Polisblog
6. Februar 2017

Festung Europa: Warum wir jetzt über humanitäre Visa reden sollten

Tausende Menschen sterben im Mittelmeer. An den europäischen Grenzen erfrieren Schutzsuchende in Eiseskälte. Auf der anderen Seite des Mittelmeers herrschen menschenunwürdige Bedingungen. Wir gehen zurecht in Scharen gegen Trumps #MuslimBan und Mauerpläne auf die Straßen. Aber wir schweigen, wenn sich unser Europa in eine Festung verwandelt. Zeit, sich für humanitäre Visa einzusetzen.

Ein Beitrag von Jonas Freist-Held

 

Es gibt es, das berühmte Policy-Window und es steht derzeit so weit offen wie vielleicht lange nicht mehr. Die Europäischen Institutionen überarbeiten aktuell den EU-Visakodex [Regulation (EC) No 810/2009] und das Europäische Parlament fordert, dass Geflüchtete in jeder Botschaft oder jedem Konsulat eines europäischen Mitgliedstaates ein humanitäres Visum beantragen können, das Ihnen erlaubt, per Flugzeug sicher in die EU einzureisen. In einem Mitgliedstaat angekommen, könnten sie gemäß internationalen Rechts Asyl beantragen. Der Aufenthalt würde durch ein zeitlich- und territorial beschränktes Visum für die Dauer der Bearbeitung geregelt. Klingt vernünftig, aber nicht jede kluge Idee findet ihren Zuspruch. Der Europäische Rat lehne die Forderungen des Europäischen Parlamentes nämlich ab, heißt es aus dem Büro des parlamentarischen Berichterstatters Juan Fernando López Aguilar.

 

Politik mit tödlichen Folgen

Während der Rat die Verhandlungen zum Visa Code bremst, werden unterdessen im Eiltempo neue Maßnahmen verabschiedet, die Migration unterbinden und Sicherheit erhöhen sollen. Im März 2016 wurde das Türkei-EU Abkommen beschlossen. Im Oktober 2016 startete die neue Grenz- und Küstenschutz Agentur der EU. Ihre Hauptaufgabe: Illegale Grenzüberquerungen verhindern und parallel illegale Menschen effektiv in ihre Herkunftsländer zurückführen. Und in der ersten Februarwoche dieses Jahres einigten sich die 28 Staats- und Regierungschefs der EU nun auf eine enge Kooperation mit der libyschen Küstenwache, um gegen Schmuggler vorzugehen und Migration nach Europa zu unterbinden – festgehalten in einem Zehn-Punkte-Plan.

Obwohl im vergangenen Jahr mit 362.376 Menschen nur ein Drittel der Anzahl von 2015 das Mittelmeer überquerte, war es laut UNHCR das tödlichste Jahr in seiner Geschichte. Das Flüchtlingshilfswerk verzeichnete 5096 Menschen als tot oder vermisst. Die Politik der EU führt dazu, dass Flüchtlinge auf andere, oft gefährlichere Routen ausweichen. So war es, als Spanien meterhohe Schutzwände in seinen nordafrikanischen Enklaven errichtete und damit ein Durchkommen beinahe unmöglich machte. Und so war es, als die Türkei ihre Grenzkontrollen im Rahmen des EU-Türkei Deals verschärfte.

Jetzt Libyen: Die Festung Europa nimmt weiter Gestalt an.

 

Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit!!!

Von dem einstigen Geltungsanspruch, sich global für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit einzusetzen, ist wenig übriggeblieben. In der Globalen Strategie, die Federica Mogherini im Juni 2016 vorstellte, stehen die Interessen der EU-BürgerInnen im Mittelpunkt. Das scheint vor allem eins zu bedeuten: Sicherheit. Auf ihren 60 Seiten kommt 149 Mal der Begriff Sicherheit vor, dabei nur 14 Mal Demokratie. Wo da die globale Dimension bleibt, ist ein Rätsel. Vielmehr positioniert sich die EU als ängstliche Regionalmacht und in der Flüchtlingspolitik drückt sich das in Abschottung aus. Die EU besinnt sich auf sicherheitspolitische Themen, statt die Herausforderungen in ihrer Nachbarschaft zum Wohle der Schutz- und Hilfesuchenden zu gestalten. Ein Minimalkonsens: Denn zu mehr scheint die vom Intergouvernementalismus gebeutelte Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht in der Lage.

Glaubt man Patrick Kingsley, dann werden durch immer größere Hürden die Menschen nicht daran gehindert, Schutz in Europa zu suchen. Im Gegenteil. Der Journalist des britischen Guardian reiste mehrere Monate durch 17 Länder entlang der Hauptflucht- und Migrationsrouten in Nord- und Subsahara Afrika. Seine Erfahrungen hielt er in seinem Buch The New Odyssey – the Story Behind Europe’s Refugee Crisis fest. Darin kritisiert er die Kurzsichtigkeit und das mangelnde Verständnis für die Lebensumstände der Menschen, die sich auf die lange Flucht machen.

 

Eingesperrt und Entmenschlicht

Kingsley erzählt von ausgebrannten Menschen, denen der Tod keine Angst mehr macht, deren Antrieb einzig und allein eine bessere Zukunft für ihre Kinder ist. Von Menschen aus Syrien, Eritrea, Nigeria oder dem Irak, die nie vorhatten nach Europa aufzubrechen und ein neues Leben in Nordafrika suchten, aber aufgrund der menschenunwürdigen Bedingungen in Ägypten oder Libyen die Gefahren des Mittelmeers als geringeres Übel und einzigen Ausweg sahen. Er zeichnet die Strukturen eines korrupten Systems, in der sowohl in Libyen als auch Ägypten die Küstenwache gleichzeitig mit der EU und den Schmugglern zusammenarbeitet. Er erzählt von Menschen, die in Libyen in Privatgefängnissen festgehalten, gefoltert, vergewaltigt und misshandelt werden; von wöchentlichen Hinrichtungen, um neuen Platz in ohnehin überfüllten Lagern zu schaffen.

Auch die UN veröffentlichte Ende letzten Jahres einen Bericht, der sich mit den Beobachtungen von Kingsley deckt. Der Titel lautet Detained and Dehumanised (Eingesperrt und Entmenschlicht). In einer erst kürzlich veröffentlichten Depesche des Auswärtigen Amtes schlagen auch deutsche DiplomatInnen Alarm. Und wir wundern uns, dass Menschen zu uns flüchten? Kingsley schreibt, dass Nordafrika zwischen zwei tödlichen Meeren liege: Dem Mittelmeer und der Sahara – nur dass die Sahara das weitaus risikoreichere sei. Durch sie zurück? Niemals! Das Mittelmeer wird somit zum einzigen Ausweg.

 

Warum der Ansatz der EU grundfalsch ist…

Die Not und die Qualen der Individuen verschwinden bei politischen EntscheidungsträgerInnen hinter anonymen Statistiken über illegale Einwanderung: Und die gilt es möglichst gering zu halten. Dabei treibt genau diese Not das Geschäft der Schlepper an. Die EU kann noch so viele Maßnahmen treffen, doch wird sie niemanden daran hindern, im Angesicht des Todes zu flüchten. 21,3 Millionen Menschen sind heute weltweit auf der Flucht und ein Bruchteil davon macht sich auf den Weg nach Europa. 50 Prozent davon sind unter 18. Wenn das langfristige Interesse der EU Sicherheit und Stabilität heißt, dann sollte sie auch diesen jungen Menschen eine Perspektive bieten. So wie UNHCR ist Kingsley der Meinung, dass nur glaubhafte, legale Migrations- und Fluchtmöglichkeiten Menschen daran hindern würden, ihr Leben gleich mehrfach aufs Spiel zu setzen. Und genau aus diesem Grund fordert das Europäische Parlament die Einführung humanitärer Visa.

 

…und was sie wirklich tun sollte

Mit ihrer Vergabe ließen sich gleich mehrere Probleme auf einmal lösen. Durch eine glaubwürdige und aussichtsreiche Alternative auf Schutz würden weniger Menschen die gefährliche Reise auf sich nehmen. Das Massensterben hätte ein Ende. Das Geschäft der Schlepper würde signifikant zurückgedrängt. Der Menschenhandel und Missbrauch würde vielfach verhindert. Geflüchtete könnten wirklich effektiv registriert und umgesiedelt werden ohne Extrakosten, da die Betroffenen die Flugtickets selber zahlen, was vielfach günstiger ist, als sich den Schleppern anzuvertrauen. Der Schengenraum könnte wieder uneingeschränkt operieren und die europäische Grenzsicherung könnte endlich das tun, wozu sie beauftragt ist: Die Sicherheit an den europäischen Grenzen zu gewährleisten, anstatt Schutzsuchenden ihr Recht auf internationale Hilfe zu verwehren. Die EU sollte ihren globalen Gestaltungsanspruch wieder mutiger vertreten. Denn wir brauchen humanitäre Visa – jetzt!

 

Das Polis Blog ist eine Plattform, die den Mitgliedern von Polis180 zur Verfügung steht. Die veröffentlichten Beiträge stellen persönliche Stellungnahmen der AutorInnen dar. Sie geben nicht die Meinung der Blogredaktion oder von Polis180 e.V. wieder. Image source: „humanity“, _michael _ Jackhttp://bit.ly/2l9XNF5, lizensiert unter Creative Commons license 2.0.: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/.

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