Als europäisches Projekt sollte die TTIP-Debatte in der ganzen EU geführt werden. Polen hält sich aus der Diskussion heraus. Ein Kurswechsel ist wünschenswert, aber unwahrscheinlich.
Ein Beitrag von Kassandra Becker
38.350 von 3.284.289. Das sind die polnischen Stimmen, die die TTIP-Verhandlungen im Rahmen der „Stop-TTIP“-Kampagne beenden wollen. Eine der prominentesten polnischen Kritikerinnen und bekannte Professorin der Warschauer Wirtschaftsuniversität, Leokadia Orzędziak, warnte erst kürzlich: Das Abkommen stelle eine große Gefahr für ihr Land dar. Während in Deutschland hunderttausende Menschen gegen das Freihandelsabkommen mit den USA protestieren, bleibt ein Aufschrei in Polen aus. Warum gehen die PolInnen nicht auf die Straße, wie vor drei Jahren bei den ACTA-Verhandlungen?
Polen: Keine TTIP-Debatte
In Europa, besonders in Polen, wird zu wenig über TTIP gesprochen. So sieht es zumindest Danuta Hübner, eine der Bürgerplattform-Abgeordneten im Europäischen Parlament. Wenn TTIP überhaupt ein Thema sei, dann allenfalls im politischen Zentrum Polens, in Warschau. Während in Deutschland fast täglich über das Freihandelsabkommen berichtet wird, hüllen sich die großen polnischen Tages- und Wochenzeitungen in Schweigen. Meinungsartikel finden sich selten.
I. Niemand informiert
Selbst die Ministerien halten sich zurück. Sowohl das Außen- als auch das Wirtschafts- und Justizministerium informieren kaum über TTIP. Auch wenn die umfangreiche Werbekampagne des deutschen Wirtschaftsministeriums klar als Reaktion auf Proteste aus der Bevölkerung bewertet werden muss, ist es in Polen dennoch auffallend still. Es ist nicht ersichtlich, ob und wie die Ministerien zusammenarbeiten und welche Positionen sie vertreten.
Wer die politischen Diskussionen im Vorfeld der Parlamentswahlen vom 25. Oktober verfolgte, wartete vergeblich auf Stellungnahmen zu TTIP. Mit Ausnahme der „Bürgerplattform“ und der neu gegründeten Partei „Moderne“, findet sich in den Wahlprogrammen hierzu kein Wort. Selbst das Wahlbündnis „Vereinigte Linke“ – von dem eine freihandelskritische Haltung am ehesten zu erwarten wäre, glänzt durch Abstinenz. Zwar bezieht die grüne Partei, die Teil jenes Bündnisses ist, auf ihrer Homepage klar Stellung gegen TTIP, bringt dieses Thema allerdings nicht in den Wahlkampf ein.
II. Andere Themen dominieren
Die Themensetzung im Wahlkampf zeigt deutlich, dass zum geplanten Freihandelsabkommen kein Bedarf für Debatten besteht. Die rechtsklerikale Partei „Recht und Gerechtigkeit“ gewann die absolute Mehrheit. Der Freihandel spielte in ihrem Programm nur eine untergeordnete Rolle. Ein Drittel der Parlamentssitze ging an wirtschaftsliberale Parteien (Bürgerplattform und Moderne), die TTIP befürworten. Das Linksbündnis erzielte ein Ergebnis von 7,5% und erhielt keinen einzigen Sitz im Parlament. Die polnische Bevölkerung hat allen linken Kräften damit eine klare Absage erteilt. Bei einem solchen Ergebnis scheint es nachvollziehbar, dass TTIP-kritische Stimmen, die auch in Deutschland parteipolitisch eher links der Mitte zu finden sind, einen geringeren Einfluss auf den öffentlichen Diskurs ausüben.
III. Positives EU-Bild
Paradoxerweise hat die große Mehrheit eine EU-skeptische Partei unterstützt, obwohl das polnische EU-Bild als durchweg positiv bezeichnet werden kann: Bis auf einen leichten Rückgang im April 2009 – im Zeichen der Wirtschaftskrise – antwortete grundsätzlich eine Mehrheit der polnischen BürgerInnen mit Ja auf die Frage, ob der Betritt Polens zur EU einen eher günstigen Einfluss auf den Zustand der polnischen Wirtschaft hatte. In den letzten Jahren stimmten durchgehend mehr als 60% der polnischen Bevölkerung der Aussage zu, dass eine Zugehörigkeit zur EU überwiegend Vorteile mit sich bringe. Der Glaube an die positiven Effekte der EU-Mitgliedschaft könnte demnach ursächlich für die implizite Zustimmung zu den von der Europäischen Kommission propagierten Vorteilen von TTIP sein.
IV. Polens Zivilgesellschaft
Die Zivilgesellschaft ist in Polen, wie auch in anderen post-kommunistischen Staaten, bislang schwach ausgeprägt und schlecht organisiert. Proteste breiter gesellschaftlicher Bündnisse wecken vielmehr die Erinnerung an kommunistische Zeiten, die in den Augen der Mehrheit der polnischen Bevölkerung vorbei sein sollen. Trotzdem gibt es zivilgesellschaftliche AkteurInnen, die gegen TTIP protestieren. Dazu gehören Greenpeace Polen, das Institut für Globale Verantwortung, die Stiftung „Grüne Zone“ sowie die Partei „Zusammen“ (3,6 % bei den Parlamentswahlen), die aus der gleichnamigen Bewegung entstand und versucht, sich als neue linke Alternative zu positionieren. Die von der Initiative „Uwaga TTIP“ (dt. Achtung TTIP) organisierten Protestveranstaltungen waren allerdings wenig besucht.
V. Pro-Amerikanismus
Neben pro-marktwirtschaftlichen und pro-westlichen Argumenten, ist die traditionell anti-russische und dadurch implizit pro-amerikanische Einstellung Polens ein Grund für die positive Bewertung des geplanten Freihandelsabkommens. Durch TTIP verspricht man sich in Polen insbesondere in Energiefragen mehr Unabhängigkeit von Russland. Die in Deutschland sehr kritisch beäugte Methode des Frackings zur Gewinnung von Schiefergas soll nach der TTIP-Unterzeichnung in Zusammenarbeit mit den USA in Polen genutzt werden. Besonders seit Beginn der Ukraine-Krise haben die PolInnen das Gefühl, die polnische Sicherheit und Souveränität sei zwingend an eine enge Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten gekoppelt.
Polens Stimme im europäischen Diskurs
Egal, ob dafür oder dagegen – aus europäischer Sicht gibt es gute Gründe dafür, dass in Polen, einem der bevölkerungsreichsten Staaten der EU, eine öffentliche Debatte über TTIP forciert werden sollte. Wenn Medien versagen und PolitikerInnen es versäumen, die politische Bedeutung der Entscheidung zu unterstreichen, müssen zivilgesellschaftliche Akteure umso aktiver werden. Denn auch wenn die polnische Gesellschaft das Freihandelsabkommen mehrheitlich begrüßt, sollte sie ihre Stimme noch stärker in den europäischen Diskurs einbringen. Angesichts der innenpolitischen Herausforderungen, die nun auf Polen zukommen, scheint eine intensivere Auseinandersetzung mit TTIP allerdings unwahrscheinlich.
Im Rahmen einer Artikelreihe zum transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP widmen sich von nun an verschiedene AutorInnen auf dem Polis Blog jede Woche einem anderen Aspekt der Debatte. Übernächsten Freitag, den 13. November: „Kein TTIP ist auch keine Lösung“ von Jannes Elfgens.
Das Polis-Blog ist eine Plattform, die den Mitgliedern von Polis180 zur Verfügung steht. Die veröffentlichten Beiträge stellen persönliche Stellungnahmen der AutorInnen dar. Sie geben nicht die Meinung der Blogredaktion oder von Polis180 e.V. wieder.
Bildquelle: “TTIP – nie dziękuję!” von Bogusz Bilewski, Greenpeace Polska: https://www.flickr.com/photos/mehr-demokratie/13943655229. Lizensiert unter Creative Commons license 2.0: https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/.