste von der Jungen Südosteuropa-Gesellschaft organisierte  Workshop in Budapest, bei dem auch Polis180 vertreten war. Finanziell unterstützt wurde die Veranstaltung von der Südosteuropa-Gesellschaft e.V..


Tag 1: Bildung

 

Nach der Ankunft der Teilnehmenden trafen wir uns vormittags im Zentrum von Budapest zu einer von den Organisierenden geplanten Stadttour mit einem Fokus auf Erinnerungskultur.
So besuchten wir beispielsweise ein in Ungarn umstrittenes Monument, das „allen Opfern“ der deutschen Besatzung Ungarns gewidmet ist und innerhalb der Bevölkerung auf heftige Kritik stößt. Dieses in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 2014 errichtete Monument zeigt Ungarn als den Erzengel Gabriel, der von einem deutschen imperialen Adler angegriffen wird. Inzwischen gibt es vor dem Monument ein Gegen-Denkmal, welches das Narrativ ,dass Ungarn „Opfer” der deutschen Besatzung war, in Frage stellt.
Weiter besichtigten wir das „Denkmal der nationalen Einheit”, das die ungarische Regierung zum 100. Jahrestag des Vertrages von Trianon am 4. Juni 2020 einweihte. Das Denkmal besteht aus einer Rampe, in deren seitlichen Mauern Ortsnamen des Königreichs Ungarn gemäß dem Stand von 1913 eingraviert sind. Der Vertrag von Trianon führte sieben Jahre später dazu, dass Ungarn rund zwei Drittel seines ehemaligen Territoriums verlor. Das Denkmal stellt das Opfernarrativ rund um den Ersten Weltkrieg, das die ungarische Regierung perpetuiert, offen zur Schau.

Nachmittags hatten wir die Gelegenheit, Vertreter*innen eines der prominentesten Gegennarrative der letzten Jahre kennenzulernen: In  den Räumen der Central European University trafen wir uns mit Aktivist*innen von Freeszfe, die sich für akademische Freiheit in Ungarn einsetzen. Die Freesfze-Bewegung entstand, als die ungarische Fidesz-Regierung im August 2020 die Führung der Universität für Theater und Filmkunst (auf Ungarisch: Színház- és Filmművészeti Egyetem, kurz: SZFE) an die regierungsnahe „Stiftung für Theater- und Filmkunst” vergab. Aus Protest gegen die Untergrabung der akademischen Autonomie besetzten Studierende daraufhin das Universitätsgebäude für über zwei Monate und räumten dieses erst aufgrund der Zuspitzung der Corona-Pandemie und der daraus resultierenden erschwerten Lage für das Gesundheitssystem. Im Rahmen der Exkursion konnten wir mit dem ehemaligen Rektor und heutigen Organisator von Freeszfe, Lazlo Upor, sowie zwei Studierenden, die an der Besetzung im Jahr 2020 beteiligt waren, sprechen. Anhand ihrer Schilderungen gewannen wir einen eindrücklichen Einblick in die Arbeit politischer Aktivist*innen in einem zunehmend repressiven System. 

 

Tag 2: Kunst und Kultur

 

Am zweiten Tag, dem 16. September, stand Kunst und Kultur im Mittelpunkt. Die Teilnehmer*innen besichtigten das art quarter budapest (aqb), eine unabhängige kulturelle Institution, die sich in den ehemaligen Gebäuden einer Brauerei befindet. Seit 2013 betreibt art quarter budapest ein internationales Künstler*innen-Residenzprogramm, das während dieser Zeit mehr als 90 Künstler*innen aus der ganzen Welt beherbergt hat. Das Residenzprogramm umfasst die Unterkunft, ein privates Atelier und eine Pop-up-Soloshow zum Abschluss des Aufenthaltes. Bei unserem Besuch hatten wir die Gelegenheit, Gespräche mit Artists in Residence zu führen.
Weiter haben wir uns untereinander über die Situation von queeren Personen sowie Sint*izzen und Roman*ja in der Kunstszene ausgetauscht.
Ein anschließender Rundgang durch das Jüdische Viertel am Nachmittag bot zusätzlich Einblicke in die reiche Kulturgeschichte Budapests. 

 

Tag 3: Politik

 

Am letzten Tag, dem 17. September, widmeten wir uns politischen Themen. Die Teilnehmer*innen hatten die Gelegenheit, mit Vertreter*innen der grün-linken politischen Bewegung Szikra ins Gespräch zu kommen. Szikra, was auf Ungarisch “Funke“ bedeutet, hat sich aus sozialen und wohnungspolitischen Initiativen entwickelt. Wir konnten mit zwei Mitgliedern ins Gespräch kommen und ihnen Fragen zu ihrer bisherigen Arbeit stellen. Sie erzählten uns von ihren Erfolgen und Herausforderungen innerhalb ihres Aktivismus und ihres politischen Engagements. Ein herausragender Erfolg, den sie seit 2022 verbuchen konnten, war die Wahl ihres ersten Abgeordneten ins Parlament, András Jámbor.
Zudem ermöglichte am selben Tag eine Führung durch das ungarische Parlament einen tieferen Einblick in die politische Landschaft des Landes. Anschließend wurde der Tag mit Impulsvorträgen der Teilnehmenden abgerundet. Hierbei beschäftigen wir uns mit Themen wie Medienfreiheit, democratic backsliding und der zunehmend schwierigen Beziehung zwischen Ungarn und der Europäischen Union.
Schließlich erfolgte die Abreise der Teilnehmenden.

Das Workshop-Programm bot somit eine vielfältige Erfahrung und die Gelegenheit, die verschiedenen Aspekte der politischen, kulturellen und akademischen Landschaft Ungarns aus der Perspektive junger Ungar*innen kennenzulernen, die auf diesen Ebenen aktiv sind. 




Lena Krois (sie/ihr) hat in Maastricht und Berkeley Internationale Beziehungen studiert und absolviert momentan einen Master in Politik- und Verwaltungswissenschaften in Konstanz. Ihr Hauptinteresse gilt der Demokratieforschung und der Technologiepolitik. 

 

Lara Franken (sie/ihr) hat einen Bachelor in Afrikastudien in Leipzig und Bordeaux absolviert und studiert aktuell den Master Internationale Beziehungen in Berlin und Potsdam. Derzeit ist sie Praktikantin der Deutschen Botschaft in Budapest. Sie interessiert sich besonders für feministische Außenpolitik, Extremismusprävention und die Rolle von Gender in Konflikten/Kriegen. Sie ist Co-Programmleitung des Bereiches “Gender und Politik” bei Polis180.


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