Polisblog
19. Februar 2016

Schengen-Serie VII: Schengen – oder die Zukunft der Vergangenheit

Staatsgrenzen sind Realität – und für die meisten Menschen etwas Selbstverständliches und geradezu Notwendiges. Aber wie normal sind Grenzen wirklich?

Ein Gastbeitrag von Ulrike Guérot

 

Das System der politischen Grenzen ist die historische Ausnahme. Die sogenannten vier Freiheiten (Personenfreizügigkeit, sowie Freizügigkeit für Waren, Dienstleistungen und Kapital),  der Binnenmarkt und der Schengenraum, sind die größte Errungenschaft des europäischen Einigungsprojekts nach dem Krieg, aber sie sind kein Novum in der europäischen Geschichte, sondern bloß ein Schritt zur Wiederherstellung historischer Normalität: Denn die Grenzenlosigkeit war der europäische Naturzustand vom Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.

Grenzenlosigkeit als europäischer Naturzustand

Im Mittelalter wanderte der deutsche Reichstag und versammelte die deutschen Kurfürsten in verschiedenen europäischen Städten von Luxemburg bis Prag. Die mittelalterlichen Studierenden zogen ihren Lehrern hinterher von Rotterdam bis Bologna. Allenfalls Kultur-, Küchen-, Sprach-, Religions- oder geografische Grenzen, nicht aber nationale Grenzen waren in Europa wichtig. Aber diese kulturellen Grenzen trennten nicht; im Gegenteil, sie verbanden Europa. Selbst topographische Grenzen wie Flüsse oder Berge schafften es nicht, einheitliche Kulturräume zu trennen: die Basken leben südlich und nördlich der Pyrenäen; die Tiroler südlich und nördlich des Brenners.

Das, was wir heute unter einem Pass verstehen, gibt es erst seit dem 21. Oktober 1920. Damals definierte der Völkerbund, wie ein „Passport“ ausgestattet und beschaffen sein müsse, um von den Staaten der Welt als Reise- und Grenzübertrittsdokument anerkannt zu werden. Interessant (und leider vergessen) ist die Präambel, die der Völkerbund der Definition eines international anerkannten Passes voranstellte, nämlich: dass die Einführung des Passes nur vorläufige Gültigkeit habe,  bis zum „complete return to pre-war conditions which the conference hopes to see gradually re-established in the near future“.

Die heutige grenzenlose ‚Schengen-Zone’ als historische Einmaligkeit zu sehen, ist darum irreführend. Im Gegenteil:  Die Erinnerung daran, dass jahrhundertelang europäische Grenzenlosigkeit selbstverständliche Normalität war, ist wichtig, um überhaupt diskutieren zu können, was dieser europäische Raum heute sein soll, nämlich was er immer schon war: ein Palimpsest aus Grenzen, die aber keine sind, sondern die lediglich die Kulturräume definierten, die aus der kulturellen Vielfalt in Europa immer den einen europäischen Raum gemacht haben.

Grenzen nur für Menschen, nicht aber für den Handel?

Sich daran zu erinnern, ist auch wichtig, um diskutieren zu können, wie dieser europäische Raum mit der Flüchtlingskrise umgehen kann. Die Frage ist heute, wie man in Zukunft damit umgehen will,  dass Europa offene Grenzen für den Handel will und braucht, aber nicht für Menschen? Die Tatsache, dass durch die Grenzschließlungen innerhalb der EU jetzt auch z.B. der LKW-Verkehr – und damit Wirtschaft, Produktion, Handel und Konsum und letztlich unser Lebensstandard – betroffen sein könnten, und dass sich geschlossene Grenzen auf Heller und Pfennig buchhalterisch als Verlust beziffern lassen, dass just-in-time Management und knappe Lagerhaltung nur möglich sind, wenn LKWs eben nicht durch langes Warten Zeit hinter Grenzzäunen verlieren, das alles dämmert uns inzwischen. Aber eine Grenze, die für LKWs offen, für Flüchtlinge indes geschlossen ist, die kann es nicht geben. Schließung ist also nicht machbar und mithin keine Lösung, Obergrenzen auch nicht. Der EU bleibt realistisch nur die Öffnung – sie wird ihren Raum und sprichwörtlich ihre Welt teilen müssen, mit den anderen, den Menschen, die nach Europa wollen.

Die belgische Psychoanalytikerin Luce Igaray prägte den Begriff „Welt teilen“ als moderne Fortschreibung des Kant’schen ‚Weltgastrecht’, das davon ausgeht, dass alle Menschen – gleich geboren – mithin das gleiche Recht haben, prinzipiell überall auf der Welt leben zu dürfen. Gegenüber diesem Menschenrecht können Staaten also nicht die territoriale Daseinsberechtigung für Menschen definieren. Es geht also um das globale Recht auf Heimat und Teilhabe aller an der globalen Allmende jenseits von Staaten, um die Organisation von Heimat in Zeiten von permanenter Migration.

Teilhabe an Europa

Werfen wir angesichts der Flüchtlingskrise einen Blick in die jüngere Geschichte, um uns von Lösungen inspirieren zu lassen, die sich bereits als nachhaltig erwiesen haben: was haben europäische Migranten gemacht, die während der Hungersnöte und politischen Krisen im 18. und 19. Jahrhundert in Massen in die Neue Welt ausgewandert sind, Iren, Italiener, Balten, Deutsche…?  Sie haben dort ihre Städte neu gebaut.

Überall in Amerika finden wir Städtenamen wie New Hannover, New Hamsphire, New Hamburg usw.  Niemand hat einen Asylantenstatus bekommen, hat staatliches Geld erhalten, wurde auf einen Sprachkurs oder gar eine ‚Leitkultur’ verpflichtet. Die europäischen Flüchtlinge sind einfach in einer neuen Heimat angekommen und haben dort ihre alte Heimat nachgebaut.

Wie wäre es, wenn Flüchtlinge in Europa Bauland zugewiesen bekämen, benachbart zu den europäischen Städten, aber in einem Abstand, der die Andersartigkeit wahrt. So entstehen Neu-Damaskus und Neu-Aleppo, Neu-Madaya usw. inmitten von Europa. Kurz: wir verzichten auf Integration. Wir respektieren Andersartigkeit – und lassen die Neuankömmlinge in ihrer Andersartigkeit unter sich alleine.

Europa gibt Bebauungsland als Starthilfe, das erschlossen ist, also angebunden an Infrastruktur, das aber ansonsten frei zur Gestaltung durch die Neuankömmlinge ist. Das ganze Geld, das wir jetzt ausgeben für Integrations- und Sprachkurse, für Zäune und Grenzschutz, für Sicherheitsmaßnahmen oder Polizei, gibt Europa den Flüchtlingen als Starthilfe. Stadtplaner, die sich mit Flüchtlingscamps beschäftigen und diese erforscht haben, berichten, dass aus Flüchtlingscamps nach kurzer Zeit Städte werden, wenn man die Flüchtlinge nur allein lässt. Der Städtebau scheint in der Natur des Menschen zu liegen.

Drei Generationen später – solange dauert es meistens – haben die Kindskinder der ersten Generation Neuankömmlinge die Sprache der neuen Heimat gelernt, einfach, weil es praktischer ist. Weitere hundert Jahre später erinnert – ähnlich New Hannover oder Paris, Texas oder Vienna, Virginia in den USA heute – nur noch der Stadtname daran, dass die Stadtgründer einst aus einer anderen Welt kamen.

 

Polis180 veranstaltet am 20. Februar 2016 eine Konferenz unter dem Titel “Schengen – begrenzt grenzenlos?” in Berlin. Das Polis Blog veröffentlicht in den kommenden Wochen zusammen mit Café Babel eine Serie von Beiträgen, die verschiedene Facetten des Schengenraums und der damit verbundenen Vorstellung eines grenzenlosen Europa in den Blick nimmt.

Das Polis Blog ist eine Plattform, die den Mitgliedern und Gästen von Polis180 zur Verfügung steht. Die veröffentlichten Beiträge stellen persönliche Stellungnahmen der AutorInnen dar. Sie geben nicht die Meinung der Blogredaktion oder von Polis180 e.V. wieder. Bildquelle: http://bit.ly/1SVWeFF.

Dieser Blog-Beitrag ist eine gekürzte und veränderte Fassung des Artkels “Lust auf eine gemeinsame Welt. Ein futuristischer Entwurf für europäische Grenzenlosigkeit“, von Ulrike Guérot und Robert Menasse in: Le Monde Diplomatique, Februar 2016, S. 12/ 13.

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