Polisblog
9. September 2023

Finding Peaces III – Frieden und Mental Health

Ein Veranstaltungsbericht von Lina-Marie Ludewig

 

09.09.23 

 

Trigger-Warnung: In dem vorliegenden Beitrag werden Inhalte thematisiert, die einige Personen möglicherweise als verstörend oder belastend empfinden könnten (z.B. Thematisierung von Gewalt, sexualisierter Gewalt, Suizid, Rassismus und andere Formen von Diskriminierung). 

 

Am 26. Januar 2023 veranstaltete die Polis180-Arbeitsgruppe “Frieden & Konflikt” das dritte Event ihrer Finding Peaces Serie. Die Veranstaltung „Frieden und Mental Health“ setzte dabei ihren thematischen Schwerpunkt auf MHPSS-Maßnahmen (Mental Health and Psychological Support) als friedensstiftenden Ansatz im Kontext von gewaltvollen Konflikten. Zu Gast waren die Panelist*innen Pia Walter, Projektleitung des “Back to Life-Programms” im Irak und Afghanistan von der Menschenrechtsorganisation HAWAR.help, Florian Westphal, CEO von Save the Children Deutschland, und Dr. Jan Kizilhan, Professor für Psychotraumatologie, Psychotherapeut sowie Dekan des Instituts für Psychotherapie und Psychotraumatologie an der Universität Duhok im Irak. Moderiert wurde die Veranstaltung von Thelma Divry und Cornelius Haritz. 

 

Im Jahr 2022 konnte das vom Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung entworfene Conflict Barometer 363 Konflikte weltweit messen. Insbesondere die gewaltsamen Krisen und Kriege stiegen im Vergleich zum Vorjahr in ihrer Häufigkeit an. Diese Konflikte sind durch wiederkehrende Gewalt geprägt und ihre Konsequenzen können über Generationen hinweg in der betroffenen Gesellschaft spürbar sein. Eine in der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit häufig nicht primär fokussierte Folge kollektiver gewaltvoller Erfahrungen sind soziale Traumata. Warum eine intensive politische Auseinandersetzung mit dieser Thematik so wichtig ist, wird in diesem Beitrag diskutiert. 



Ist Trauma gleich Trauma?

 

In der heutigen Zeit, in der der  Begriff Trauma inflationär genutzt wird, fragen wir uns: Was zeichnet ein Trauma wirklich aus und welche Formen von Traumata gibt es? Denn: Nicht alle Personen, die potenziell traumatische Erfahrungen machen, sind gleichermaßen betroffen. Vielmehr, so erklärte Dr. Jan Kizilhan, bestimmen individuelle Faktoren den Grad der Resilienz eines Menschen. So zeigte sich in Studien, dass 50% bis 80% der Personen, die einen Krieg erleben, traumatisiert sind und etwa 30% dieser Personengruppe professionelle Hilfe brauchen. Dauert ein Trauma mehr als sechs Monate an, spricht man von einer posttraumatischen Belastungsstörung. Traumata können kognitive, physiologische oder psychologische Veränderungen wie Angststörungen und dissoziative Störungen zur Folge haben. Kollektive gewaltvolle Erfahrungen können soziale Traumata hervorrufen, die wiederum prägend für die Identität und Dynamiken sozialer Gruppen und ganzer Gesellschaften sind. Werden diese Traumata an die nächste Generation weitergegeben, spricht man von einem transgenerationalen Trauma. 

 

Pia Walter führte aus, wie sich Traumata von Binnengeflüchteten in zwei von HAWAR.help betreuten Lagern im Nordirak äußern. Die Traumata variieren hier je nach Ausprägung zwischen mangelnder Konzentrationsfähigkeit, erhöhter Wachsamkeit und Flashbacks. Weitere Differenzen in den Erscheinungsformen können zwischen Männern und Frauen beobachtet werden – während Männer häufiger aggressives und wütendes Verhalten an den Tag legen, erleben Frauen vermehrt Gefühle von Benommenheit und emotionaler Stumpfheit. Neben anderen Faktoren können insbesondere gesellschaftliche Erwartungen und Rollenbilder diese Unterschiede erklären.

Dabei müssen Kinder nicht direkt von Gewalt betroffen sein müssen, um traumatisiert zu werden, ergänzte Florian Westphal. Das Kriegsgeschehen und dessen Konsequenzen können das Urvertrauen der Kinder erschüttern, etwa wenn die Familie getrennt wird oder die eigenen Eltern als machtlos erlebt werden. Häufig bleiben diese Traumata unentdeckt und unbehandelt. Das schwindende Vertrauen in die Umwelt kann sich negativ auf die psychische und physiologische Entwicklung der Kinder auswirken. Aus diesem Grund braucht es direkte Unterstützung und Aufarbeitung für Betroffene. 

 

 Mental Health im Fokus humanitärer Organisationen? 

 

Das Frauenzentrum von HAWAR.help im Irak schließt an die Bedürfnisse traumatisierter Personen an. Dabei wird sowohl psychologische als auch physiologische Unterstützung angeboten, die sich durch eine diverse Auswahl von interaktiven Bildungs- und Handwerkskursen bis hin zum Fußballtraining auszeichnet. Gleichzeitig werden im Rahmen des Capacity Buildings auch Workshops für staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure angeboten, wobei das Erlernen von Tools zur Self-Care eine zentrale Komponente dieser Trainingseinheiten bildet – ganz gemäß dem Motto: „Man kann nur helfen, wenn man sich selbst hilft“. 

 

Auch Save The Children bietet mit großer, positiver Resonanz Workshops für ehrenamtliche Helfer*innen an. Obwohl nur ein geringer Teil des Gesamtbudgets in Mental-Health-Maßnahmen fließt, hat sich in den letzten Jahren das Bewusstsein für die Wichtigkeit von MHPSS sowohl innerhalb der Organisation als auch im Allgemeinen deutlich verbessert. Humanitäre Projekte können zudem eine positive Auswirkung auf die mentale Gesundheit haben, obwohl der Indikator Mental Health nicht explizit in der Projektbeschreibung steht; so können zum Beispiel Musiktherapie, Schutz- und Spielräume, narrative Methoden, mobile Gesundheitsteams und andere Angebote die mentale Gesundheit positiv beeinflussen. Wie bereits zuvor anhand der Programme von HAWAR.help deutlich geworden ist, müssen MHPSS-Maßnahmen zwar eine evidenzbasierte, nicht zwingend aber eine  medizinische Komponente beinhalten.

 

Obwohl sich die Ansicht zunehmend verbreitet, dass Mental Health mehr in den Fokus humanitärer Hilfe gerückt werden muss, konzentriert sich die Arbeit primär auf die Rettung von Leben. Eine Abwägung zwischen den beiden Bereichen zu treffen, gestaltet sich notwendigerweise schwierig. Eine weitere Herausforderung stellt die gesellschaftliche Stigmatisierung von Psychotherapie dar. Daher muss das MHPSS-Angebot in einer Weise kommuniziert werden, die die Zielgruppe nicht als abschreckend empfindet. Überdies können kulturelle und sprachliche Barrieren sowie  Misstrauen die Durchsetzung solcher Projekte erschweren. Ein weiteres Problem betrifft das Mental-Health-Angebot der NGOs selbst, ergänzt Dr. Jan Kizilhan. Denn manche NGOs bieten Mental Health Projekte ohne evidenzbasierte Methoden an, was im schlimmsten Fall mehr Schaden als Nutzen bringt. 





MHPSS ist Friedensarbeit

 

Richtig angewandt kann MHPSS jedoch spürbare Verbesserungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene bewirken. Da Gewalt immer auch ein gesellschaftliches Phänomen ist, muss diese als solches adressiert werden, stellt Dr. Jan Kizilhan fest. Es ist die Frage zu stellen, welche Erfahrungen und Einstellungen, die eine Gesellschaft prägen, gewaltvolle Dynamiken fördern. MHPSS kann betroffenen Menschen helfen, ihre durch Traumata ausgelösten negativen psychosozialen Folgen wie Aggressionen zu bewältigen und das Vertrauen in ihre Mitmenschen wieder aufzubauen. So kann lösungsorientiert auf eine friedfertige Gesellschaft hingearbeitet werden. Daher gilt: MHPSS ist Friedensarbeit.

 

Unter politisch Verantwortlichen in Deutschland muss das Verständnis für die umfassenden Vorteile von MHPSS-Maßnahmen noch wachsen. Florian Westphal sieht insbesondere in Orten wie Lesbos, wo stark traumatisierte und selbstmordgefährdete Kinder mutwillig im Stich gelassen werden, einen deutlichen Nachholbedarf an Hilfeleistungen. Dieses mangelnde Bewusstsein ist auch deshalb fatal, weil erlebte Hilflosigkeit und Gewalt zu einem kollektiven Opferbewusstsein oder Verlust von Empathie innerhalb der Gesellschaft beitragen können – ein Nährboden für radikale Ideologien und Gewaltspiralen. 

Ein großes Hindernis für die angemessene Bereitstellung von Hilfe stellt die deutsche politische Haltung dar, die Rückkehr der Geflüchteten in ihre Heimaten zu forcieren, obwohl die Sicherheitslage dies oft nicht zulässt. Zudem führt die Verminderung  von finanzieller Hilfe dazu, dass einige der Camps für Binnengeflüchtete nicht mehr fortgeführt werden können, wodurch die Zukunft der Betroffenen noch ungewisser wird. Auch gewaltvolle Regime und ihre diskriminierenden Gesetze tragen eine große Mitschuld an dem Schicksal der Betroffenen. Im Irak beispielsweise werden die Kinder, die aus den Vergewaltigungen von Jesid*innen durch IS-Kämpfer entstanden sind, per Gesetz automatisch muslimisch geboren. Da muslimische Kinder nur von Elten der gleichen Religionszugehörigkeit aufgezogen werden dürfen, ist es Jesid*innen in der Praxis verboten, ihre Kinder zu behalten. 

Die Bundesregierung sollte hier mehr Verantwortung übernehmen. Das bedeutet, Betroffenen nicht nur eine Grundversorgung bereitzustellen, sondern ihnen Hoffnung und Perspektiven aufzuzeigen. Dafür ist es wichtig, Familienzusammenführungen zu fördern und einen solidarischen Diskurs über Gewalt und Traumata zu führen. Doch nicht nur der soziale und politische Kontext sollte mitgedacht werden, sondern auch die rechtliche Ebene. Hierzu zählt die Vergangenheitsbewältigung, bei der es das Leid der Betroffenen offiziell anzuerkennen gilt – wie nun deutlich verspätet den Völkermord an den Jesid*innen. 

 

Insgesamt können MHPSS-Maßnahmen medizinischer und nichtmedizinischer Form einen essentiellen Beitrag für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Betroffenen leisten. Positive Auswirkungen lassen sich nicht nur auf individueller Ebene feststellen, sondern können auch zu einer stabilen und friedvollen Gesellschaft beitragen. Dennoch wird deutlich, dass das Bewusstsein für die Bedeutung von Mental Health innerhalb der Politik und den internationalen Geber*innen noch stärker wachsen muss. MHPSS sollte nicht nur bei einzelnen Projekten, sondern ganzheitlich bei der humanitären Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit, Gewaltprävention- und mediation miteinbezogen werden. Um bestehende Lücken in der Versorgung zur mentalen Gesundheit zu schließen, sollten MHPSS-Projekte zukünftig mehr Aufmerksamkeit, Unterstützung und Gelder erhalten. 



Autorinnen-Biographie

Lina-Marie Ludewig studiert derzeit den Kooperationsmaster Internationale Beziehungen in Berlin. Ihr thematischer Fokus gilt vor allem dem Bereich der Friedens- und Konfliktstudien und  insbesondere den hiermit verwobenen Themen Transitional Justice und Genderforschung. Sie ist aktuell in der POLIS180-Gruppe “Frieden und Konflikt” aktiv. 

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