Die lang andauernde, unhaltbare Situation Geflüchteter auf den ägäischen Inseln ist das Ergebnis schwieriger außen-, europa- und innenpolitischer Probleme. Dass es kompliziert ist, darf aber nicht als Rechtfertigung für diese erniedrigende Behandlung von Menschen in der EU gelten.
Ein Beitrag von Johanna Hase
Im Jahr 2020 wäscht sich ganz Europa die Hände und hält Abstand. Ganz Europa? Nein. Auf den ägäischen Inseln verharren mehr als 35.000 Menschen auf dem Raum für knapp 7.000 im Lockdown, ohne Strom, ohne durchgehend fließendes Wasser, ohne ausreichend Seife und in ständiger Angst vor Kriminalität und dem Coronavirus. Zahllose schmerzhafte Berichte und Videos belegen diese erniedrigenden Zustände schon seit geraumer Zeit, und doch ändert sich so gut wie nichts. Wie ist so etwas im Europa des 21. Jahrhunderts möglich?
Außen-, asyl- und innenpolitische Verstrickungen… und dann auch noch Corona
Erstens ergibt sich die Situation aus der Umsetzung des EU-Türkei-Statement vom März 2016. Europäische Staaten haben nicht einmal die Hälfte der anvisierten Zahl syrischer Geflüchteter aus der Türkei aufgenommen und der Türkei auch keine langfristige finanzielle Unterstützung für die Versorgung Geflüchteter zugesichert. Da aber vor allem viel weniger Geflüchtete in die Türkei zurückkehren, als es das Statement vorsieht, und die Geflüchteten die Inseln während der monate- und jahrelangen Asylverfahren nicht verlassen dürfen, wachsen die Camps weiter.
Anfang März kündigte die Türkei durch eine einseitige Grenzöffnung das Statement de facto auf. Trotzdem hält die EU weiterhin an der Vereinbarung fest, die es als Schlüssel zum Abflauen der Aufnahmekrise von 2015/2016 – jedenfalls innerhalb der EU – betrachtet.
Zweitens leiden die Geflüchteten auch aufgrund mangelnder innereuropäischer Solidarität. Die Europäische Kommission will im gespannt erwarteten „New Pact on Migration and Asylum“ eine verpflichtende Form der Solidarität bei der Verteilung und Versorgung Geflüchteter vorschlagen. Solange eine solche Lösung aber nicht gefunden ist, bleiben Staaten wie Griechenland auf freiwillige Hilfe angewiesen.
Die zögerlichen Trippelschritte der Aufnahme minderjähriger, kranker und aus Seenot geretteter Geflüchteter in anderen Mitgliedstaaten bleiben bisher weit hinter den Bedürfnissen und Möglichkeiten zurück. Es ist leider fraglich, ob auch diese Hilfe überhaupt geleistet werden würde, wären die Zustände in den Camps erträglicher.
Drittens verhindert die innenpolitische Polarisierung um Asyl und Migration in einzelnen Mitgliedstaaten oft ein entschiedenes Handeln für Geflüchtete. In Deutschland beispielsweise laufen tiefe Konfliktlinien teilweise durch die Parteien und auch entlang der Regierungsebenen: Erst nach langem Schweigen und Druck besonders aus Berlin und Thüringen genehmigte das Bundesinnenministerium die Aufnahme von bis zu 900 Geflüchteten im Sommer, nachdem im April nur 47 Kinder angekommen waren.
Die Pandemie hat diese verworrene Gemengelage nicht grundlegend verändert, aber politische Positionen und die Situation der Geflüchteten selbst verschärft. So wird das Virus auf der einen Seite als Argument für die Schließung von Häfen in Italien und Malta, für die Aussetzung der Aufnahmen Geflüchteter und für den Stopp der Resettlement-Programme genutzt. Auf der anderen Seite ist es Auslöser für mehr Evakuationen aus den Lagern auf das griechische Festland und Motivator hinter anhaltenden Protesten unter dem Hashtag #leavenoonebehind.
Ist es wirklich so kompliziert?
Die unhaltbare Situation auf den griechischen Inseln ist also tatsächlich das Ergebnis schwieriger globaler, europäischer und nationalstaatlicher politischer Verstrickungen. Dies ist vielleicht eine Erklärung, aber keine Rechtfertigung dafür, dass Europa im Moment Menschen in Unsicherheit und Elend hält und Krankheit und Tod überlässt.
Was muss also passieren? Als erstes müssen die Geflüchteten dringend von den ägäischen Inseln evakuiert werden. Dazu sollten Abgeordnete aller Staaten und Regierungsebenen in Europa die Aufnahmekapazitäten in ihren eigenen Wahlkreisen prüfen und eine schnelle Aufnahme nachdrücklich bei den zuständigen Ministerien fordern. Zudem sollten sich die Mitgliedstaaten auf Vorschlag der Kommission zu langfristiger Solidarität in einem europäischen Asylsystem verpflichten, am besten durch die Aufnahme von Geflüchteten.
Dann sollte Griechenland die Pläne, Schutzsuchende in geschlossenen Camps auf den Inseln festzuhalten, fallen lassen und stattdessen ihre Asylverfahren auch auf dem Festland durchführen. Schließlich braucht die EU eine neue Beziehung zur Türkei, in der sie durch langfristige und realistische Verpflichtungen z.B. im Hinblick auf Resettlements verhindert, dass Geflüchtete erneut zum politischen Spielball zwischen Ankara und Brüssel werden.
In einem offenen Brief im Mai erklärten die Moria White Helmets und das Moria Corona Awareness Team: “We still only have three hours of water everyday, still the health situation is bad and public services are missing. […] please help us in a way that is a real help in these times.” Dass es kompliziert ist, ist am Ende des Tage einfach nicht gut genug als Antwort darauf, warum diese Hilfe im Moment oft ausbleibt.
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Johanna hat Europa- und Migrationsstudien in Magdeburg, Prag, Barcelona und Lüttich studiert, und arbeitet momentan an ihrer Dissertation über Bürgerschaftserzählungen. Seit März 2020 engagiert sie sich im Programm Migration von Polis180.