Religion wird in einer säkularen Außenpolitik schnell als persönliche Angelegenheit oder Hindernis für rationale Entscheidungen abgetan. Ein Blick ins antike Mesopotamien zeigt, dass uns diese reflexartige Abwertung blind dafür macht, wie eng Religion und Außenpolitik seit Beginn der Staatlichkeit und bis heute strukturell, rational und auf teils überraschende Weise verwoben sind.
Ein Beitrag von Elmar Stracke
Eine der größten Schwierigkeiten in der Außenpolitik ist die Herstellung von Vertrauen. Denn anders als bei innerstaatlichen Angelegenheiten gibt es keine Instanz, die in zu nationalen Gerichten vergleichbarer Weise die Einhaltung zwischenstaatlicher Abkommen sicherstellen kann. Die frühen Zivilisationen des Vorderen Orients nutzten in ihren Beziehungen genau zu diesem Zweck und explizit ihre Götter.
Sie stellten eine Art Schiedsgericht dar, das die Einhaltung von Verträgen garantiert. In vielerlei Hinsicht ähnelten sie damit dem heutigen Sicherheitsrat der Vereinten Nationen: sie garantierten größtmögliche Neutralität bei größtmöglichem Durchsetzungsvermögen bei größtmöglicher Akzeptanz.
Göttliche Dienstleister
Im 3. Jahrtausend vor Christus setzt sich in den Kulturen des Mittelmeerraums und Vorderen Orients die Weltsicht durch, dass Götter zwar nur punktuell, aber aktiv in das menschliche Geschehen eingreifen. Sie bleiben nicht mehr in ferner, mythologischer Urzeit hängen, sondern beeinflussen auch das Hier und Jetzt. Dadurch können die Götter Teil des Instrumentariums früher Staatlichkeit werden.
So wird Religion ein unheimlich wichtiges Werkzeug der damaligen Außenpolitik und Diplomatie: nicht weil die Götter sich von alleine einmischen und Feldzüge befehligen, sondern weil die Menschen sie hinzuziehen und ihnen im Grunde Verwaltungsaufgaben übertragen. Dies tun sie, als Staaten mit fortschreitender staatlicher Organisation in Kontakt zueinander treten und beginnen, ihre Angelegenheiten vertraglich zu regeln. Entsprechend dem ältesten erhaltenen internationalen Abkommen, dem Vertrag den Grenzdeich zwischen Umma und Lagasch, beginnt diese Phase spätestens um 2500 vor Christus.
Das Problem damals wie heute: Wie kann ich sicher gehen, dass die andere Partei sich an die Abmachung hält? Die damalige Lösung: Man beschwört den Vertrag bei einem Schutzgott, der die Einhaltung überwacht und Nichteinhaltung sanktioniert. Alle Verträge erhalten als diplomatische Praxis der Zeit Götter als Schutzmächte (z.B. Scurlock 2012).
Menschen sind also kein Spielball der Götter, sondern buchen diese als wahlweise Versicherung oder eine Art Inkassounternehmen. Dies erklärt auch, warum das Geschichtsempfinden beispielsweise in Mesopotamien auf Schuld und Sühne gebaut war. Geschichte war wichtig, um zu sicher zu gehen, dass man nicht unwissentlich vertragliche Verpflichtungen vergaß und für dieses Vergehen von den jeweiligen Göttern bestraft wurde.
Durch das Beschwören der Verträge bei jeweiligen Göttern besaßen diese „unbedingte Gültigkeit und unverbrüchliche Verbindlichkeit“, denn die “Götter werden zur Kontrolle ihrer Einhaltung eingesetzt” (Jan Assmann 2013:255). Doch es bleibt natürlich das Problem, dass nicht jeder Staat an die gleichen Götter glaubt. So war es eine diplomatische Meisterleistung, die Schutzgötter so zu gestalten, dass sie mit der Götterwelt jedes beteiligten Staates kompatibel waren.
Während wir heute glauben, neutrale Instanzen nur dadurch zu schaffen zu können, dass sie unabhängig und losgelöst von Weltanschauungen sind, war der damalige Ansatz, neutrale Instanzen zu schaffen, die gleichermaßen in jeden Staat und seine Kultur eingebettet werden konnten. Entsprechend den damaligen Gegebenheiten waren diese überstaatlichen Schutzgötter ein absolut rationaler außenpolitischer Clou.
Alte Konzepte in einer neuen Welt
Doch mit der Erschaffung des Monotheismus, spätestens aber nach der Aufklärung und Nietzsches Tod Gottes standen die alten, zueinander kompatiblen Götter nicht mehr zur Verfügung. Ein Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen mag heute leider nicht jeden Staat oder internationalen Akteur beeindrucken. Enlil, der sumerische Hauptgott, hingegen würde sich sicherlich nicht mehr durchsetzen können.
Dass die Gottheiten der Antike unseren heutigen Institutionen entsprachen, zeigt eine wichtige Gemeinsamkeit auf: Sie sind nur so stark wie der Glaube an sie. Unsere internationalen Institutionen sind also nicht die erste Form überstaatlicher Institutionen in der Außenpolitik. Sie nehmen aber die bestmögliche Form an, damit die heutigen Gesellschaften an sie glauben können. Der Glaube ist also ein Terrain, auf dem sich nicht nur die Religion, sondern auch die Außenpolitik bewegt. Klassische Religionen und Zivilreligionen unterscheiden sich weniger als man vielleicht denkt.
Die Rolle der Religion in der frühstaatlichen Außenpolitik zeigt uns gleich vier Dinge. Erstens sollten wir Religion nicht per se als irrational oder unsinnig abtun, sondern immer damit rechnen, dass sie eine rationale Lösung für praktische Probleme sein kann. Zweitens ist es naiv zu glauben, dass politische Institutionen sich nicht auf gewisse Formen der (Zivil-)Religiosität stützen oder diese benötigen, nur weil sie beanspruchen, säkular und rational zu sein. Drittens muss Neutralität nicht immer ideologiefrei oder der kleinste gemeinsame Nenner sein. Neutralität kann auch gleichberechtigte und gleichmäßige Kompatibilität heißen, also Unterschiedlichkeit und Vielfalt integrieren anstatt ausklammern. Viertens hängen Religion und Außenpolitik nicht nur instrumentell, sondern zumindest in ihrer Entstehung auch strukturell zusammen.
Viele hundert Jahre nach dem Grenzdeich Umma und Lagasch hat ein anderes Volk des Nahen Ostens die „religiöse Außenpolitik“ übrigens auf ein ganz neues Level gebracht, in dem es einen Vertrag direkt mit einem Gott schloss, anstatt ihn nur als Hüter der Verträge einzusetzen. Klassische Außenpolitik, vielleicht Richtung Himmel. Dieses Volk war das frühe Judentum.
“Wort zum Sonntag” – eine Blogreihe des Programmbereichs Religion & Außenpolitik
Unsere Blogreihe verdeutlicht, welche Rolle religiöse AkteurInnen, Theologien und die Verankerung kulturell-religiöser Praktiken und Ansichten innerhalb von Staat und Gesellschaft in der Außen- und Europapolitik spielen und warum sich eine Beschäftigung mit dem Themenkomplex Religion & Außenpolitik lohnt. Eine rein negative Betrachtung von Religionen als Risikofaktor bezüglich des aus säkularer Perspektive gesehenen Fortschritts lehnen wir ab.
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