Die Bewältigung der Flüchtlingskrise und die Bekämpfung der Fluchtursachen, beides geht nur mit der Türkei. Offen bleibt, welchen Stellenwert die Türkei dadurch in der europäischen Außenpolitik einnimmt.
Ein Beitrag von Maximilian Würz und Rebecca Swalve
Im vergangenen Jahr wurde die Europäische Union mit einer Vielzahl an Herausforderungen konfrontiert, die den Zusammenhalt der Staatengemeinschaft erneut auf die Probe stellten. Tausende von Menschen strömen nach wie vor nach Europa. Sie fliehen vor einem Krieg in Syrien, einer Region, in der die Terrormiliz IS wütet und für den Westen nicht eindeutig ist, wer Feind und wer Freund ist.
In dem Zusammenhang erweist sich die Ausrichtung einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik als strategische Mammutaufgabe. Sowohl die Ursache als auch die Lösung des Problems liegen nicht innerhalb der EU und sind damit nicht direkt von ihr beeinflussbar. Trotz stark divergierender Vorstellungen der Mitgliedsstaaten, wie eine europäische Lösungsstrategie auszusehen hat, ist man sich mittlerweile in einem Punkt weitgehend einig: Die Türkei rückt in den Fokus der europäischen Außenpolitik und bietet sich als „Game-Changer“ für die Lösung der Probleme in Syrien an.
Die Türkei als Brückenstaat zwischen Europa und der islamischen Welt
Der Staat am Bosporus ist sowohl geographisches als auch kulturelles und religiöses Bindeglied zwischen Europa und dem Nahen und Mittleren Osten. Die Türkei gilt nicht nur als natürlicher Verbündeter Europas im Umgang mit der islamischen Welt. Auch historisch ist das Schicksal der Türkei mit dem europäischen verknüpft, standen doch die Armeen des Osmanischen Reiches im 17. Jahrhundert vor den Toren Wiens, dem heutigen Kerneuropa.
Zu Atatürks Reformen zählte am Anfang des 20. Jahrhunderts die ideologische Prägung durch den Kemalismus, dessen Konzept der Trennung von Religion und Staat in eine ähnliche Richtung weist wie die westeuropäischen Lehren von Säkularität und Laizismus. Und auch heute ist die Zukunft der Türkei von der europäischen Entwicklung abhängig. Die Türkei hat sich deutlich nach Westen orientiert. Sowohl als NATO-Mitgliedsstaat als auch als EU-Beitrittskandidat wurde die Türkei in westliche Allianzen integriert. Diese Kombination aus einem muslimisch geprägtem Land und gleichzeitig einer alliierten Partnerschaft macht die Türkei andererseits so unverzichtbar sowohl für Europa als auch für die NATO.
Großmacht Türkei?
Die EU selbst hat keine Möglichkeit, in der Krisenregion nachhaltig und überzeugend politisch zu agieren. Der Westen hat in der arabischen Welt zu viel Kredit verspielt, als dass er in Gestalt der europäischen Staatengemeinschaft als Friedensstifter auftreten könnte. Die Türkei hingegen hat eine Stimme in der Region und ihr Einfluss wächst zusehends als stabile Machtbasis, die in das Vakuum eintritt, welches unter anderem die verfehlte Politik Baschar Al Assads im bürgerkriegszerstörten Syrien hinterlässt.
Als Stabilisator des Nahen und Mittleren Ostens ist die Türkei auf dem besten Weg, neben Saudi-Arabien und dem Iran zu einer Großmacht aufzusteigen. Und dieser Machtzuwachs der Türkei gibt der EU in der Außenpolitik ganz neue Handlungsspielräume. Für die EU stellen die proeuropäische Ausrichtung der Türkei sowie deren steigender Einfluss in der Region einen „Game Changer“ dar. Auch im Zuge der deutsch-türkischen Regierungskonsultationen im Januar 2016 in Berlin wurde deutlich, dass sich Deutschland und die EU von der Türkei einen entscheidenden Beitrag zur Lösung der Flüchtlingskrise erhoffen. Umgekehrt ist also auch die Zukunft der EU von der türkischen Entwicklung abhängig.
Aber was will die Türkei?
Das Hauptinteresse gilt der Stabilisierung der Region. Insbesondere will die Türkei verhindern, dass der Bürgerkrieg im benachbarten Syrien auf das eigene Staatsgebiet übergreift. Darüber hinaus nimmt die Furcht nicht ab, Teile des Landes an einen möglichen Kurdenstaat zu verlieren. Es verwundert daher nicht, dass Ankara einen immer härteren Kurs gegen die innenpolitische Opposition fährt. Die Verhaftung von 27 Wissenschaftlern, die sich für die Wiederaufnahme des Friedensprozesses mit den Kurden ausgesprochen hatten, ist nur ein Beispiel für die machtpolitische Härte Recep Erdoğans. Zwar engagiert sich die türkische Regierung militärisch im Kampf gegen den IS. Gleichzeitig ist dabei aber nicht klar, wie viel Militärpräsenz an der syrischen Grenze tatsächlich der Terrormiliz gilt und wie viel davon gegen kurdische Truppen gerichtet ist. Nun droht die Kurdenfrage sogar den Beginn der Friedensgespräche über Syrien zu blockieren.
Fest steht: Der Einsatz gegen den IS hat für die EU außenpolitisch höchste Priorität. Sowohl um die Stabilität in der Region wieder sicherzustellen, als auch um perfide Anschläge der Terroristen zu verhindern, die immer wieder zahlreiche unschuldige Menschen treffen.
Doch auch wenn die Türkei für Europa ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen den Terror darstellt, muss das für Europa gleichzeitig eine Tolerierung der Innenpolitik Erdogans bedeuten? Kann die EU dabei tatenlos zusehen, wie ein Verbündeter elementare Grundrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit verletzt? Die Türkei hat die außenpolitischen Handlungsoptionen für die EU deutlich erweitert. Keinesfalls jedoch darf die EU zum Spielball Ankaras werden und dabei zusehen, wie in Syrien zunehmend türkische Interessen vertreten werden.
Die Türkei als Retterin der europäischen Idee?
Es ist nun Aufgabe der europäischen Staatengemeinschaft, den „Game Changer“ Türkei klug zu nutzen. Europa droht, an der Flüchtlingskrise zu zerbrechen. Die nationalen Interessen der einzelnen Mitgliedsstaaten stehen an erster Stelle, zulasten der EU. Das Überleben der europäischen Idee scheint nun von der Türkei abzuhängen. Ankara ist sich dessen bewusst und lässt sich für die Hilfe gut bezahlen – politisch wie finanziell.
Jedoch liegt in der europäisch-türkischen Kooperation vor allem die Chance auf eine Lösung für die Bekämpfung der Fluchtursachen und damit für die Bewältigung der Flüchtlingskrise. Dies bedeutet die Stabilisierung und Befriedung einer vom Kampf zerrütteten Region, was im europäischen Interesse, im türkischen Interesse und im Interesse der Weltgemeinschaft liegt.
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Rebecca Swalve (23) studiert Rechtswissenschaft in Passau und Nanjing.
Maximilian Würz (29) hat Politikwissenschaft und Chinastudien in Berlin und Peking und Rechtswissenschaft in Passau studiert. Er engagiert sich bei Polis im Programm Frieden und Sicherheit.