Der EU-Parlamentspräsident möchte eine neue Charta digitaler Grundrechte. Warum das eine problematische, falsch gedachte und gefährliche Idee ist.
Ein Beitrag von Michael Puntschuh
Vor wenigen Wochen hat EU-Parlamentspräsident Martin Schulz in einem Beitrag in der ZEIT eine Debatte zu Individualrechten online angestoßen. Darin warnt er vor einem „digitalen Totalitarismus“ und fordert einen neuen Katalog an Grundrechten, um uns BürgerInnen zu schützen. Inzwischen hat sich auch Justizminister Maas mit einem Vorschlag dazu geäußert.
Das klingt alles schön und gut: Martin Schulz, der endlich für einen längst überfälligen Menschenrechtsschutz im Internet einstehen will. Leider ist sein Vorschlag verkürzt, verspätet, falsch gedacht und daher gefährlich.
Als die Politik plötzlich im digitalen Zeitalter aufgewacht ist
Dass dieser Anstoß zu einer Debatte viel zu spät kommt, bedarf wohl kaum einer Erklärung: Allerspätestens seit den Enthüllungen von Edward Snowden steht der Menschenrechtsschutz online auf der gesellschaftlichen Agenda. Und schon lange vorher war über das schwer zu fassende Ausmaß der digitalen Revolution diskutiert worden.
Mit Ansätzen des 20. die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts lösen wollen
Besser spät als nie! Das denkt sich wohl Herr Schulz und wünscht sich also eine Debatte über Menschenrechte online. An einer neuen Grundrechtecharte sollen allerdings nur „Parlamente, Regierungen und Verbände [sic!]“ arbeiten. Dies wäre ein enormer Rückschritt. Die Realität der Netzpolitik sieht längst anders aus.
Debatten im netzpolitischen Bereich finden nicht mehr nur im Rahmen repräsentativer Demokratie statt. Stattdessen wird dieser Prozess auf Multistakeholder-Basis durchgeführt: Das heißt, dass Vertreter_innen von Staaten mit solchen der netzpolitischen Zivilgesellschaft, der IT-Wirtschaft und der Wissenschaft diskutieren – und zwar gleichberechtigt. Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Es gibt keinen Primat des Staates, da schlussendlich alle User sind.
Diese Form der Entscheidungsfindung hat sich inzwischen bewährt: Die Internetkonferenz NetMundial 2014 etwa fand komplett auf dieser Basis statt. Natürlich ist der Multistakeholder-Ansatz nicht unproblematisch – aber niemand (bis auf wenige Multilateral-Hardliner wie Russland) will einen Rückschritt in das repräsentative Zeitalter von Schulz.
Die menschenrechtliche Büchse der Pandora
Der von ihm geforderte Grundrechtskatalog wäre das Sahnehäubchen auf dem netzpolitischen Fiasko. Denn: Menschenrechte gelten längst online wie offline. Dies wurde von mehreren UN-Resolutionen bestätigt.
Der Vorschlag ist problematisch, weil durch eine neue Grundrechtecharta erstens impliziert würde, dass die Menschenrechte eben noch nicht online gelten. Und weil zweitens die Gefahr besteht, dass der Schutz des neuen Katalogs weniger weit reicht als der Bestehende – insbesondere wenn nur staatliche Instanzen diesen Katalog entwerfen, wie es Schulz fordert. Rechte, die längst geschützt sind, würden zur Debatte gestellt.
Stattdessen sollten die bestehenden Menschenrechte progressiv ausgelegt und konsequent auf den Cyberspace angewendet werden. Gerichte und Menschenrechtsorgane leisten dazu bereits wertvolle Arbeit. Konkret wären aktualisierte Kommentare zu den UN-Menschenrechtspakten oder eine progressive Spezifizierung des EU-Grundrechtsschutzes enorm hilfreich. Die Menschenrechte sind schon da, sie müssen nur angewendet und umgesetzt werden – online wie offline!
…und plötzlich steht die Unteilbarkeit der Menschenrechte auf dem Spiel
Schlussendlich stellt der Schulz’sche Vorschlag die Unteilbarkeit der Menschenrechte infrage, indem er diese in Online- und Offline-Rechte unterteilt. Das ist gefährlich. Menschenrechte sollten, genauso wie Gesellschaftspolitik, als Ganzes gedacht werden – paradoxerweise sagt Schulz letzteres sogar selbst.
Sein von Widersprüchen und Missverständnissen gespickter Debattenbeitrag ist symptomatisch für netzpolitische Beiträge, die von Nicht-Netzpolitikern stammen. Es wäre hilfreicher, wenn sie sich in die Debatten, die in der Netzgemeinde bereits seit Langem geführt werden, produktiv einbringen würden.
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