Polisblog
9. Februar 2016

Schengen-Serie IV: Pokern mit der Grenze – Ein Vabanquespiel ohne Limit

Die Schengen-Gemeinschaft besticht derzeit mit innerer Uneinigkeit und zweifelhaften Kompromissen. Sind die Grenzen der Glaubwürdigkeit erreicht?

Ein Beitrag von Lena Rother

 

Der Begriff Schengen ist in den letzten Monaten vielerorts in der Öffentlichkeit zu hören und zu lesen. Er wird laut eigener Umfragen[1] mit einem „politischen Meilenstein“, einer „Gemeinschaft ohne Grenzen“ und „Mobilität“ verbunden. Die Befragten sprechen von Freiheit, Solidarität und dem Recht, sich zu jeder Stunde in ein anderes Land zu begeben und ohne Sorgen um Visa oder große bürokratische Hürden ein neues Leben aufbauen zu dürfen. Doch sind diese Werte und Rechte im Licht der gegenwärtigen Migrationspolitik der Europäischen Union und der Schengen-Länder noch glaubwürdig?

Schengen damals und heute

Schengen ist ein idyllisches luxemburgisches Dorf an der Mosel. Ein Ort umgeben von grünen Weinbergen, die an Ordnung, harte körperliche Arbeit und süße Gaumenfreuden denken lassen. An diesem Ort kamen 1985 Deutschland, Frankreich und die drei Benelux-Staaten überein, dass sie zukünftig gegenseitige Grenzkontrollen abbauen und somit den europäischen Binnenmarkt stärken würden. Viel ist seitdem passiert und die Schengen-Familie auf 26 Mitglieder gewachsen. Im Rahmen des Amsterdamer Vertrages wurde Schengen im Jahr 1997 offiziell Teil der Europäischen Union. Die Schengen-Länder teilen sich heute sämtliche Regelungen zu Innen- und Außengrenzen sowie Visafragen und verfolgen die kontinuierliche Erweiterung gemeinsamer sicherheitspolitischer Systeme.

Und doch ist derzeit wenig von der einstigen Idylle der luxemburgischen Geburtsstätte zu spüren. Insbesondere innerhalb des letzten Jahres, in dem Flüchtlingsströme nach Europa in beispielloser Größe auftraten, haben sich deutliche Konflikte innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten abgezeichnet. Sie diskutierten über die Verteilung von Geflüchteten auf einzelne Länder, über Unterstützungsmechanismen für die Grenzstaaten, die als erste europäische Anlaufstelle mit immensen Herausforderungen konfrontiert sind und über den Umgang mit Geflüchteten in Flüchtlingslagern. Stets standen die Debatten im Spannungsfeld von einerseits effektiven, zahlenorientierten Bestrebungen und andererseits von dem menschenrechtsbasierten Ansatz, den die EU als ihr Fundament deklariert.

Das Konzept der Glaubwürdigkeit

Laut Duden ist jemand oder etwas glaubwürdig, der/die/das „als wahr, richtig, zuverlässig [erscheint] und so das Glauben daran [rechtfertigt]“. Die Glaubwürdigkeit ist also etwas Fluides, das heißt ihr Aufbau ist bei Weitem fragiler als ihr Entzug. Sie ist verbunden mit der Übereinstimmung von Gesagtem und Getanem, mit der Kontinuität von Handlungen – sei es das Unternehmen, das mir beim Kauf seines Produkts die Unterstützung fairer Handelswege verspricht, die Verkehrsbetriebe, die beteuern, dass sie mich lieben oder der Zahnarzt, der mir die kostspielige Zahnreinigung ans Herz legt. Habe ich das Gefühl, für den brasilianischen Kaffeebauern werden tatsächlich bessere Arbeitsbedingungen geschaffen, die U-Bahn lässt mich montags pünktlich zur Arbeit kommen und mein Zahnfleisch sieht wieder gesund aus, wird mein Glaube gerechtfertigt. Widersprechen sich Rhetorik und Praxis jedoch, kann dies allerdings schnell umschlagen.

Ist Schengen noch des Glaubens würdig?

Die Glaubwürdigkeit von Schengen steht zunehmend auf dem Spiel. Nach den Entwicklungen des letzten Jahres ist kaum noch Einigkeit zwischen den Schengen-Mitgliedern zu spüren. Es fällt einem immer schwerer, an die Zuverlässigkeit einer Gemeinschaft zu glauben, die in der Flüchtlingsfrage gegeneinander arbeitet, anstatt eine Lösung im Miteinander zu finden. Fast täglich sind Schlagzeilen von Alleingängen der Länder zu lesen, von wiedereingeführten Grenzkontrollen in z.B. Dänemark und Schweden und der Festlegung Österreichs einer äußerst kritisch zu betrachtenden Obergrenze. In scharfem Ton fordern inzwischen mehrere Staaten von Griechenland, die EU-Außengrenze effektiver zu bewachen und riskieren dessen Isolierung. Der Gedanke, die Situation systematisch und mit vereinten Kräften zu bewältigen, scheint durch die absolute Priorisierung der nationalen Souveränität in den Schatten gestellt. Oder ist es eine Machtfrage?

Darüber hinaus begibt sich die Politik der EU und seiner Mitgliedsstaaten auf immer fraglichere Wege, um das Fortleben der Gemeinschaft zu sichern. Im November 2015 sicherte die EU der Türkei Hilfen in Höhe von 3 Milliarden Euro zu, um den großen Flüchtlingsbewegungen besser entgegenkommen zu können. Die symbolische Aussage dieses Deals ist allerdings zweifelhaft. Zum einen werden der Türkei große Zugeständnisse gemacht, wie beispielsweise die Aufnahme von Verhandlungen zur EU-Visafreiheit, obgleich sich das Land im letzten Jahr durch massiv undemokratische Strukturen hervorgehoben hat. Die Unterdrückung der Opposition, die Einschränkung der Pressefreiheit und die wiederholte Eskalation des Kurdenkonflikts scheinen trotz des werteorientierten Fundaments der EU kein Hindernis für ihre Verhandlungsbereitschaft zu sein. Zum anderen scheint die Schengen-Gemeinschaft die Verantwortung an Dritte, wie an die Türkei, abgeben zu wollen, um hilfsbedürftige Menschen auszuschließen und Grenzen zu ziehen – politisch wie auch geografisch.

Die Uneinigkeit, Doppelmoral und das sich Abwenden von dringenden Verantwortlichkeiten lassen die Schengen-Gemeinschaft als unglaubwürdigen Schatten seiner selbst aussehen. Sollte die Strategie weiterverfolgt werden, allein den Ländern der Schengen-Grenze und der Türkei den Handlungsdruck aufzuerlegen, wird das Gefühl der Eigenverantwortlichkeit unter den EU-Mitgliedsstaaten weiter sinken. Soll Schengen, das Fundament unserer heutigen europäischen Gemeinschaft und unseres Grundverständnisses des grenzübergreifenden Austauschs, geschützt werden, müssen Wege gefunden werden, alle Mitglieder aktiv zur Verantwortung zu ziehen, die Staaten an der europäischen Außengrenze systematisch zu unterstützen und seinen deklarierten Werten gegenüber geradlinig aufzutreten. Dies benötigt ein selbstbewusstes Vorgehen der EU und die striktere Ausschöpfung ihrer Legitimität gegenüber ihren Mitgliedern. Nur so kann schließlich der Glaube an Schengen auch weiterhin gerechtfertigt werden.

 

[1] Im Rahmen des Projekts „openeurope“ befragte Polis180 Personen auf der Straße zu ihren Assoziationen und Vorhersagen zum Schengen-Begriff. Die Ergebnisse veröffentlicht Polis180 in den kommenden Wochen.

Polis180 veranstaltet am 20. Februar 2016 eine Konferenz unter dem Titel „Schengen – begrenzt grenzenlos?“ in Berlin. Das Polis Blog veröffentlicht in den kommenden Wochen zusammen mit Café Babel eine Serie von Beiträgen, die verschiedene Facetten des Schengenraums und der damit verbundenen Vorstellung eines grenzenlosen Europa in den Blick nimmt. Am nächsten Dienstag wird Rossella Lombardi einen Blick auf die europäische Solidarität im Schengen-Raum werfen.

Das Polis Blog ist eine Plattform, die den Mitgliedern von Polis180 zur Verfügung steht. Die veröffentlichten Beiträge stellen persönliche Stellungnahmen der AutorInnen dar. Sie geben nicht die Meinung der Blogredaktion oder von Polis180 e.V. wieder. Bildquelle: http://bit.ly/1L90FVd.

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