Polisblog
3. Mai 2023

Zurück Richtung Zukunft? Die türkische Außenpolitik vor einem Umbruch

Der folgende Beitrag beleuchtet die außen- und sicherheitspolitische Lage in der Türkei, mit besonderem Fokus auf einen möglichen Regierungswechsel bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2023. Er stellt aktuelle sowie zukünftige Herausforderungen mit Blick auf Europa, Russland und Syrien heraus. Dabei werden potenzielle Stellschrauben zur Verbesserung des Verhältnisses mit dem Westen dargestellt. 

 

Ein Beitrag von Merritt Fedzin und Ahmet Bekisoglu

 

03.05.2023

 

 

Blickpunkt Europa

von Merritt Fedzin

 

Der Türkei steht eine potenzielle, institutionelle Rückbesinnung zur parlamentarischen Demokratie bevor. Während die EU in der Vergangenheit eine interessenbasierte Politik geführt hat – mit folgenschweren Auswirkungen – könnte sie nach dem 14. Mai “ruhigen Gewissens” zu einer wertebasierten Beziehung mit der Türkei zurückkehren. Ganz im Interesse der EU, wenn auch so nicht öffentlich verlautet, strebt die oppositionelle Koalition unter Führung der CHP dies ebenso an, sogar bis hin zur Wiederauflebung des EU Beitrittsprozesses. Der Fokus liegt dabei auf drei Bereichen: Beteiligung an den Programmen der EU für die digitale Transformation, Bildung neuer Institutionen zur Annäherung an den Europäischen Green Deal und Vorbereitungen für Verhandlungen mit der EU zur Modernisierung der Zollunion. Einiges an Zuwendung, an die sich die EU erstmal gewöhnen müsste. Des Weiteren bestätigt die oppositionelle Koalition, dass hinsichtlich der Beziehungen zu Griechenland und Zypern zukünftig das Gespräch auf einem diplomatischen und multilateralen Weg gesucht werden müsse, um türkische nationale Interessen aufrechtzuerhalten. Damit lässt sich besser arbeiten als mit militärischen Drohungen.

Zu guter Letzt kommen in der Öffentlichkeit pro-europäische Ambitionen mehrheitlich gut an. Dies bedeutet längst nicht die volle Unterstützung eines EU Beitritts, welcher in naher Zukunft unrealistisch ist und so auch klar kommuniziert werden sollte. Die EU muss ihre Versäumnisse bei der (Nicht-)Einhaltung des Migrationsabkommens von 2016 eingestehen, um nicht nur das Vertrauen einer neuen Regierung zu gewinnen, sondern auch das der gesamten türkischen Bevölkerung. Und viel wichtiger: um den Weg für eine menschenrechtsbasierte Migrationspolitik im Einklang mit internationalem Recht zu bereiten und sich nicht länger hinter dem “Türkei-Deal” zu verstecken. 

Nichtsdestotrotz steht die EU allemal besser in der türkischen Öffentlichkeit dar als Russland und die USA – das sollte sie sich zu eigen machen. 

 

 

Blickpunkt Russland 

von Merritt Fedzin

 

Die Türkei hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine bemerkenswerte Position in der Sicherheitsarchitektur des Nahen Ostens und darüber hinaus aufgebaut. Sie ist vor allem daran interessiert, eine Vorreiterrolle in den Golfstaaten zu etablieren, und hat dazu auch die Kapazitäten aufgebaut. Der Türkei gegenüber stehen globale Mächte, die um selbigen Einfluss ringen: darunter die USA, China und Russland. Insbesondere Russland gegenüber hat die Türkei eine gespaltene Rolle: Sie bewegt sich zwischen den unterschiedlichen Interessen in Syrien, der Vermittlung im Russischen Krieg in der Ukraine, der Umsetzung von westlichen Sanktionen gegen die Föderation, dem Import von russischen Flugabwehrraketen vom Typ S-400, oder auch der Waffenlieferungen an Azerbaijan im Konflikt um Bergkarabach. Ein beachtlicher Tanz auf dem außenpolitischen Vulkan. Man könnte meinen, die Türkei fährt einen ähnlichen Kurs, wie Russland ihn seit Jahrzehnten betreibt: Zuerst werden Konflikte befeuert, dann eine Vermittlerrolle eingenommen, wobei jegliche wirtschaftlichen Vorteile ausgeschöpft werden. Im Gegensatz zu Russland ist die Türkei jedoch erheblich besser darin, sich eine breite Palette an Verbündeten anzueignen, ohne gleichzeitig Abhängigkeiten entstehen zu lassen. 

Für die Türkei ist und bleibt Russland jedoch ein Gegenüber zwischen zwei Extremen: Freund- und Feindschaft. Mit einem Regierungswechsel in der Türkei könnte sich letzteres verfestigen, ebenso gegenüber China. Dies wäre nicht zuletzt im sicherheitspolitischen Interesse der EU, NATO und der USA. Die EU sollte eine solche Entwicklung nicht unterschätzen, welche das globale Machtgefüge stark beeinflussen würde; insbesondere, da die Türkei  auf die Unterstützung von Verbündeten im Nahen Osten oder auch Zentralasien zählen kann. In Anbetracht der ökonomischen Auswirkungen des Klimawandels werden insbesondere arabische Staaten auf solche überregionalen Partnerschaften angewiesen sein, weshalb eine Abkehr vom aktuellen kooperativen Kurs bei einem Regierungswechsel in der Türkei langfristig wenig erstrebenswert für diese wäre. Insgesamt wird die größte Herausforderung dabei sein, dass das globale Sicherheitsgefüge nicht aus den Fugen gerät, wenn machtpolitische Erwartungshaltungen auf eine breite Palette an Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte treffen.

 

 

Blickpunkt Syrien 

von Ahmet Bekisoglu

 

In Bezug auf Syrien scheint die Türkei eine Kehrtwende zu versuchen: Anfangs noch einer der Hauptgegner von Bashar al-Assad, scheint die Erdogan-Türkei nun eine versöhnlichere Politik einzuschlagen. Doch dies wird von Syriens Regierung lediglich zur Kenntnis genommen – ein Treffen unter Präsidenten wird in naher Zukunft nicht stattfinden. Stattdessen hat Damaskus den Rückzug aller türkischen Truppen von syrischem Territorium und die Einstellung finanzieller und logistischer Hilfe an syrische Dschihadisten als Voraussetzung für vis-à-vis Gespräche festgelegt. Kurzer Rückblick: Zunächst ergriff die Türkei finanziell, dann militärisch auf Seiten der Free Syrian Army, Hay’at Tahrir al-Sham und später der National Syrian Army (NSA) Partei, um einerseits Assad zu stürzen und andererseits eine mögliche kurdische Autonomieregion zu verhindern – die “Operation Olive Branch” führte zur völkerrechtswidrigen Okkupation von kurdisch-syrischem Territorium. 

Diese zweischneidige Politik  verdeutlicht die Ambivalenzen der türkischen Regierung schon sehr stark: Erstens wird der Kontakt mit dem Gegner des Westens (also Assad) gesucht (v.a. um Flüchtlinge wieder aus der Türkei zu vertreiben), zweitens werden die Verbündeten der USA, die Syrian (-Kurdish) Democratic Forces (SDF) regelmäßig mit Drohnen und Haubitzen angegriffen, und drittens das Mächteringen in Syrien als Druckmittel zwischen Russland und den USA missbraucht.

Das Thema Syrien ist jedoch nicht nur außenpolitisch höchst relevant, sondern auch innenpolitischer Zündstoff: Die Wahlen stehen vor der Tür und die syrischen Flüchtlinge im Land sind unwillkommener denn je – so liefern sich AKP und der 6er-Tisch mit der CHP ein Wettrennen im Hegen von Ressentiments gegenüber Syrern.

Welche Politik also die nächste Regierung in Bezug auf Syrien einschlagen wird, es wird einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf die Türkei und ihre Politik in- und außerhalb der eigenen Grenzen haben.

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Fazit

 

Auch wenn die Regierung Erdogans fallen sollte, sind die oben genannten Konflikte noch lange nicht gelöst: Das Oppositionsbündnis des “6er-Tischs” besteht aus Parteien unterschiedlichster Couleur – von liberal bis rechtskonservativ. Die Tatsache, dass ohne die pro-kurdische YSP/HDP keine Mehrheit im Parlament zu Stande kommen wird, macht deutlich, dass die eigentliche regierungspolitische Sondierung erst nach den Wahlen stattfinden wird. Es bleibt daher fraglich, ob sich der außen- und sicherheitspolitische Kurs der Türkei so stark ändern wird, wie es im Positionspapier des 6-er Tischs versprochen wurde.

 

 

Polis Blog ist eine Plattform, die den Mitgliedern von Polis180 & OpenTTN zur Verfügung steht. Die veröffentlichten Beiträge stellen persönliche Stellungnahmen der AutorInnen dar. Sie geben nicht die Meinung der Blogredaktion oder von Polis180 e.V. wieder.

 

Bildquelle via unsplash.com

 

 

 

Ahmet Bekisoglu studiert derzeit im neunten Semester Humanmedizin in Köln und beschäftigt sich mit der Außen- und Bündnispolitik im Nahen Osten. Daneben engagiert er sich bei „foraus“ im Bereich Global Health und ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

 

Merritt Fedzin studiert derzeit im Master of International Affairs an der Hertie School in Berlin. Ihr Fokus liegt im Bereich der Internationalen Sicherheitsstudien, mit besonderem Interesse an der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik in der östlichen Nachbarschaft, sowie der Strategiebildung und dem Thema Klimasicherheit.  

 

 

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