2 OKT | Feministische Perspektiven auf Tunesiens Transformationsprozess

Polis Teatime

Feministische Perspektiven auf Transformationsprozesse am Beispiel Tunesiens

2. Oktober, 18.30-20.00, Café Playing with Eels

Mit Dr. Anna Antonakis

Am 2. Oktober diskutierten wir mit Dr. Anna Antonakis und euch Tunesiens Transformationsprozess aus feministischer Perspektive. Zunächst widmeten wir uns dabei den Frauenrechten in Tunesien. Das Land nimmt in der Region eine Vorreiterrolle in Bezug auf die Rechte von Frauen und Mädchen ein. Bereits 1956, im Jahr seiner Unabhängigkeit, schaffte Tunesien die Polygamie ab, erleichterte Scheidungsprozesse für Frauen und begann, gegen Ungleichheit und Zwangsheirat vorzugehen. Im Jahr 2017 wurde Tunesien das erste Land der Region, in dem häusliche Gewalt als Straftat geahndet wird. Zudem wurde ein Gesetz über paritätische Parteilisten eingeführt, sodass Frauen nun 47% der Stadträte in Tunesien ausmachen. Dennoch gibt es noch viele Angelegenheiten, in denen Frauen benachteiligt werden; beispielsweise beim Thema Erbschaft. Insgesamt erben Frauen 50% weniger als Männer. Tunesiens Präsident Beji Caid Essebsi schlug im August vor, Frauen hier gleiche Rechte einzuräumen, erntete dafür aber die Kritik der konservativen islamischen Gemeinschaft.

Trotz der positiven Entwicklungen merkte Anna Antonakis an, dass das im Vergleich zur Region vermeintlich progressivere Frauenbild in Tunesien in der Vergangenheit auch als politisches Kalkül in den Beziehungen zum Westen genutzt wurde – und um autoritäre Machtstrukturen zu verschleiern. Das Erbe Habib Bourgibas, zwischen 1957 und 1987 der erste Präsident der Tunesischen Republik, werde bis heute ambivalent diskutiert – zwar setzte er sich für wichtige Reformen ein, welche im politischen Establishment sowie der breiten Bevölkerung kaum in Frage gestellt werden. Bei den Reformen wird ihm jedoch Paternalismus und vor allem machtpolitisches Kalkül vorgeworfen.

Laut Anna Antonakis gebe es in Tunesien seit den 1980-er Jahren eine autonome feministische Bewegung, die sich innerhalb der in der Diktatur unterdrückten religiösen Lagern, sowie im autoritären säkularen System immer wieder neu positionieren musste.  Im Zuge der Proteste 2011 wurde auch der Wunsch der jungen Generation artikuliert, sich vom Staatsfeminismus abzugrenzen und Geschlechterbeziehungen und Feminismen neu auszuhandeln. Ein Generationenwechsel in politischen Institutionen, Medien und neu gegründeten Vereinen und Netzwerken bringe zudem neue Herangehensweisen: Autonome Feministinnen in Tunesien denken intersektional und möchten allen Frauen, nicht nur gut gebildeten und situierten, säkularen Frauen aus der Hauptstadt, die Möglichkeit geben, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben. Protestierende Frauen aus dem Landesinneren forderten 2017 beispielsweise mehr Sichtbarkeit für die spezifischen Belange von Frauen innerhalb sozialer Protestbewegungen und Arbeitsplätze. Arbeitslosigkeit ist in Tunesien unter Frauen deutlich höher als unter Männern. So widmet sich eine von den Slogans der Revolution von 2011 („Arbeit, Freiheit, Würde“) inspirierte feministische Bewegung in Tunesien nun immer mehr auch Fragen von struktureller Diskriminierung und sozio-ökonomischer Gleichberechtigung. In der Diskussion merkte eine Teilnehmerin der Veranstaltung an, dass Frauen überdies eine wichtige Rolle im Transitional Justice Prozess spielen. Dennoch sähen sie sich oft gar nicht als selbst von Menschenrechtsverletzungen betroffene, sondern treten als Nebenklägerinnen von Männern auf. Es sei somit noch ein langer Weg dahin, dass Frauen in Tunesien ihre bereits bestehenden Rechte wahrnehmen und nutzen.

 


Unsere Expertin:

Dr. Anna Antonakis hat im Juni 2017 ihre Doktorarbeit mit dem Titel „In Transformation? – Renegotiating Gender and State Feminism in Tunisia between 2011 and 2014: Power, Positionalities and the Public Sphere“ an der Freien Universität Berlin verteidigt. Anfang 2018 erschien der von ihr herausgegebene Band Digital Media and the Politics of Transformation in the Arab World and Asia. Über die letzten Jahre war sie in kulturpolitische Projekte in Tunis und Berlin involviert; von 2014-2016 arbeitete sie an der SWP in dem Projekt Elitenwandel und neue soziale Mobilisierungen in der Arabischen Welt. Aktuell ist sie Sprecherin des Arbeitskreises Politik und Geschlecht der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft.

 

Die Veranstaltung wurde organisiert durch den Polis-Programmbereich Gender und Internationale Politik.

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