Polisblog
26. Juni 2020

Wissen und doch nicht wissen? Wenn Expertise relativ ist

Die Mitglieder von Polis180 beschäftigen sich intensiv in ihrer Freizeit und im Beruf oder Studium mit verschiedensten Aspekten des Weltgeschehens. Aber führt das wirklich zu einem besseren grundlegenden Verständnis über das globale Geschehen? Um das herauszufinden, baten wir unsere Mitglieder ein scheinbar einfaches Quiz zu machen.  

Ein Beitrag von Elmar Stracke

 

„Ein kleiner Tippfehler im Lebenslauf und Sie bekommen womöglich die gewünschte Stelle nicht. Aber wenn Sie eine Milliarde Menschen auf dem falschen Kontinent verorten, können Sie immer noch eingestellt werden. Sie können sogar befördert werden.“ (Rosling 2018: 302)

Der schwedische Professor für internationale Gesundheit und medienwirksame „Unwissenheitserklärer“ Hans Rosling fasste seine durch langjährige Studien, Forschungsaufenthalte und Beratungen genährten Zweifel daran im Gapminder-Projekt zusammen. Mind the Gap – achtet auf die Kluft zwischen unserem vermeintlichen Faktenwissen und dem, wie wir die Welt wirklich sehen. 

Der empirische Kern ist ein Quiz von zwölf scheinbar einfachen Fragen über den Zustand der Welt (z.B. Wie viel Prozent der einjährigen Kinder werden weltweit gegen Krankheiten geimpft? – A. 20 Prozent, B. 50 Prozent, C. 80 Prozent?). Aus jeweils drei Antworten gilt es eine richtige auszuwählen. Mittels Raten, also zufälligem Antworten, landet man im Schnitt bei vier richtigen Antworten. 

Der globale Durchschnitt bei 12.000 Teilnehmenden aus 14 Ländern liegt allerdings bei zwei korrekten Antworten. Niemand schaffte die volle Punktzahl, nur eine Person erreichte 11 Punkte. Weltweit hatten 15 Prozent keine einzige richtige Antwort.

Weder zeigte sich, dass Menschen aus bestimmten Ländern besser abschneiden als aus anderen Ländern, noch steigt die Zahl der richtigen Antworten mit dem Bildungsniveau. Eines der schlechtesten Ergebnisse erzielte bei Rosling eine Gruppe von Nobelpreisträgern. Auch beim Weltwirtschaftsgipfel, dessen Publikum ständig von hochqualifizierten Beraterstäben umgeben ist, lagen die meisten Antworten daneben. Sofern man die Methodologie für plausibel hält, heißt das also: Obwohl uns so viel Wissen zur Verfügung steht, verfügen wir anscheinend über so wenig Wissen.

Selten besser als der Zufall 

Wie sieht es bei Polis180 aus? Hilft die regelmäßige Auseinandersetzung mit außen- und europapolitischen Themen? Bis zum 24. Mai 2020 einschließlich haben 87 Polis-Mitglieder die zwölf Fragen des Gapminder-Quiz beantwortet. 

Der Median (türkis) liegt bei immerhin 3 Punkten, der Durchschnitt bei 3,46 Punkten. Durch Raten würde man statistisch 4 Punkte bekommen (orange). Im globalen Gapminder-Projekt lag der Mittelwert bei 2 richtigen Antworten (rosa). 

Unsere Mitglieder schnitten also gemessen am Rest der Welt etwas besser ab, allerdings immer noch schlechter als bei zufälligem Raten. Während unter den 12.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Gapminder-Studie keine einzige Person 12 richtige hatte und nur eine Person auf 11 richtige Antworten kam, wurden beide Punktzahlen bei Polis je einmal erreicht. 

Womöglich kennen sich einzelne Mitglieder hervorragend aus. Womöglich aber war ihnen der Fragebogen doch nicht ganz unbekannt. Das durchschnittliche Ergebnis ist also relativ gesehen ganz gut, bleibt aber absolut gesehen hinter den eigenen Ansprüchen zurück: erwarten wir nicht von uns selbst, zumal wir uns täglich mit diesen Fragen beschäftigen, zumindest besser als der Zufall abzuschneiden?

Unwissenheit kann man nicht ausschließlich besiegen, in dem man einfach bessere oder besser aufbereitete Daten oder Lernwerkzeuge an die Hand gibt: „Es ist die überdramatisierte Weltsicht, die die Menschen zu den dramatischsten und negativen Antworten auf meine Faktenfragen verleitet. Die Menschen greifen konstant und intuitiv auf ihre Weltsicht zurück, wenn sie über die Welt nachdenken, Fakten der Welt zu erraten versuchen oder neu lernen“ (Rosling 2018: 24-25). 

Auch der seriöseste Nachrichtensender wird eine Statistik tendenziös darstellen müssen, damit sie nicht zu langweilig erscheint. Diese Aufmerksamkeitsökonomie verursacht laut Rosling eine permanente Verzerrung unserer Wahrnehmung. Aber hat man nicht doch ein besseres oder ausreichend gutes Verständnis zumindest von einem bestimmten Thema, wenn man sich regelmäßig damit beschäftigt, sich dazu austauscht und informiert? 

Im folgenden Diagramm seht ihr, wie die Mitglieder von Polis in jeder Frage prozentual abgeschnitten haben. Zum Vergleich findet ihr die Daten von Deutschland, Schweden und den USA 2017 sowie als grünen Balken das Ergebnis, das der Zufall produzieren würde. 

In gerade einmal drei Fragen (Mehrheit der Weltbevölkerung, Entwicklung der Armut und Zugang zu Elektrizität) haben unsere Mitglieder besser abgeschnitten, als wenn man einfach raten würde. Warum ausgerechnet in diesen Themen so viele die richtige Antwort wussten, ist aber schwer zu sagen.

Wir können noch eine Ebene tiefer gehen und schauen, wie unsere einzelnen Programme abgeschnitten haben (Programme mit weniger als fünf Teilnehmerinnen sind nicht aufgeführt). Ihr seht in diesem Diagramm einerseits, wie viele Punkte welches Polis-Programm im Mittel erreicht hat (z.B. Digitales & Cybersecurity 3 Punkte). Andererseits aber auch, mit welchen Fragen das jeweilige Programm diese Punkte gesammelt hat. Beispielsweise sieht man, dass das Programm Kulturpolitik die Lebenserwartung (hier gelb) sehr gut eingeschätzt hat, hingegen die Frage mit der Bevölkerungsprognose überwiegend (hier hellgrün) falsch beantwortet hat.

Die Polis-Programme liegen also zwischen zwei und fünf richtigen Antworten. Alle sind besser als das globale Mittel von zwei richtigen Antworten. Zwei Programme (Europäische Identität und Klima & Energie) sowie die Mitglieder des Vorstands waren besser als der Zufall. Aber „besser als der Zufall“ sollte nicht der Anspruch eines Thinktanks sein, oder? Oder vielleicht doch, weil Expertise relativ zum Rest der Bevölkerung gemessen wird?

Zwischen Schein und Sein: Vorwissen oder Unwissen? 

Was heißt all das für unsere Arbeit? Möglicherweise gedeiht ganz viel Unwissen unterhalb der Schwelle des „Vorwissens“. Wenn weder Interesse noch Bildung dafür sorgt, dass wir ein wirklich gutes Verständnis von Fakten über die Welt haben, sollten wir dann vielleicht die Menschen bei unseren Veranstaltungen viel grundlegender abholen? 

Wir starten schnell in spezifische und komplexe Diskussionen, obwohl das Publikum einige grundlegende Dinge offenkundig falsch einschätzt. Aber würden wir uns vielleicht beleidigt oder für dumm verkauft fühlen, wenn der Impulsvortrag quasi „bei Null“ anfängt und unser – vermeintliches – Vorwissen nicht wertschätzt?

Sollten wir uns anders oder stärker reflektieren? Wenn Rosling Recht hat und weder „böswilligen Medien, Propaganda, Fake News, noch nicht einmal falschen oder „alternativen“ Fakten“ (Rosling 2018:25) am Unwissen schuld sind, was heißt das dann für unsere Arbeit im Bereich der politischen Bildung? Vielleicht sollten wir nicht vorschnell Zusammenhänge zu „Bildungsferne“ oder „Filterblasen” annehmen?

Oder ist das Ganze aus methodischen oder anderen Gründen vielleicht gar nicht aussagekräftig? Was können wir daraus lernen und wie können wir damit umgehen? – Falls Ihr Ideen habt, schreibt mir gerne an elmar.stracke@polis180.org oder auf Slack. Ich würde mich freuen, wenn dieser Artikel den Impuls für lebhafte Diskussionen und vielleicht auch Publikationen oder weitere Blogartikel – gerne auch kritischer Art! – geben würde. Ich denke, dass die Arbeit von Polis180 davon nur profitieren kann.

 

Polis Blog ist eine Plattform, die den Mitgliedern von Polis180 & OpenTTN zur Verfügung steht. Die veröffentlichten Beiträge stellen persönliche Stellungnahmen der AutorInnen dar. Sie geben nicht die Meinung der Blogredaktion oder von Polis180 e.V. wieder.

Bildquelle via pixabay

Diagramme stammen vom Autor

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