Polisblog
23. Juli 2020

Bekennt sich die EU endlich zu einer humanen Asylpolitik?

Die Operation Irini und das Ignorieren der Rechtsprechung des EuGH geben einen Vorgeschmack auf das, was uns bei den Verhandlungen um den neuen EU Migrationspakt erwarten könnte: Interne Meinungsverschiedenheiten und festgefahrene Verhandlungspositionen führen lediglich zu einem sicherheitspolitischen Minimalkonsens, der eine Reaktion auf die humanitäre Katastrophe innerhalb der und vor den Grenzen der EU aus politischem Kalkül ausklammert. 

Ein Beitrag von Jassin Irscheid

 

Ein neuer Migrationspakt: Vielversprechend angekündigt durch EU Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als Weg, Migration „nachhaltig, mit humanem Ansatz effektiv“ zu steuern. Auch Bundesinnenminister Horst Seehofer sieht Migration als eines der großen europäischen Themen, das unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft vorangetrieben werden müsste. Doch bedenkt man die politischen Entwicklungen der letzten Jahre auf nationaler und EU-Ebene, stellt sich die Frage, ob das wirklich die Reformen werden, die schon längst überfällig sind.

 

Der Weg zur heutigen Migrationsagenda

Nicht erst seit 2015 ist das EU-Asylregime reformbedürftig. Seit Beginn der Harmonisierung des Asylsystems in den 1990er Jahren wurde die Dublin-Verordnung vor allem von Außengrenzstaaten als ungerecht bezeichnet. Die Zuständigkeit lag schon damals hauptsächlich beim Einreiseland, also meist bei Griechenland, Italien, Malta oder Spanien.

Auch ähnlich wie heute war die Lage für Geflüchtete so katastrophal und menschenunwürdig, dass laut Rechtsprechung des EGMR 2011 Dublin-Rückführungen nach Griechenland zeitweise Menschenrechte verletzten.

Nachbesserungen zur Angleichung der Standards haben stattgefunden. Es wurde versucht, gemeinsame Standards im Asylverfahren umzusetzen, doch wirklich handlungsfähig ist die geschaffene Institution, das EASO, nicht. Die Entscheidungsgewalt liegt immer noch vollständig im Ermessensbereich der einzelnen Mitgliedstaaten. 

Die katastrophale Lage Asylsuchender hat sich nun noch weiter verschlechtert – seien es die Lager in Griechenland, das wochenlange Festsitzen auf Rettungsschiffen oder das Abriegeln aktueller Migrationsrouten ohne die Schaffung alternativer legaler Fluchtwege. Auch die Erfolgschancen eines Asylantrags variieren innerhalb der EU stark. 

Verhandlungen um einen gemeinsamen Verteilungsmechanismus sind bisher am Widerstand von Mitgliedsstaaten wie Polen, Ungarn und Tschechien gescheitert. Ein Urteil des EuGH zur Rechtswidrigkeit, sich über EU-Beschlüsse zur Verteilung von Geflüchteten hinwegzusetzen, hat die unwilligen Regierungen unter Berufung auf ihre Souveränität wenig beeindruckt. Von einem gemeinsamen Europäischen Asylsystem sind wir faktisch noch weit entfernt.

 

Minimalkonsens: „Gefahren“-Abwehr

Das einzige, worauf sich zurzeit geeinigt wird, ist das massive Wachstum der Grenzschutzagentur Frontex mit der Begründung, dass es notwendig sei, irreguläre Formen von Migration in die EU zu unterbinden. Damit werden jedoch jene Routen blockiert, die auch von Asylberechtigten genutzt werden, ohne diesen Menschen legale Fluchtrouten zu schaffen. 

Dass auf EU-Ebene die Vorstellung eines stetig wachsendenMigrationsdrucks“ die Debatte prägt, verhindert differenzierte Lösungsansätze für die rechtlich unterschiedlich bewerteten Formen von Migration. Auch wird durch ein solches Framing der notwendige Blick auf die humanitären Schutzpflichten durch die Vorstellung einer Verteidigung der inneren Sicherheit der EU verstellt.

Um keine Anreize zur Migration in die EU zu erzeugen, sollen laut Bundesinnenminister Seehofer Kooperationen mit Drittstaaten aufgebaut und Asylzentren an den Außengrenzen geschaffen werden: Asylverfahren, Berufungsinstanzen, gemeinsame Standards, Rückführungen – all das an den EU-Außengrenzen. Ob dieser Ansatz eine Lösung liefert, scheint höchst fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass gewaltvolle Migrationsverhinderung von Drittstaaten durch EU-Mittel finanziert wird und dass Lager wie Moria vermehrt vorkommen – nur diesmal ein bisschen weiter weg von den WählerInnen und abgeschirmter von Menschenrechtsorganisationen.

Die aktuelle Operation Irini, die das Waffenembargo für Libyen umsetzen soll, zeigt, dass die EU ihre (Ver-)Handlungsfähigkeit in der Asyl- und Migrationspolitik fast vollständig eingebüßt hat. Seenotrettung und andere völkerrechtliche Schutzpflichten werden in den Verhandlungen außen vor gelassen und im Einsatz mutwillig ignoriert. Irini zeigt dabei neue Eskalationsstufen der Missachtung des Völkerrechts.

Nachdem Malta die Operation aus Angst, dass sie MigrantInnen anlocke, blockieren wollte, argumentierte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, dass ein Waffenembargo ein stabiles Libyen und damit weniger MigrantInnen bedeute. Dies zeigt nochmals, wie sehr humanitäre Aspekte vollständig hinter Sicherheitsdebatten im Sinne einer vermeintlichen Streitschlichtung verschwinden. Darüber hinaus haben bereits verschiedene Untersuchungen gezeigt, dass die Anwesenheit von SeenotretterInnen und die Zahl von MigrantInnen, die die Mittelmeerrouten nutzen, keinen Zusammenhang aufweisen.

 

Wir brauchen Reformen – Aber solche?

Die Defizite in der europäischen Migrationspolitik bestehen schon lange. Dass sie nun angegangen werden, scheint unwahrscheinlich. Denn politische Handlungsunfähigkeit und mangelnder Wille, nationale Souveränität für die Schaffung gemeinsamer Standards und einen fairen Verteilungsmechanismus auf EU-Ebene zu übertragen, werden durch sicherheitspolitische Maßnahmen überdeckt. 

Je nachdem, wie dieser Pakt aussieht, könnte er entweder Beweis für die Integrationskraft und den EU-Menschenrechtsschutz oder für das erneute Versagen der EU stehen, interne Meinungsverschiedenheiten in eine konstruktive Politik, statt in einen Minimalkonsens der Sicherheitspolitik umzuwandeln – und im Falle einer humanitären Katastrophe entgegen populistischer Strömungen Handlungsfähigkeit zu beweisen. Auch wenn das heißt, dass sich unwillige Staaten aus der Aufnahmepflicht freikaufen können. 

 

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Bildquelle via unsplash

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Jassin studiert Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sein Fokus liegt auf EU-Migrationspolitik und internationaler Grenzzusammenarbeit. Seit 2020 ist er im Polis180-Programm Migration aktiv.

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