Polisblog
7. Dezember 2020

„Moja macica to nie kaplica – meine Gebärmutter ist keine Kapelle“

Das steht auf den Schildern einiger Demonstrierender, die zurzeit auf Polens Straßen ziehen und gegen die jüngsten Verschärfungen des Abtreibungsgesetzes demonstrieren. Immer mehr entwickeln sich die Proteste über ihr feministisches Ausgangsziel hinaus und nehmen die PiS-Regierung und die mächtige katholische Kirche ins Visier. Mit Erfolg? 

Ein Beitrag von Rebekka Pflug und Leonie Hopgood

 

Seit Ende Oktober versammelten sich Hunderttausende Menschen in der polnischen Hauptstadt Warschau und schickten beeindruckende Bilder um die Welt. Aber auch in anderen Städten wie Posen, Krakau oder Danzig und in Hunderten kleineren Orten versammelten sich Menschen, um gegen die Verschärfung des polnischen Abtreibungsgesetzes zu demonstrieren. 

Auslöser für die Proteste ist eine umstrittene Entscheidung des Verfassungsgerichts, die besagt, dass Frauen* und andere gebärfähige Menschen auch bei schweren Fehlbildungen des Fötus keinen Schwangerschaftsabbruch durchführen dürfen und damit gezwungen werden, nicht lebensfähige Kinder zu gebären. Damit wird eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze Europas weiter verschärft. 98 Prozent der momentan legalen Schwangerschaftsabbrüche würden durch diese Regelungen verboten werden – de facto ein Komplettverbot.

Doch es sind nicht nur Frauen*, die gegen das neue Abtreibungsgesetz auf die Straße gehen. An ihrer Seite steht die Queercommunity, aber auch Lehrer*innen und Gewerkschaftsgruppen beteiligen sich an den Protesten in Warschau und Streiks im ganzen Land. Lastwagenfahrer*innen blockierten aus Solidarität in vielen Städten die Straßen für einige Stunden. Die Schilder der Demonstrant*innen, die oft mit einem roten Blitz, dem Zeichen des Ogólnopolski Strajk Kobiet (OSK – Allpolnischer Frauenstreik) verziert sind, zeigen politische Forderungen über den Schutz der bereits schon sehr beschränkten reproduktiven Rechte hinaus.

So entwickeln sich die Proteste immer mehr zu einer politischen Bewegung, die sich gegen den Einfluss der katholischen Kirche, aber auch zunehmend gegen die regierende Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS – Recht und Gerechtigkeit) richtet und diese deutlich unter Druck setzt. Die Menschen in Polen zeigen der Welt, welche zivilgesellschaftliche Macht feministische Proteste um sich vereinen können. 

 

Von einer liberalen bis hin zu einer der restriktivsten Gesetzgebungen in Europa

Seit 1956 waren Schwangerschaftsabbrüche in der Volksrepublik Polen durch ein verhältnismäßig liberales Gesetz geregelt. Neben Abbrüchen aus medizinischen Gründen erlaubte es einen Abbruch auch aus sozialen Gründen, der auf Wunsch der Frau* bis Ende des dritten Schwangerschaftsmonats durchgeführt werden durfte. Dieser Gesetzgebung von 1956 ging jedoch keine Protestbewegung voraus und das Ziel war auch nicht, das Selbstbestimmungsrecht von Frauen* durch eine Liberalisierung zu stärken. Aufgrund fehlender Verhütungsmittel dienten Schwangerschaftsabbrüche vorrangig dem praktischen Zweck der Familienplanung.

Der Sieg der Oppositionsbewegung Solidarność über die staatssozialistische Regierung, der von der katholischen Kirche stark unterstützt wurde, führte zu einem  Wandel des politischen Systems. Im Zuge des polnischen Transformationsprozesses gewannen die katholische Kirche und ihre konservativen Moralvorstellungen wieder an Einfluss. So kam es, dass 1993, nach langen Debatten das „Gesetz über die Familienplanung“ verabschiedet und die legalen Möglichkeiten für Schwangerschaftsabbrüche erheblich eingeschränkt wurden. 

Seitdem ist ein Abbruch nur noch legal, wenn die Schwangerschaft eine Gefahr für Leben und Gesundheit der Schwangeren darstellt, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine schwere und dauerhafte Beeinträchtigung des Fötus besteht bzw. dessen Lebenserwartung als sehr gering eingeschätzt wird oder wenn die Schwangerschaft die Folge eines Verbrechens, wie Vergewaltigung oder Inzest ist. Erschwert wird der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen zudem durch das Recht von Mediziner*innen, die Behandlung aus Gewissensgründen abzulehnen.

In den folgenden Jahren wurde vor dem Verfassungsgericht um die Regelung gerungen, letztendlich einigte man sich auf einen „Abtreibungskompromiss“, der der Forderung der katholischen Kirche nach einem rigorosen Schwangerschaftsabbruchsverbot weit entgegenkommt und die Gesetzeslage von 1993 widerspiegelt. Dies ist seit knapp 25 Jahren die rechtliche Lage in Polen, und zählt damit, neben der in Malta und bis 2018 auch in Irland, jetzt schon zu einer der restriktivsten in der EU. So wurden laut Gesundheitsministerium im Jahr 2018 nur 1110 Abtreibungen in polnischen Kliniken vorgenommen, 1050 davon mit der Angabe „Fehlbildungen des ungeborenen Kindes“. 

Die Dunkelziffer ist dennoch deutlich höher, denn illegale Abtreibungen sind in Polen weit verbreitet und der Markt dazu nicht reguliert: eine illegale Abtreibung kostet oft mehr als das monatliche Durchschnittseinkommen einer Polin. Die Federacja na rzecz Kobiet i Planowania Rodziny (Federa – Föderation für Frauen und Familienplanung) schätzt diese Zahl auf etwa 200.000 Abtreibungen pro Jahr. Viele der ungewollt Schwangeren lassen einen Schwangerschaftsabbruch deshalb im Ausland durchführen.

„Pro Monat wenden sich etwa 20 bis 30 Frauen an uns“, sagt Urszula Bertin von der Hilfsorganisation Ciocia Basia (Tante Barbara). Die 2015 gegründete Initiative ist Teil von Abortion without Borders, die über Grenzen hinweg Frauen aus Polen bei Schwangerschaftsabbrüchen unterstützt. Sie vermittelt in Berliner Praxen oder hilft ihnen, in andere Länder wie etwa die Niederlande oder Großbritannien weiterzureisen, wenn in Deutschland aufgrund einer fortgeschrittenen Schwangerschaft ein Abbruch rechtlich nicht mehr möglich ist. 

Nach dem Urteil riefen allein bei Ciocia Basia Hunderte Frauen am Tag an, so Bertin. Frauen* mit geringen finanziellen Mitteln und aus ländlichen Regionen sind deshalb besonders hart von den Restriktionen getroffen. Diese können sich die oft geheimen Behandlungen in privaten Arztpraxen oder Versorgung im Ausland nicht leisten und greifen deshalb zu günstigeren Abbrüchen ohne Narkose oder zu einem lebensbedrohlichen eigenständigen Schwangerschaftsabbruch. Forschung der WHO zeigt, dass auch das restriktivste Verbot Schwangerschaftsabbrüche nicht verhindert, sondern lediglich gefährlicher macht.

 

Der Kampf um reproduktive Rechte 

Eine einflussreiche Akteurin, die reproduktive Rechte von Frauen* in Polen weiter einschränken möchte, ist die konservative Organisation Ordo Iuris, ein Zusammenschluss konservativ-katholischer Jurist*innen, die sich für die rechtsverbindliche Verteidigung traditioneller Werte einsetzen. Mit der Unterstützung der katholischen Kirche legte sie dem polnischen Parlament 2016 den Gesetzentwurf Stop aborcji („Stoppt Abtreibungen“) vor, der ein vollständiges Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen, außer bei akuter Lebensgefahr der Schwangeren, vorsah. Ärzt*innen und Schwangeren drohten bei Zuwiderhandlung eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren. 

Nachdem ein liberaler Gegenentwurf der Bürgerinitiative Ratujmy kobiety („Retten wir die Frauen“) von der Parlamentskommission zurückgewiesen wurde, kam es landesweit zu Demonstrationen mit rund 100.000 Protestierenden in 118 Städten in ganz Polen, die als Czarny Protest („Schwarzer Protest“) auch international bekannt wurden. Etliche konservative Politiker*innen zeigten sich von den Protesten überrascht und schwenkten drei Tage später bei der zweiten Lesung im Sejm um, sodass der restriktive Gesetzesentwurf von Ordo Iuris mit großer Mehrheit abgelehnt wurde. Dieses Votum gilt als erste große innenpolitische Niederlage der PiS-Regierung. 

Die jetzigen Proteste gehen auf einen erneuten Versuch der Verschärfung aus dem Jahr 2017 zurück. Diesmal zielte die Initiative nicht auf ein vollständiges Verbot ab, vielmehr sollte dann der Schwangerschaftsabbruch verboten werden, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine schwere und dauerhafte Beeinträchtigung des Fötus bzw. dessen Lebenserwartungen als sehr gering eingeschätzt wird. Erst im April 2020, während eines kompletten Lockdowns in Polen, stimmten nun die Abgeordneten der PiS und der rechten Konfederacja Wolność i Niepodległość (Konfederacja – Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit) sowie Teile der Polskie Stronnictwo Ludowe (PSL – Polnische Bauernpartei) für den neuen Gesetzentwurf. Die Entscheidung ist nicht nur eine verfassungsrechtliche, sondern auch eine politische. 

 

Die Ziele der aktuellen Proteste 

Seit Wochen gehen nun also Menschen in Polen landesweit auf die Straßen, weitaus mehr als bei den Protesten in den vergangenen Jahren. Auch die Zusammensetzung der Teilnehmer*innen hat sich geändert; im Vergleich zu 2016 beteiligen sich viel mehr jüngere Menschen. Dies liegt an der Politisierung junger Menschen, die der Judikative bis dato zum großen Teil indifferent gegenüber standen und auf die die jüngsten rechtlichen Entscheidungen eine identitätsstiftende Wirkung hat. 

Auch wird taktisch anders gehandelt; junge Demonstrant*innen, unter ihnen viele Studierende, fahren aus den großen Universitätsstädten in ihre Heimat, um die Proteste vor Ort zu unterstützen. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung gegen das neue Gesetz ist. Ein entscheidender Grund für diese umfassende Mobilisierung ist auch, dass die Verschärfung des Verbots für Schwangerschaftsabbrüche zwar der Auslöser war, die Demonstrationen jedoch mittlerweile auch von anderen Faktoren getragen werden.

In einem Interview spricht Justyna Wydrzyńska von der Gruppe Abortion Dream Team darüber, dass die Proteste sich immer mehr direkt gegen den Konservatismus richten, der durch die katholische Kirche und die rechtskonservative PiS vertreten wird. Landesweit wurden Kirchen beschmiert, Gottesdienste gestört und Geistliche beschimpft. Marta Lempart, das Gesicht des Allpolnischen Frauenstreiks, erklärt die Aktion damit, dass die Protestierenden ein Zeichen gegen die Kirche als Befürworter der Verschärfung setzen wollten. Hauptfeindin, so Lempart, bliebe jedoch die Regierung.

Die Unzufriedenheit über die Regierung macht sich in deren Umfragewerten deutlich, die seit Beginn der Proteste stark gefallen sind. Dieses Problem hat sich die PiS selbst geschaffen. Kritiker*innen sehen in den neuesten Entwicklungen das Produkt der jahrelangen Allianz der Regierungspartei mit der einflussreichen katholischen Kirche in Polen, auch unterstützt von Solidarna Polska (SP – Solidarisches Polen), der rechten Splitterpartei der PiS, mit der sie gemeinsam mit der Partei Porozumienie (Verständigung) in Form eines Bündnisses wieder eng kooperiert. 

 

Ausblick 

Durch die Ausweitung der Proteste hin zu einer umfassenden Regierungskritik, könnte das Ausgangsziel – der Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen für ungewollt Schwangere – aus den Augen geraten, so die Befürchtung von Aktivistinnen wie Wydrzyńska. Zurzeit gehen die Forderungen nach reproduktiven Rechten und die Regierungskritik Hand in Hand. Bereits Ende Oktober erklärten die Initiator*innen, dass das ultimative Ziel des Streiks der Rücktritt der Regierung sei. Die Revolution, die in Polen auf dem Weg sei, so Strajk Kobiet, sei auch ein Kampf für Freiheit.

Am 3. November veröffentlichten die Organisatorinnen deshalb ihre umfassenden Forderungen, die ein Spiegel der politischen Krisen der letzten Jahre in Polen sind. Neben einem besseren Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen wird auch die Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit mit einer unabhängigen Judikative und die Erhöhung der staatlichen Ausgaben für das Gesundheitssystem auf 10 Prozent des BIP gefordert. Forderungen nach LGBTIQ-Rechten, Arbeiter*innen-, Klima- und Tierschutz sowie nach einem säkularen Staat verdeutlichen die progressive Agenda, die sich aus der Protestbewegung entwickeln soll.

Diese Forderungen und Prozesse der OSK stoßen aber nicht nur auf Zustimmung – auch nicht in den eigenen Reihen. Während politische Kommentator*innen daran zweifeln, ob die Forderungen dem Willen der Demonstrant*innen entsprechen, melden andere feministische Organisationen Kritik an der Zusammensetzung des Beratungskommittees des Strajk Kobiet, welche die Diversität polnischer Frauen* nicht ausreichend widerspiegele. 

Wie sich die rechtliche und politische Lage in Polen entwickelt, ist ungewiss. Vor vier Jahren war es der polnischen Frauenbewegung noch gelungen, einen ähnlichen Gesetzentwurf zu stoppen. Dank der Massenproteste ist das Urteil von Ende Oktober diesen Jahres bisher zwar noch nicht wie geplant in Kraft getreten. Das bedeutet aber nicht, dass der Kampf für die Menschen auf den Straßen vorbei ist. Vielmehr sieht es nach Einschätzungen politischer Kommentator*innen nach einer Verzögerungstaktik der Regierung aus. Ein von Präsident Andrzej Duda vorgeschlagener „Kompromiss“ stellte die Protestierenden nicht zufrieden, sondern heizte die Demonstrationen noch mehr an.

Auch wenn das Endergebnis der Proteste noch nicht klar scheint und die genauen Forderungen der Demonstrant*innen noch effektiv gebündelt werden müssen, zeigt sich in Polen zurzeit vor allem eins: die Macht, die feministische Proteste haben können, um Katalysatoren gesellschaftlichen Wandels zu sein, ist enorm.

 

Polis Blog ist eine Plattform, die den Mitgliedern von Polis180 & OpenTTN zur Verfügung steht. Die veröffentlichten Beiträge stellen persönliche Stellungnahmen der AutorInnen dar. Sie geben nicht die Meinung der Blogredaktion oder von Polis180 e.V. wieder.

Bildquelle via Unsplash 

Rebekka leitet die Regionalgruppe Berlin-Brandenburg der Jungen DGO innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e.V. Sie hat Politikwissenschaften im Bachelor und im Master Osteuropastudien mit Schwerpunkt Rechtswissenschaften studiert und arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Europa-Universität Viadrina. Ihre Forschung konzentriert sich auf Anti-Diskriminierungs-, Abtreibungs- und Migrationsrecht in Europa. Ihre Arbeit basiert auf Gender-Theorien, Rechtssoziologie sowie politischer Theorie primär im osteuropäischen Raum.

Leonie leitet seit Sommer 2020 Programm Gender und Internationale Politik und ist seit 2017 bei Polis180 aktiv. Sie hat einen Bachelor in European Studies und einen Master in Internationalen Beziehungen absolviert und arbeitet für eine internationale Menschenrechtsorganisation. Ihr Interesse gilt feministischer Außenpolitik, Gender in internationalen Organisationen und Maskulinitäten.

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