Nachdem der kosovarische Premierminister Ramush Haradinaj vom Kosovo-Tribunal in Den Haag vorgeladen wurde, trat er zurück und löste damit vorgezogene Neuwahlen aus. Umfragen sehen die progressive Oppositionspartei Lëvizja Vetëvendosje! in deutlicher Führung. Steht dem jüngsten Staat Europas ein radikaler Kurswechsel bevor?
Ein Kommentar von Frauke Seebass
Wird er der neue Premierminister des Kosovo? Auf einem Panel in Berlin zeigt sich Albin Kurti siegessicher und zugleich demütig. Das Wort Minister, so betont er, bedeute schließlich seinem lateinischen Ursprung nach Diener, was den Premier zum ersten Bediensteten des Volkes mache. Die aktuelle Regierung des Kosovo und ihre Vorgängerinnen aber haben das Land trotz Milliardenhilfen aus dem Ausland nicht aus der Stagnation herausgeführt; er verweist auf zahlreiche Korruptionsskandale.
Nachdem Premier Haradinaj (Allianz für die Zukunft des Kosovo, AAK) vom Kosovo-Tribunal in Den Haag vorgeladen worden war, legte er überraschend sein Amt nieder und löste damit vorgezogene Neuwahlen aus, die für den 8. Oktober angesetzt sind. Laut Umfragen wird die progressive Oppositionspartei Lëvizja Vetëvendosje! (Bewegung Selbstbestimmung, VV) wie schon beim letzten Mal die meisten WählerInnen mobilisieren können.
2017 fehlte ihnen ein Koalitionspartner, dieses Mal soll eine Allianz mit der liberal-konservativen LDK (Demokratische Liga des Kosovo) die nötige Regierungsmehrheit sichern. Sie wird nach aktuellen Prognosen zweitstärkste Kraft und schloss andere Koalitionspartner im Vorfeld aus. Auch deren Spitzenkandidatin Vjosa Osmani sprach sich deutlich gegen Korruption aus.
Am 26. September stellte Kurtis Bewegung ihr Wahlprogramm vor; den Livestream auf Facebook klickten innerhalb von 24 Stunden mehrere hunderttausend BenutzerInnen an. Versprochen werden umfassende Wirtschaftsreformen, sowie ein harter Kurs gegen Korruption zugunsten guter Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit.
Albin Kurti: Vom Troublemaker zum Staatsmann
Kurti selbst betrat die politische Bühne als einer der Anführer der Studentenproteste gegen das serbische Regime in den späten 1990er Jahren, kämpfte gegen die Unterdrückung der albanischen Mehrheitsbevölkerung im Kosovo, deren Rechte, Kultur und Sprache unter dem letzten Präsidenten Jugoslawiens, Slobodan Milošević, massiv eingeschränkt worden waren. Für die umstrittene kosovarische Befreiungsarmee UÇK arbeitete er als politischer Berater, bevor er 1999 wegen Gefährdung der territorialen Einheit zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde.
Zwei Jahre später war Milošević Geschichte und Kurti frei; 2005 gründete er die Partei Vetëvendosje, die ihre Mission im Namen trägt und sich einerseits gegen korrupte Eliten, andererseits gegen das in ihren Augen neokoloniale Protektorat durch NATO, UN und EU richtet. 2008 erklärte der Kosovo seine Unabhängigkeit; die internationalen Missionen blieben.
Noch bevor sich Kurti 2010 mit seiner Partei zu den ersten Wahlen nach der Unabhängigkeit des Landes stellen konnte, wurde er erneut festgenommen, diesmal durch die kosovarische Polizei im Namen der EU-Rechtsstaatsmission EULEX. Sie warf ihm die Verantwortung für die im Februar 2007 eskalierten Proteste gegen die internationalen Organisationen im Land vor, bei denen zwei Menschen getötet und 80 verletzt worden waren.
Trotzdem zog Vetëvendosje in dieser wie in den folgenden Wahlen ins Parlament ein und ist bis heute als Oppositionspartei international berüchtigt, vor allem nach dem Einsatz von Tränengas im Parlament, aus Protest gegen eine Abstimmung im Jahr 2015. Kurti wehrt sich gegen das Image einer radikalen Partei – die „extreme” Situation im Kosovo erfordere dies. Auch in Berlin erklärt er, als Premier mit guter Regierungsführung die Art von Opposition verhindern zu wollen, zu der Vetëvendosje sich gezwungen sah.
Jugend setzt auf Kurti
Entstanden aus der Protestbewegung steht die Partei für aktives Bürgertum und gewährt ihrer Mitgliederbasis breite Mitbestimmung. Ihre Visionen für das Land wollen sie in der Regierung jetzt umsetzen. Getragen werden die vor allem durch junge KosovarInnen im Inland wie in der Diaspora. Auch beim Termin in Berlin melden sie sich zu Wort, setzen ihre Hoffnung in Kurti, fragen, wie sie helfen können.
Seit Wochen mobilisieren einige von ihnen ihre Landsleute in Berlin und anderswo, sich für die Briefwahl zu registrieren. Zehntausende Kosovo-AlbanerInnen leben in Deutschland, viele von ihnen in Berlin. Sie alle können ihre Stimme abgeben, traditionell hat Vetëvendosje unter ihnen eine überwältigende Mehrheit.
Es sieht also gut aus für Kurti und VV, aber der Wahlprozess selbst ist bis zu einem gewissen Grad unberechenbar. Eine Aktualisierung der Wahlregister wäre dringend vonnöten, Emigration und vor allem Todesfälle werden oft nicht gemeldet, um die wenngleich geringen staatlichen Renten nicht zu verlieren.
Immer wieder gab es Berichte über gekaufte Stimmen und Hinterzimmer-Deals im Vorfeld von Wahlen. Eins ist sicher: Einfach werden sich die alten Eliten die Macht nicht nehmen lassen. Und selbst im Fall des zu erwartenden Wahlsiegs der beiden Parteien ist eine Koalition mit der LDK keineswegs sicher.
Was dem Kosovo (und der EU) bevor steht
Vor der nächsten Regierung liegen große Herausforderungen, aber auch beispiellose Chancen, sollte es tatsächlich gelingen, jene Eliten und ihre Netzwerke zu entmachten. Im Kosovo ist Korruption weit verbreitet, der Rechtsstaat ist schwach. Vor allem fehlen wirtschaftliche Perspektiven, junge Menschen sehen oft Emigration als einzige Möglichkeit. Nicht zuletzt ist die außenpolitische Lage des Kosovo kompliziert: Der von der EU fazilitierte Dialog mit Serbien, das den Kosovo nach wie vor als sein Staatsgebiet betrachtet, ist zum Stillstand gekommen.
Viele Länder erkennen den Kosovo nicht als unabhängig an, unter ihnen auch fünf EU-Mitgliedsstaaten. Als einziges Land in der Region gibt es kein Abkommen, das den Bürgern Visumsfreiheit für die Einreise in die Europäische Union garantiert, obwohl alle formalen Bedingungen erfüllt sind.
Aber auch viele ‘Anerkenner-Staaten’ hadern mit einem Premier Kurti und seinem radikalen Image, werfen ihm Populismus vor. Die Partei befürwortet einen Zusammenschluss des Kosovo mit Albanien zu einem großalbanischen Staat, wodurch Befürchtungen einer erneuten nationalistischen Eskalation auf dem Balkan geschürt werden. Kurti lehnt diese Lesart ab und verweist auf das elementare Recht eines souveränen Volkes: Selbstbestimmung.
Auch wird abzuwarten sein, wie sich der designierte Außen- und Erweiterungsbeauftragte der Europäischen Kommission Joseph Borrell zu der Frage positionieren wird. Sein eigenes Herkunftsland Spanien gehört zu den größten Gegnern der kosovarischen Unabhängigkeit und weigert sich, dessen Pass anzuerkennen.
Noch entscheidender wird der neue Kommissar für Erweiterung. Nachdem der Ungar László Trócsányi vom Rechtsausschuss abgelehnt wurde, empfehlen Experten den Slowenen Janez Lenarčič, in dessen Händen der Prozess wohl größere Glaubwürdigkeit erhielte.
Die Rolle der EU in der Region ist insgesamt umstritten und teils widersprüchlich. Deutschland ist keine Ausnahme: Während die Kanzlerin regelmäßig die Wichtigkeit des Westbalkans für Europa betont, zaudert ihre eigene Partei bei konkreten Schritten wie der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien.
In der Debatte um EU-Erweiterung bildet der Kosovo aktuell das Schlusslicht auf dem Westbalkan. Ein Regierungswechsel allein wird dafür keine Abhilfe schaffen – ein nachhaltiger demokratischer Wandel aber könnte politischen Eliten in der Region und darüber hinaus einen unbequeme Spiegel vorhalten.
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