In der Blogserie “La Grande Nation” widmen sich Etienne Höra und Lukas Hochscheidt einmal im Monat Legenden und Mythen, die sich hierzulande über unseren wichtigsten Nachbarn erzählt werden. Lebt man zwischen Ärmelkanal und Côte d’Azur wirklich “wie Gott in Frankreich”? Oder ist das “savoir vivre” nicht das einzige Missverständnis, das sich im deutschen Frankreich-Bild hartnäckig hält? Hier erfahrt ihr, was ihr alles nicht über Frankreich wisst – und vielleicht sogar noch etwas mehr.
Eine Kolumne von Lukas Hochscheidt und Etienne Höra
“Cher ami, je ne vous comprends pas, mais je vous aime” – so antwortete 1914 der französische Dichter Charles Péguy auf einen deutschen Brief Ernst Stadlers, nur Wochen ehe beide auf verschiedenen Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs fielen. Péguy sprach kein Wort Deutsch. Blickt man auf aktuelle (Medien-)Diskurse über Frankreich, so lässt sich von Péguy viel lernen: Die meisten Deutschen verstehen Frankreich nicht, und im Unterschied zu Péguy merken sie es nicht einmal. Besonders deutlich wurde dies in der Berichterstattung zur Präsidentschaftswahl 2022, die vielfach von Mythen, Stereotypen und Verzerrungen geprägt war.
An Beispielen mangelt es hier nicht. So sorgte sich Peter Dausend – Hauptstadtredakteur der ZEIT – zwischen den beiden Wahlgängen darüber, dass “mehr als ein Drittel der Jungwähler (…) dem Linkspopulisten Mélenchon die Stimme gaben, der wie Le Pen EU und Nato ablehnt”. Abgesehen von einer gefährlichen “Hufeisen-Rhetorik” forderten weder Mélenchon noch Le Pen den EU-Austritt Frankreichs. Und entgegen Dausends Darstellung kam der hohe Stimmenanteil Mélenchons hauptsächlich durch das im Wahlsystem verankerte strategische Wahlverhalten zustande: Er war schlicht der einzige Kandidat der politischen Linken, der überhaupt Chancen hatte, sich für die zweite Wahlrunde zu qualifizieren.
Auch Vertreter*innen der deutschen Politik lehnten sich mit teils haarsträubenden Verkürzungen aus dem Fenster. Der baden-württembergische Finanzminister Danyal Bayaz (B`90/Grüne) zeigte sich auf Twitter verärgert über “das Label des Hardcore-Liberalen #Macron” – und begründete seine Entrüstung mit der hohen Staatsquote Frankreichs, die ja belege, dass Macron quasi Sozialdemokrat sei. Dass diese keinesfalls als Beweis für eine vermeintlich sozialdemokratisch angehauchte Regierungspolitik in den letzten fünf Jahren herhalten kann, dürfte auch Frankreich-unkundigen Ökonom*innen auffallen.
Diese Beispiele sind symptomatisch für die oberflächliche Aufmerksamkeit, die dem französischen Wahlkampf in der deutschen Öffentlichkeit zuteil wurde. Dominiert war der Diskurs hierzulande vor allem von der Lust am Abgründigen: Viel hörten wir über die starken Ergebnisse der “Extremist*innen” (ohne dabei zwischen proto-faschistischen Bewegungen und Linksradikalen zu unterscheiden) – nur wenig über die historisch schwache Wahlbeteiligung. Selbiges gilt für die tiefen Konflikte in der französischen Gesellschaft: Alle staunen gern über die “brennenden Vorstädte”, doch wer kann den Deutschen eigentlich die französische Sozial- und Gesellschaftspolitik der letzten 20 Jahre genau erklären?
Ziemlich beste Freunde?
Seit dem Élysée-Vertrag von 1963 ist die deutsch-französische Freundschaft institutionalisiert: Hier geschaffene Formate und Organisationen, wie die regelmäßigen Regierungskonsultationen, die 2003 vom halbjährlich tagenden deutsch-französischen Ministerrat abgelöst wurden, und das Deutsch-Französische Jugendwerk schaffen nachhaltige Strukturen. Die bilateralen Beziehungen haben aber auch immer von politischen Gesten gelebt: von der Findungszeit unter de Gaulle und Adenauer über das gemeinsame Kriegsgedenken Mitterrands und Kohls 1984 in Verdun bis hin zum gemeinsamen Nein Chiracs und Schröders zum Irakkrieg. Diese Art von gemeinsamen Impulsen ist in den letzten Jahren rar geworden – man denke etwa an das europapolitische Angebot, das Macron in seiner Sorbonne-Rede 2017 formulierte, das aber die damalige Bundesregierung ins Leere laufen ließ.
Der Aachener Vertrag über Kooperation und Integration, der 2019 geschlossen wurde, will in Anschluss an den Élysée-Vertrag neue Akzente setzen, etwa durch die Schaffung einer Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung. Dies gelingt durch kleinteilige Vorhaben – der große Wurf bleibt jedoch aus. Spätestens der Unmut rund um die pandemiebedingten Grenzschließungen im Frühjahr 2020, die für deutsch-französische Lebenswelten einen harten Einschnitt darstellten, deutet auf die blinden Flecken hin, die auch nach fast 60 Jahren engster Zusammenarbeit noch bestehen. Angesichts akuter Krisen steht die deutsch-französische Freundschaft derzeit in keinem der beiden Länder hoch auf der Agenda.
Verständnis und Verstehen
Diese an Gleichgültigkeit grenzende Ahnungslosigkeit könnte folgenschwer sein: Mit der Wiederwahl Macrons sind Frankreich und Europa noch einmal der Katastrophe entgangen, die eine rechtsextreme Staatspräsidentin bedeutet hätte. Die berechtigte Erleichterung darüber, gerade in Deutschland, ist indes kein Ersatz für die gemeinsame, harte Arbeit an aktuellen Herausforderungen wie der Klimakrise, einer sich weitenden Schere zwischen Arm und Reich, der Erosion demokratischer Institutionen in mehreren europäischen Ländern und einem polarisierten globalen Umfeld. Dies sind keine exekutiven, sondern gesamtgesellschaftliche Aufgaben – und sie werden nur dann gelingen, wenn Deutschland und Frankreich nicht nur Verständnis füreinander aufbringen, sondern auch tatsächlich besser verstehen, was auf der anderen Seite des Rheins politisch passiert.
Unsere neue Blogserie La Grande Nation will hierzu einen Beitrag leisten: Sie widmet sich in Deutschland verbreiteten Mythen und Vorurteilen über das Land, das sich selbst nie so nennen würde. Denn während selbst die folkloristischen Aspekte der Länderfreundschaft (Städtepartnerschaften und Frankreichurlaube) auf dem Rückzug zu sein scheinen, erlahmt der deutsch-französische Motor auch und vor allem an der mangelnden innenpolitischen Kenntnis des jeweils anderen. Es gibt zwar einiges Interesse an Frankreich, aber Mythen und Klischees dominieren die deutsche Debatte über unseren wichtigsten Nachbarn – und über viele wichtige Dinge wird erst gar nicht gesprochen. Dies wollen wir in den kommenden Wochen und Monaten ändern.
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Bildquelle via Lukas Hochscheidt
Etienne versteht nach längeren Aufenthalten in Aix-en-Provence und Paris immer besser, was er an Frankreich nicht versteht. Dabei blickt er auch auf Erfahrungen in der bilateralen Diplomatie der beiden Länder zurück. Momentan schließt er sein Studium der Internationalen Beziehungen in Berlin mit einem handelspolitischen Schwerpunkt ab. Seit Ende 2021 ist er Mitglied des Vorstands von Polis180.
Lukas blickt aus polit-ökonomischer und feuilletonistischer Perspektive auf Frankreich, wo er einige Jahre gelebt, studiert und gearbeitet hat. Nach einem Studium der Politik-, Sozial- und Europawissenschaften in Nancy, Paris und Berlin ist er seit 2021 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag tätig. Seit 2020 ist er Mitglied des Vorstands von Polis180 und war 2021-2022 zudem Präsident der Vereins.