Polisblog
13. März 2023

Geopolitische Interessen nicht gegen Europäische Werte ausspielen

Eine Reaktion auf das Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion zur Westbalkanpolitik

Angesichts der aktuellen Entwicklung und neuen Dynamik seit Beginn der russischen Invasion veröffentlichte die SPD-Bundestagsfraktion jüngst ein Positionspapier zum EU-Beitrittsprozess des sogenannten Westbalkans. Damit unterstreicht die Partei erneut die Wichtigkeit dieses Themas auch für die aktuelle Bundesregierung. Ein Alignment innerhalb der Fraktion ist eine wichtige Grundlage für das einstimmige Auftreten der Koalition in den internationalen Verhandlungen und für die Führungsrolle, die sie in diesen beansprucht. Dennoch finden sich im Papier alte Denkmuster, die eine europäische Zukunft der Region seit jeher behindern.

Ein Kommentar von Frauke Seebass

Bereits 23 Jahre ist es her, seit die EU den Staaten des ehemaligen Jugoslawien und Albanien im Zuge von Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen eine EU-Beitrittsperspektive eröffnete. Seither wird diese Perspektive zwar regelmäßig bekräftigt, einen tatsächlichen Beitritt haben bislang jedoch nur Slowenien (2004) und Kroatien (2013) erreicht. Der Prozess, zuletzt geprägt von Rückschritten und gegenseitigen Misstrauen, hat jedoch durch die verschärfte geopolitische Konfrontation infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine erneut an Dynamik gewonnen. Das Positionspapier der SPD mit dem Titel „Die Westbalkanstaaten auf ihrem Weg in die Europäische Union unterstützen” ist das Ergebnis der Sitzungen des Geschäftsführenden Vorstandes, des Fraktionsvorstandes und der Fraktion am 06. und 07. Februar 2023. In sieben Abschnitten widmet es sich einerseits dem Status quo der seit Jahren stockenden Beitrittsverhandlungen und nennt als Ziel deren Vollmitgliedschaft in der EU. Um dieses zu verwirklichen, sind andererseits eine Reihe von Reformen nötig, die das Papier problematisiert. Dabei gehen strategische Fehler der EU im Beitrittsprozess, die zu einem Verlust der Glaubwürdigkeit geführt und anti-demokratische Entwicklungen teils gestützt haben, Hand in Hand mit einer politischen Instrumentalisierung und verschleppten Reformen in den Westbalkan-Staaten.

Die Analyse zeugt von einer Auseinandersetzung mit der aktuellen Forschung und Expertise zum Erweiterungsprozess, wobei diese an einigen Stellen wohl formatbedingt unkonkret bleibt. Sehr begrüßenswert ist die Forderung nach einer stärkeren Einbeziehung pro-demokratischer Kräfte und nach einem engeren Austausch zwischen den Gesellschaften schon vor dem Beitritt, etwa durch die Einbindung von lokalen Parteien in die europäischen Parteifamilien, die Intensivierung von Kultur- und Bildungsaustausch sowie Kooperationen in Forschung und Entwicklung. Letztere sollen auch helfen, die negativen Auswirkungen wie Massenabwanderung aus den Ländern in die EU zu entschärfen. Auch der Zugang zu Fördermitteln bereits vor Beginn der Beitrittsverhandlungen für Innovationen und eine graduelle Annäherung der Wirtschaftssysteme werden seit langem von Experten gefordert. Leider wird das  Positionspapier selten so konkret wie bei den Vorschlägen für eine engere Einbindung der zukünftigen Mitgliedsstaaten. So werden zwar „konkrete Schritte“ und „direkte Impulse“ gefordert, Vorschläge für solche fehlen jedoch größtenteils. Unklar bleibt auch, wie einerseits Konditionalität „nachvollziehbar“ und „spürbar“, der Beitrittsprozess andererseits aber „flexibler“ werden soll.

Zudem lässt das Papier erkennen, dass innerhalb der Fraktion ein dringend nötiges Umdenken (noch) nicht stattgefunden hat, das eine Annäherung auf Augenhöhe mit den designierten Mitgliedsstaaten ermöglichen würde. (Geo-)Politische Ansprüche des Westens werden mithilfe vermeintlich geteilter Werte legitimiert, Einflüsse aus Russland, China und der Türkei dagegen per se als schädlich deklariert – was gerade im letzteren Fall überrascht,  da die Türkei selbst weiterhin Beitrittskandidat ist und den Beitrittsprozess der Westbalkanstaaten” unterstützt. Diese Akteure sind zudem alles andere als neu in der Region, vielmehr sind die Beziehungen mehrheitlich historisch gewachsen. Die undifferenzierte Darstellung von Russland als Wurzel aller „ethnisch-nationalistische[n] Spannungen” greift nicht nur zu kurz, sondern beruht auch auf dem immer noch vorherrschenden Bild des Balkans als europäische Peripherie, die ihn seit Jahrhunderten zum Spielball großer Imperien macht. Das macht die politischen Eliten der jeweiligen Länder jedoch nicht zu hilflosen Zuschauern, sondern hat oft jenen an die Macht verholfen, die auf dem geopolitischen Schachbrett am geschicktesten die Interessen der Kontrahenten gegeneinander ausspielen können. Und hierin liegt ein zentrales Problem:  Wenngleich die transatlantische Perspektive auf gemeinsamen Abkommen beruht und noch immer von weiten Teilen der Bevölkerungen mitgetragen wird, sind es nationale Interessen, die den Beitrittsprozess dominieren und so den vermeindlich geradlinigen Prozess verzerren.

Diese nationalen Interessen werden nicht einfach verschwinden oder sich in einer wie im Papier vorgeschlagenen Vertragsreform zugunsten Einfacher Mehrheiten lösen lassen. Daher sollten sie als Motor einer längst fälligen Debatte dienen, die maßgeblich Teil der Integration sein muss und im Falle bisheriger Erweiterungen vernachlässigt wurde. Dass etwa mit Albanien erstmals ein Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung Teil der EU werden soll und diese Tatsache viele Menschen in der EU mindestens verunsichert, ist nur eine von vielen gerade für progressive Kräfte unbequemen Wahrheiten, die sich nicht ignorieren lassen. Die fehlende Debatte führt sogar dazu, dass anti-europäische Kräfte in den Mitgliedsstaaten im innenpolitischen Diskurs Vorurteile und Ressentiments schüren, die genau jene Werte einer pluralistischen Demokratie untergraben, die die Fraktion im Beitrittsprozess stärken will. Zudem sorgen solche innenpolitischen Kampagnen dafür, dass die EU-Mitgliedsstaaten bei der Erweiterungspolitik nicht an einem Strang ziehen und so politisches Kapital verspielen. Im durch den russischen Angriffskrieg beschleunigten geopolitischen Wettkampf „hat die EU nur noch wenig Zeit, ihre internationale Neuausrichtung als außenpolitischer Akteur fortzusetzen“ und muss jetzt nachhaltige Kompromisse finden, um wirklich handlungsfähig zu werden.

Dabei verweist das Papier zu Recht auf jüngste Erfolge der SPD-geführten Regierung, etwa im Zuge des wieder aufgenommenen Berliner Prozesses, einer deutsch-geführten Initiative, die seit 2014 regionale Kooperation stärken soll. Während in der Großen Koalition Uneinigkeit innerhalb der Unionsparteien die Erweiterungsdebatte regelmäßig bremste, kann Deutschland im Verbund mit Frankreich und teilweise Italien hier die Führungsrolle einnehmen. Ein solches Positionspapier ist daher richtig und wichtig und sollte im nächsten Schritt in der Bundesregierung  diskutiert werden, damit diese in Brüssel mit einer Stimme sprechen kann. Insgesamt wird jedoch nicht genau deutlich, wer eigentlich dessen Adressat*innen sind. Wie so oft werden in dieser Debatte geopolitische mit werteorientierten Argumenten vermischt, anstatt auf die Interessen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten jenseits von Stabilität in der direkten Nachbarschaft einzugehen. Denn das Argument “Wir können die Westbalkanstaaten nicht jemand anders überlassen” kann unmöglich die Basis für eine nachhaltige und gleichberechtigte Integration der sechs Gesellschaften in eine zukünftige EU von 33 oder mehr Staaten sein. Vielmehr muss es eine gemeinsame Vision der Bürger*innen dieser Staaten geben, die diese Zukunft aktiv mitgestalten und tragen. Durch diesen fehlenden Dialog wird so erst ermöglicht, was die Fraktion anprangert, nämlich die Instrumentalisierung des Prozesses für den Machterhalt anti-demokratischer Gruppen auf allen Seiten, sei es durch die Leugnung von Kriegsverbrechen oder die Aushöhlung rechtsstaatlicher Standards.

Ein Schlüssel zur Unterbindung dieser Praxis wird von der Fraktion zwar aufgegriffen, wenn sie die „politische und gesellschaftliche Aufarbeitung der Kriegsverbrechen“ und „Intensivierung der geschichtspolitischen Arbeit“ fordert, aber auch hier fehlen konkrete Impulse. Dabei gibt es seit Jahren Vorschläge aus der lokalen Zivilgesellschaft, die jedoch am Willen der politischen Eliten scheitern, welche größtenteils selbst aus den Konflikten der 1990er Jahre hervorgingen. So dokumentieren Nichtregierungsorganisationen seit Jahren die Fälle vermisster und getöteter Zivilist*innen auch über Grenzen hinweg, während auf staatlicher Ebene kaum Kooperation in der Verfolgung von Kriegsverbrechen und Aufarbeitung von Geschichte stattfindet. Stattdessen driften die Gesellschaften immer weiter auseinander, leben in monoethnischen Vierteln und Gemeinden, während über staatsnahe Medien Vorurteile geschürt sowie Kriegsverbrecher zu Helden stilisiert werden. 

Versöhnung kann nur von innen heraus gelingen, aber im Beitrittsprozess kann die EU Druck auf anti-demokratische Kräfte ausüben, um etwa eine echte Wahrheitsfindungskommission für das ehemalige Jugoslawien zu bilden, die auch Kroatien und Slowenien mit einschließt. Denn während viele Menschen nach wie vor tagtäglich mit den Folgen des Krieges leben, schwindet die Chance der Aufarbeitung, je mehr Zeit vergeht. Außerdem betreffen solche Tendenzen populistischer Geschichtsverfälschung nicht nur die Region und sind eine direkte Abkehr von den im Vertrag von Lissabon gemeinsam festgelegten europäischen Werten, weshalb pro-demokratische Akteure umso dringender einen Weg zurück zu einem wertegeleiteten Diskurs finden müssen. Hier kann Deutschland auf Basis des Umgangs mit der NS-Vergangenheit wichtige Beiträge leisten, etwa Expert*innen entsenden und bewährte Prozesse und Instrumente gemeinsam mit lokalen Organisationen adaptieren. Nicht zuletzt steht auch die Geschichte der SPD selbst in dieser Tradition.

Polis Blog ist eine Plattform, die den Mitgliedern von Polis180 & OpenTTN zur Verfügung steht. Die veröffentlichten Beiträge stellen persönliche Stellungnahmen der AutorInnen dar. Sie geben nicht die Meinung der Blogredaktion oder von Polis180 e.V. wieder.

Bildquelle via unsplash

Frauke ist Doktorandin an der Andrássy Universität Budapest, wo sie die Entwicklung außenpolitischer Narrative der EU gegenüber dem Kosovo und deren Folgen untersucht. Derzeit ist sie Gastforscherin am Zentrum für Südosteuropastudien der Karl-Franzens-Universität Graz. Bis Ende letzten Jahres leitete sie für Polis180 eine deutsch-georgische Projektreihe zur Stärkung politischer Teilhabe junger Menschen. Frauke arbeitet seit mehreren Jahren an der EU-Nachbarschaftspolitik gegenüber dem westlichen Balkan und den Ländern der Östlichen Partnerschaft.

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