Polisblog
17. Februar 2016

Schengen-Serie VI: Flüchtlingswelle und Druck zur Einschränkung des Schengen-Abkommens – Ökonomische Aspekte

Die ökonomischen Effekte einer Abschaffung des Schengen-Abkommens wären erheblich, das entstehende symbolische Politiksignal für die EU zudem destruktiv – eine bessere deutsche und europäische Flüchtlingspolitik ist daher dringlich.

Ein Gastbeitrag von Paul J.J. Welfens

 

Flüchtlingswelle und Politikreaktion als Ausgangspunkt

Die Flüchtlingswelle des Jahres 2015 hat Deutschland 1,1 Millionen Flüchtlinge gebracht. Relativ zur Bevölkerung waren die Zahlen für Schweden und Österreich noch etwas höher, während sich viele andere EU-Länder dem Strom von Flüchtlingen aus dem Bürgerkriegsland Syrien und aus anderen Krisenländern im arabischen Raum, in Asien und Afrika zu entziehen trachten. Österreich hat Anfang 2016 seine Grenzkontrollen deutlich verschärft und folgt damit ansatzweise der massiven Erhöhung der Grenzhürden in Ungarn. Schweden und Dänemark haben unter dem Eindruck der Flüchtlingswelle – und im Kern als Reaktion auf eine fehlende EU-Einbindung durch die Politik von Kanzlerin Merkel im September 2015, als die Einberufung eines EU-Gipfels unterlassen wurde – Ende 2016 ihre Grenzkontrollen verschärft und Griechenland ist neben dem weniger stark betroffenen Italien das EU-Land, über das die meisten Flüchtlinge bzw. Asylbewerber einreisen.

Auch in Deutschland gab es zur Jahreswende 2015/2016 eine Diskussion um die Einführung verschärfter Grenzkontrollen und einer Flüchtlingsobergrenze, wie sie Österreich offiziell zu Jahresbeginn 2016 verkündet hat. Wenn immer mehr Länder ihre Grenzen für den freien Personenverkehr in der EU schließen, dann droht eine faktische Aussetzung des Schengen-Abkommens, das für alle EU-Länder außer Irland und Großbritannien gilt und Personenfreizügigkeit innerhalb des Schengen-Raumes etabliert. Welches wären die ökonomischen Effekte einer Aussetzung bzw. Abschaffung des Schengen-Abkommens und damit einer der vier Säulen des EU-Binnenmarktes, der seit Anfang 1993 gilt und sehr erhebliche Wohlstandseffekte für die Bürgerinnen und Bürger mit sich gebracht hatte?

Schengen-Abkommen als ökonomisch-politischer Baustein für EU-Binnenmarkt

Man kann das Schengen-Abkommen als integralen Ergänzungsbaustein zum EU-Binnenmarkt betrachten. Ungehindertes Reisen für Personen bzw. Arbeitnehmer und Touristen in der EU ist ein großer Nutzen- und Komfortgewinn für fast alle Menschen in der Europäischen Union. Und natürlich profitiert auch die Wirtschaft von der Vereinfachung und Beschleunigung europäischer Logistikketten, die mit dem Schengen-Abkommen verbunden ist. Im Cecchini-Bericht der Europäischen Kommission (1988) über einen kommenden Binnenmarkt werden die Kosten des Nicht-Binnenmarktes ansatzweise erfasst und quantifiziert, wobei der Autor als Kosten etwa 6% des Bruttoinlandsproduktes errechnet hatte – das ist etwa das Doppelte dessen, was die EU in Studien nach Realisierung des Binnenmarktes als tatsächliche Vorteile ermittelte.

Wenn man nun fragt, wie hoch die Auswirkungen wären, wenn man das Schengen-Abkommen aussetzt bzw. abschafft, dann geht es zunächst um eine Säule des Binnenmarktes, nämlich den freien Personenverkehr: Hier würden faktisch die Arbeitsmigration und der Tourismus massiv behindert. Obendrein bedeutete eine Neueinführung von physischen Grenzkontrollen, dass wohl wieder – wie vor 1993 – etwa 1/10 der LKW-Transportkapazitäten in der EU stillstünden. Das wäre eine immense Verschwendung von Ressourcen. Zudem könnten dann die international weiträumig aufgebauten Produktionsnetzwerke nicht mehr wie bisher funktionieren, was erhebliche Einkommens- und Beschäftigungsverluste zu Folge hätte. Der französische Ökonom und Regierungsberater Jean Pisani-Ferry hat die EU-weiten Einkommensverluste aus einer Abschaffung des Schengen-Abkommens auf 0,8% geschätzt. Diese Abschätzung erscheint als relativ hoch, aber es gibt keinen Zweifel, dass die Neueinführung von Grenzkontrollen und die faktische Beschränkung der Freizügigkeit hohe Kosten zur Folge hat – und auch für einige Länder enorme Probleme brächte.

Die Einführung umfassender Grenzkontrollen hieße unter anderem, dass sich die Flüchtlinge aus Syrien und anderen arabischen Ländern in Griechenland in hoher Zahl stauten: Über Griechenland kamen 2015 rund 600 000 Flüchtlinge in die EU. Auf 10 Millionen Einwohner in Griechenland bezogen, wäre das Land binnen weniger Jahre – zumal im Ausgangszustand ökonomisch massiv destabilisiert – in eine ökonomisch-politische Abwärtsspirale geraten. Die Abschaffung des Schengen-Abkommens hätte also nicht nur Realeinkommens- und Jobverluste zur Folge, die Europäische Union wäre dann rasch an einer kritischen Stelle destabilisiert: auf dem Balkan. Die Destabilisierung beträfe sicher nicht nur Griechenland, sondern bald den ganzen Balkan und die EU müsste sich letztlich dann ohnehin um die Probleme kümmern bzw wäre unmittelbar davon betroffen: Es käme wohl zu einer millionenfachen Flüchtlingswelle aus dem Balkan, die erst recht für eine unkontrollierte „Zuwanderungsdynamik“ sorgen dürfte.

Schengen-Abkommen bewahren

Natürlich entstünde bei einer längeren Aussetzung des Schengen-Abkommens auch der Eindruck bei der Bevölkerung, dass wichtige EU-Integrationsfortschritte offenbar rückgängig zu machen sind. Das brächte eine verstärkte Vertrauenskrise Richtung EU-Institutionen in Gang und wäre von daher eine strategische Schwächung der Europäischen Union; hier sind schon bei der Währungsunion Zweifel am Fortbestand einer institutionellen EU-Innovation entstanden. Wenn mit dem Schengen-Abkommen ein wichtiger Integrationsbaustein fiele, dann gäbe es vermutlich eine Expansion von Anti-EU-Aktivitäten und auch die Zerstörungsmanöver von Euro-Gegnern nähmen vermutlich erneut zu. Im Übrigen täusche man sich nicht, dass sich durch das Aussetzen des Schengen-Abkommens wirklich Probleme, etwa bei der Flüchtlingswelle, lösen ließen: nur die Art der Probleme würde sich ändern und es spricht wenig dafür, dass bei einer geschwächten EU-Wirtschaft zusätzliche politische Reformspielräume entstehen könnten. Im Gegenteil, die ökonomischen Verteilungsprobleme würden sich verschärfen, die politischen Konflikte auch.

Die EU sollte sich immer auch im Vergleich zu den Vereinigten Staaten sehen. Auch in den USA würde eine Beschränkung der Freizügigkeit zwischen Bundesstaaten als extreme Einschränkung persönlicher Freiheit empfunden und sicherlich wäre dies eine Krisenmaßnahme, die man nur in extremen Notsituationen – und dann auch nur für sehr wenige Bundesstaaten – für vorstellbar hielte.

Natürlich ist ein Zusammenbruch des Schengen-Abkommens in der EU nur dann abzuwenden, wenn es gelingt, in Zukunft die EU-Außengrenzen zuverlässig zu schützen und die Flüchtlingswelle einzugrenzen bzw. sinnvoll zu kanalisieren. Maßnahmen wie die Einführung eines Zuwanderungsgesetzes in Deutschland und damit die Schaffung legaler Einwanderungsmöglichkeiten sowie ein Konzept zur Befriedung Syriens und zur Stabilisierung des arabischen Raumes sind wünschenswert, um das Schengen-Abkommen aufrecht zu erhalten. Die Länder der Europäischen Union stehen im frühen 21. Jahrhundert vor der Frage, ob sie den gewachsenen Integrationsstand halten und ausbauen können: Vermutlich wird nur die Schaffung einer Politischen Union für eine Mindestzahl von EU-Ländern den europäischen Integrationsprozess stabilisieren können. Denn es besteht die Gefahr, dass die EU bei einem Mangel an institutioneller Modernisierung im Zeitverlauf zerfallen wird.

 

Polis180 veranstaltet am 20. Februar 2016 eine Konferenz unter dem Titel “Schengen – begrenzt grenzenlos?” in Berlin. Das Polis Blog veröffentlicht in den kommenden Wochen zusammen mit Café Babel eine Serie von Beiträgen, die verschiedene Facetten des Schengenraums und der damit verbundenen Vorstellung eines grenzenlosen Europa in den Blick nimmt.

Das Polis Blog ist eine Plattform, die den Mitgliedern und Gästen von Polis180 zur Verfügung steht. Die veröffentlichten Beiträge stellen persönliche Stellungnahmen der AutorInnen dar. Sie geben nicht die Meinung der Blogredaktion oder von Polis180 e.V. wieder. Bildquelle: http://bit.ly/1KHJ8Zb .

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