Über zwei Milliarden Dollar hat die UN-Geberkonferenz in Genf erneut für den Jemen zugesagt, um die seit 2015 anhaltende humanitäre Krise zu bewältigen. Es sind rund eine Milliarde mehr als im vorigen Jahr. Aber was bringt das viele Geld, wenn nach wie vor Bomben auf Zivilisten fallen?
Ein Interview mit Anne-Kathrin Glück und Benedikt van den Woldenberg
Anne-Kathrin: Von 40 UN-Mitgliedstaaten und Organisationen haben Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate den höchsten Anteil mit jeweils einer halben Milliarde Dollar gespendet. Deutschland beteiligt sich mit fast 50 Millionen Dollar an der humanitären Hilfe, gab aber auch kürzlich bekannt, weitere Rüstungsgüter nach Saudi-Arabien zu liefern. Wie kritisch siehst du die Doppelmoral bezüglich der Spendengelder und Luftangriffe der von Saudi-Arabien angeführten Militärallianz im Jemen?
Benedikt: Eine solche Doppelmoral ist nicht zu verkennen. Während die humanitäre Lage im Jemen eine direkte Folge des Bombardements ist, scheint die Bereitstellung von Hilfsmitteln vor allem auf internationalen Druck zu erfolgen, was aber zu keinem Umdenken führt. Der Jemen war bereits vor dem politischen Umbruch 2011 das ärmste arabische Land. Seitdem gab es Proteste, die gescheiterte durch den Golfkooperationsrat verhandelte Machtübernahme und den fortwährenden inner-jemenitischen Konflikt. Letzterer wird international zumeist als einer zwischen zwei Hauptlagern gesehen: die Anhänger des vertriebenen Präsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi, unterstützt durch Saudi-Arabien und die VAE sowie die Huthis, unterstützt durch den Iran.
Tatsächlich ist die Lage allerdings wesentlich komplexer, denn es gibt weitere Akteure wie die Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel, die Islah-Partei, verschiedene Stämme und Separatisten im Süden des Landes sowie eine robuste Zivilbevölkerung. Im September 2014 nahmen die Huthis die Hauptstadt Sana’a ein und rückten binnen eines Jahres bis zur Küste vor. Das bot Anlass für Saudi-Arabien und die VAE, unterstützt durch mehrere Staaten, eine Militäroffensive im Jemen zu starten. Geopolitisch dürfte das maßgeblich durch die iranische Unterstützung für die Huthis begründet sein. Aber auch die neue Generation um den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman und den emiratischen Kronprinzen Mohammed bin Zayed schlugen eine deutlich forschere Gangart ein.
AK: Inwiefern forscher?
Ben: Beide stellen einen einschneidenden Wandel dar, und zwar nicht nur in Bezug auf ihr Alter. Mohammed bin Salman (Verteidigungsminister und stellvertretender Premierminister) hat seit seinem Aufstieg Anfang 2015 unter dem regierenden König Salman bin Abd al-Aziz Al Saud wiederholt erkennen lassen, dass er Saudi-Arabiens Rolle regional und international stärken will. Sein Vorgehen gegen vermeintlich korrupte Mitglieder der saudischen Elite im vergangenen Jahr unterstrich das ebenso wie gesellschaftliche Reformen im Land selbst. Bislang wurden Entscheidungen im Königreich durch einen Konsens innerhalb der Familie getroffen. Mohammed bin Salman schreckt aber nicht davor zurück, durch nicht abgestimmte oder befürwortete Alleingänge Brüche in der Herrscherfamilie zu riskieren.
Mohammed bin Zayed ist aus einem ähnlichen Holz geschnitzt. Die VAE sind seit 2015 der entscheidende Partner der Saudis im Jemen. Der Kronprinz möchte ebenfalls das regionale Profil der VAE stärken und sieht seine Ambitionen besonders durch den Iran – und dessen Unterstützung für die Huthis im Jemen – bedroht.
Zwar sind beide derzeit ‘nur’ Kronprinzen, ziehen in der Außen- und Sicherheitspolitik allerdings die Fäden. Wichtig ist dabei sich in Erinnerung zu rufen, dass beide die Entwicklung in der Region auf absehbare Zeit prägen werden. Mohammed bin Salman ist 32 und der saudische König Salman nunmehr 82. Mohammed bin Zayed ist bereits 57, hält aber seit dem Schlaganfall seines Bruders, Chalifa bin Zayed Al Nahyan, die Zügel in der Hand.
AK: Auf dieselbe Frage bezüglich der Doppelmoral angesprochen, antwortete der UN-Generalsekretär António Guterres widerspruchslos, dass wir alle wissen, dass Krieg im Jemen herrscht, dass wir die Kriegsparteien kennen und die militärischen Auseinandersetzungen und humanitäre Hilfe getrennt voneinander betrachten müssen. Im vergangenen Oktober führte die von Saudi-Arabien verhängte Blockade der für die Huhti-Kämpfer wichtigen Stützpunkte, der Flughafen Sana’a und der Hafen von Hodeidah, zu internationalem Aufruhr, bis sie wieder aufgehoben wurde. Aus kriegstaktischer Sicht werden so Gegner von Waffenlieferungen abgeschnitten, aber auch Zivilisten von Lieferungen lebensnotwendiger Versorgungsgüter wie Wasser und Nahrungsmittel.
Ben: Stimmt, neben dem Seeweg verfügt der Jemen nur über Landesgrenzen zu Saudi-Arabien und zum Oman. Letztere wird ebenfalls von Truppen der Saudi-Koalition kontrolliert. Am meisten unter dieser Situation leidet zweifelsohne die Zivilbevölkerung. Die Bombardierungen finden oft in Wohngebieten statt, während die Seeblockade die Versorgung von Medikamenten, Nahrung und anderen Gütern enorm erschwert. Die zynische Seite des Vorgehens der Koalition sowie der begrenzte Einfluss der internationalen Gemeinschaft wird allerdings nicht erst durch die Bereitstellung von Hilfsgeldern augenscheinlich. Bereits im August 2015 haben Luftangriffe mehrere Kräne im wichtigsten Hafen des Jemen in Hodeidah zerstört. Auf Ersuchen des World Food Programmes finanzierten die USA (noch unter Präsident Obama) vier neue Kräne. Diese saßen jedoch in Dubai fest und konnten erst im Januar 2018 nach Hodeidah überstellt werden, um die Lieferungen von Nahrungsmitteln sicherzustellen.
AK: Seit 2015 kämpfen vermeintlich schiitische Huthis gegen sunnitische Saudis. Je mehr Zeit vergeht, desto unrealistischer scheint es, dass sich die Kriegsparteien auf einen Waffenstillstand oder gar Frieden einigen, was nicht zuletzt am politischen Interesse externer Akteure wie dem Iran aber auch dem Vereinigten Königreich liegt. Ist eine politische Lösung überhaupt noch möglich? Oder geht es schlichtweg um die Vernichtung der Rebellen?
Ben: Das Narrativ, dass besonders die Saudis zu etablieren versuchen, ist genau das, nämlich dass im Jemen – wie vermeintlich auch in anderen Konflikten der Region – Sunniten gegen Schiiten kämpfen. Saudi-Arabien sieht sich als Führungsmacht der Sunniten (und der Muslime insgesamt), während der Iran diesen Anspruch für die Schiiten erhebt. Dabei ist diese binäre Betrachtung sehr simplistisch und bildet die Dynamiken nur rudimentär ab. Die Unterteilung der Region in Sunniten und Schiiten lässt nicht nur eine Reihe weiterer und wichtigerer Faktoren außer Acht. Im Falle der Huthis ist auch die Frage, ob und wenn ja in welchem Maße sie Schiiten sind, schwierig zu beantworten. Gleichzeitig wird der Krieg im Jemen durch dieses Schwarz-Weiß-Denken in einen breiteren regionalen Kontext gestellt. Das lässt das Leid der Zivilbevölkerung vermeintlich kleiner, aber vor allem aufgrund größerer Prozesse kaum vermeidbar erscheinen. Das alles kommt nicht von ungefähr, sondern ist Kalkül.
AK: Nachdem Russland im vergangenen Februar gegen die vom Vereinigten Königreich entworfene Resolution sein Veto einlegte, wo es um die entscheidende Rolle des Irans im Jemen-Krieg ging, einigte sich der UN-Sicherheitsrat einstimmig auf die Verlängerung des UN-Mandats bis Februar 2019. Wird das Mandat zu diplomatischen Lösungen führen?
Ben: Derzeit erscheint eine baldige diplomatische Lösung eher unwahrscheinlich. Kürzlich gab es Berichte, dass Gespräche zwischen Huthis und Saudis im Oman stattfinden. Insgesamt hat der Konflikt international auch nicht die Präsenz, die er vielleicht haben sollte oder müsste. Den iranischen Einfluss, insbesondere jene Waffenlieferungen an die Huthis hervorzuheben, erscheint in Anbetracht wiederholter Raketenangriffe auf Riad nachvollziehbar. Es stellt allerdings nur eine Seite der Medaille dar. Solange die Koalition von Saudi-Arabien und den VAE humanitäre Hilfslieferungen in solchem Maße erschwert und Luftangriffe auf Wohngebiete zielen, dass selbst krisenerprobte UN-Vertreter kaum Vergleiche finden, wird ein Friedensprozess kaum möglich sein.
AK: Wie viele Menschen bisher im Jemen-Krieg gestorben sind, werden wir sicher nie erfahren. Bisher wurden offiziell rund 6.000 Todesopfer gezählt. Über 22 Millionen Jemeniten sind auf internationale humanitäre Hilfe angewiesen, davon 1,2 Millionen im Westen und Norden des Landes, wo bewaffnete Gruppen, Checkpoints und Luftangriffe den Zugang für Zivilisten deutlich erschweren. Auch die Cholera wütet durchs Land. Können die 2 Milliarden Dollar den Menschen im Jemen wirklich helfen?
Ben: In meinen Augen ist das der wohl bitterste Aspekt der derzeitigen Situation. Die aktuelle Lage im Jemen ist komplex und eine tragfähige politische Lösung erscheint in weiter Ferne. Das Leid der Menschen zu lindern, wäre allerdings vergleichsweise einfach: ein Ende der Blockade und ein Ende der Luftangriffe.
AK hat in London Journalismus, Geschichte und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Gründungsmitglied von Polis180 und Redakteurin des Polis Blog.
Ben hat in Erlangen, Damaskus, Beirut, Leiden und Montreal Politikwissenschaften mit Fokus auf den Nahen Osten studiert. Sein Interesse gilt den internationalen Beziehungen in der MENA-Region, Demokratisierung und Autoritarismus sowie öffentlicher Partizipation. Bei Polis180 ist Ben Redakteur des Polis Blog und inhaltlich aktiv im Programm Frieden und Sicherheit.
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