Wieso Frankreich und Großbritannien in einer ausdifferenzierten EU eine Führungsrolle zukommen sollte.
Ein Beitrag von Christian Freudlsperger und Christopher Ruff
Wir, die zur Zeit des Mauerfalls Geborenen, gehören der ersten Generation an, die im geeinten Europa aufgewachsen ist. Tragischerweise sind wir aber auch Teil derjenigen Generation, die Europa derzeit zu verlieren droht. Die allzu häufig in Sorge darum leben muss, was kommt. Die enttäuscht ist vom Klein-Klein der Krisenpolitik der vergangenen Jahre. Die eigentlich voller Optimismus auf Europa blickt und sich dennoch ein anderes wünscht.
Das europäische Projekt steht an einer Wegscheide
Dabei war der Zeitpunkt, um Europa weiterzuentwickeln lange nicht so günstig wie jetzt. Seit den Unterhauswahlen im Vereinigten Königreich ist deutlich geworden, dass die EU an einer Wegscheide steht. Die Jahreswende zwischen 2016 und 2017 könnte nun zum Kristallisationspunkt des europäischen Einigungsprojekts werden. Sowohl das britische Referendum zum Verbleib in der EU als auch die kommenden französischen Präsidentschaftswahlen haben das Potenzial, die Statik unseres Kontinents in ihren Grundfesten zu verändern. Ohne das Vereinigte Königreich wäre das europäische Projekt entscheidend geschwächt, ohne Frankreich in seinem Zentrum wäre es wohl am Ende.
Mit dem marktorientierten britischen und dem solidaritätsorientieren französischen stehen dabei zwei Modelle von Europa zur Wahl, die die EU in ihrer derzeitigen Form nicht zum Ausgleich bringen kann. In welche Richtung soll Europa demnach vorangehen? Am besten in beide! Und zwar in Form einer in sozialen Kern und marktorientierten Mantel ausdifferenzierten Union, die sowohl Frankreich als auch Großbritannien in ihren jeweiligen Sphären eine führende Rolle zuweist.
Ein Europa der zwei Integrationslogiken ist nötig
Es ist in letzter Zeit wieder en vogue geworden, einen frischen Blick zu wagen in das 1994 von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers verfasste und viele heutige Fragen so weitsichtig vorwegnehmende Konzeptpapier zu Kerneuropa. Darin entwerfen die beiden CDU-Politiker die Vision einer EU der zwei Integrationslogiken, die einerseits aus einer währungs- und wirtschaftspolitisch tief integrierten Kernunion und andererseits aus einem lockerer gebundenen und vor allem den gemeinsamen Markt umfassenden Mantel besteht. Da die Schaffung des Euro dies so unausweichlich erfordert, wäre nur der Kern Teil einer „ever closer union“. Die Länder des Mantels hingegen wären weniger schicksalshaft aneinander und an den Kern gebunden.
Diese Vision eines ausdifferenzierten Europa der zwei Integrationslogiken ist auch im gegenwärtigen Augenblick der richtige Ansatz, zumal er aus britischer wie auch aus französisch-deutscher Perspektive attraktiv erscheint. Dies bezeugen sowohl das öffentlich kaum thematisierte Merkel-Hollande-Konzeptpapier zur künftigen institutionellen Ausgestaltung der Eurozone und die jüngsten Vorschläge des französischen Wirtschaftsministers als auch die Einlassungen britischer Spitzenpolitiker, die ihren Kollegen aus der Währungsunion immer häufiger ein „Geht voran, aber lasst uns zurückbleiben dürfen!“ zuzurufen scheinen.
Der Mantel vertieft den gemeinsamen Markt
Mit ihrer Forderung nach einer Einschränkung der Sozialleistungsansprüche für im Vereinigten Königreich lebende EU-Bürger hat sich die britische Regierung andererseits klar positioniert: sie betrachtet die EU als eine vertiefte Freihandelszone, deren Ergänzung um eine soziale Komponente zur Abfederung der mit liberalisierten Märkten einhergehenden Begleiterscheinungen sie nicht als wünschenswert erachtet. Die EU wird, weil sie eines der bevölkerungsreichsten und international einflussreichsten Länder Europas nicht aus ihrer Mitte entlassen will, der britischen Regierung wohl einen Kompromiss anbieten. Dieser wird deutliche Zugeständnisse bei Sozialleistungen und Rückverlagerungen von EU-Kompetenzen beinhalten müssen, damit die Briten letztlich mehrheitlich für einen Verbleib stimmen können.
Das, um in der Schäuble‘schen Metaphorik zu bleiben, „Manteleuropa“, das so entstehen könnte, würde den Integrationsstand außerhalb der Eurozone auf den einer vertieften, aber demokratisierten Freihandelszone zurückführen. Gleichzeitig müsste die mit ihm verbundene Beschneidung des Status Quo keine allein in Richtung Nationalstaaten zurückweisende Bewegung darstellen. Vielmehr könnte sie eine positive Perspektive für eine Zukunft des Mantels in Europa entwerfen. Diese könnte in einer weiteren Vertiefung des Binnenmarktes in den Bereichen Digitales und Energie, seiner weiteren Ausdehnung auf benachbarte Volkswirtschaften oder auch einer noch stärkeren Einbindung des europäischen Marktes in internationale Handelsverträge bestehen. Durch eine klare Abgrenzung der beiden Integrationslogiken würden aber vor allem die aus dem Integrationskern immer wieder zu vernehmenden Vorwürfe eines britischen „Europa à la carte“ ihre Legitimität verlieren. EU: ja, „ever closer union“: nein – das wäre Manteleuropas Motto.
Der Kern entwickelt eine soziale Dimension
Gleichwohl würde ein solcher Kompromiss die strukturellen Probleme der Eurozone, also Kerneuropas, nicht lösen. Sollte der seit Ausbruch der Eurokrise notorisch starke Front National bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2017 diesmal auch die Stichwahl für sich entscheiden können, steht der Euroraum vor einer Zerreißprobe. Frankreich gehört traditionell, und nicht erst seit dem gescheiterten europäischen Verfassungsreferendum von 2005, zu den Verfechtern eines sozialen Europa. Der währungspolitischen Integration und der Vertiefung der Märkte möchten die Franzosen soziale Absicherungsmechanismen, die diesen Namen auch verdienen, und Steuersolidarität anstelle von -wettbewerb entgegengesetzt wissen. Die Arbeitslosigkeit im Land, insbesondere unter den Jungen, ist viel zu hoch. Die soziale Kälte des bislang allzu marktorientierten Europa wirkt auf viele Franzosen abstoßend. Dies weiß der Front National in seiner Europakritik geradezu meisterhaft für sich zu nutzen.
Viele deutsche Politiker hingegen, insbesondere in der Krisenpolitik jüngerer Jahre, haben nie verstanden, dass Kerneuropa, solange es nur Freiheiten, Märkte und Währungen umfasst, solange es sich auf die Einhaltung von Regeln und Verträgen selbstbeschränkt, nie das wird ausbilden können, was Jacques Delors stets mit dem Begriff „Seele“ zu umschreiben versucht hat. Dabei ist während der letzten Jahre immer klarer geworden, dass der Maastricht-Konsens einer regelbasierten Währungsunion ohne fiskal-, haushalts- und steuerpolitische Integration an ein Ende gelangt ist.
Eine institutionelle Vertiefung der Eurozone ist aus französischer Sicht schon lange unumgänglich. Links des Rheins wurde die Schaffung des Euro niemals als Endpunkt, sondern vielmehr als Auftakt eines engeren Zusammenwachsens verstanden. Am Anfang dessen könnte nun, neben der Formierung eines Eurozonenparlaments oder der Schaffung klarer Verantwortlichkeiten im Amt eines Eurozonenfinanzministers, insbesondere der Einstieg in eine Form der „europäischen Arbeitslosigkeitsversicherung“ stehen. Letztere würde Kerneuropa die Wiederkehr der ökonomischen Ungleichgewichte vermeiden helfen, die die Eurokrise der letzten Jahre mitverursacht haben, und ihm gleichzeitig jene soziale Komponente verleihen, die es so dringend benötigt.
Europa ist so viel mehr als nur Regeln, Verträge und Währungen. Unsere Generation hat dies längst verinnerlicht. In einer ausdifferenzierten EU sollte künftig Großbritannien und Frankreich jeweils eine Führungsrolle zukommen: in einem Mantel mit Perspektive und einem Kern mit Seele.
Polis180 veranstaltete am 14. Oktober 2015 eine Debatte zum Thema „Brexit die Frage, Kerneuropa die Antwort?“ mit Karl Lamers und Manuel Sarrazin: http://polis180.org/blog/2015/10/22/kerneuropa/.
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Bildquelle: „PM meets with President Hollande of France“ von Arron Hoare, Crown copyright: https://www.flickr.com/photos/number10gov/18036245060. Lizensiert unter Creative Commons license 2.0: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/