Es mag zwar stimmen, dass China als einziges Land wirklich die Macht hätte, Einfluss auf Wladimir Putin und seinen Krieg gegen die Ukraine zu nehmen. Doch wieso sollten sie? Für Xi Jinping und die Volksrepublik China läuft es gar nicht so schlecht – Xina ist der große Gewinner.
von Frederik Schmitz
Wladimir Putin und Xi Jinping haben die “Freundschaft” beider Länder zementiert. So liest sich das gemeinsame Communiqué anlässlich des 75-jährigen Jubiläums der sino-russischen Beziehungen. Dabei sollten Beobachter*innen jedoch nicht übersehen, dass diese Beziehungen, trotz mantraartiger Betonung, weniger auf einer wahren Freundschaft als auf reinem Machtkalkül beruhen.
Die gemeinsam veröffentlichte Erklärung beruht im Wesentlichen auf drei gemeinsamen Überzeugungen: (1) Noch nie waren die Beziehungen so eng wie heute, (2) wir werden Kooperationen weiter ausbauen und (3) die USA sind Schuld an der internationalen Krise.
75 Jahre Sino-Russische Beziehungen – 75 Jahre wahre Freundschaft (?)
Die Intention der gesendeten Bilder beider Seiten ist seit dem russischen Angriff auf die Ukraine eindeutig. Als sich Xi und Putin 2023 in Russland treffen, wirft Xi während der Verabschiedung fast beiläufig seine Einschätzung ein: “Es steht ein Wandel bevor, der seit 100 Jahren nicht mehr stattgefunden hat, und wir treiben diesen Wandel gemeinsam voran”. Zu diesem Zeitpunkt dauert der verbrecherische russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bereits ein Jahr an. Xi meint damit nichts Geringeres als die Herausforderung der regelbasierten Ordnung durch China und Russland. Er zeichnet so das Bild eines internationalen Systems, in dem die USA wie eine Hegemonialmacht den Westen dominieren und China sein Platz zurück auf die Weltbühne verwehrt bleibt. Es ist daher keine Überraschung, dass China in Russland derzeit seinen engsten Verbündeten hat, und vice versa. In der Gemeinsamen Erklärung der Volksrepublik China und der Russischen Föderation zur Vertiefung der umfassenden strategischen Kooperationspartnerschaft in der neuen Ära anlässlich des 75. Jahrestages der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern heißt es gleich zu Beginn, dass diese Beziehungen aktuell auf dem historisch höchsten Niveau seien. Gemeinsam inszenieren sich die beiden Staaten als Vorkämpfer und Verteidiger einer fairen, gleichberechtigten und geordneten multipolaren Welt sowie der Demokratisierung der internationalen Beziehungen. Kurz gesagt: Sie sehen sich als Verfechter eines wahren Multilateralismus. Ein Multilateralismus, so der chinesische Duktus, der nicht einzelne Interessensgruppen bevorzugt und fernab US-amerikanischer Interessen funktionieren kann. Damit treten sie, so liest man weiter, auch für den Schutz der UN-Charta und die Stärkung der UN im Allgemeinen ein.
Zudem sei es wichtig, so die Erklärung, sich gegen Verleumdung, Verzerrung und Manipulation der Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu wehren und die richtige Sicht darauf zu verteidigen. Damit ist Russlands Kampf als Alliierte gegen Nazideutschland ebenso gemeint, wie auch Chinas Kampf gegen das faschistische Japan. Xina sieht sich selbst moralisch überlegen auf der historisch richtigen Seite, auf der Seite der Befreier*innen der Welt vom Faschismus, damals schon Seit’ an Seit’ mit der Sowjetunion, deren Rechtsnachfolge Russland sei. Dass diese “unumstößliche Freundschaft” 1969 fast zu einem atomaren Krieg zwischen den beiden damaligen Blockstaaten in einem Territorialstreit am Fluss Ussuri führte, spielt für die beiden Staatsführer keine Rolle mehr. Dabei wurde schon Ende der 1950er Jahre das politische und persönliche Band zwischen Mao Zedong und Nikita Chruschtschow zerschnitten, als letzterer den Stalinismus sowie den Personenkult um Stalin ablehnte.
Gemeinsam sind wir stark – und werden noch stärker
Trotz dem historischen Höhepunkt der Beziehungen möchten beide Staatenlenker diese noch weiter intensivieren: So sollen nicht nur die diplomatischen Beziehungen und Austauschformate weiter verstärkt werden; sie visieren auch intensivierte Kooperation in zahlreichen anderen Bereichen an: Wirtschaft, Investitionen, (Kern-)Energie und nukleare Technologie, Innovationen, Informationstechnologien, Weltraum, Landwirtschaft, Arktis, Zoll, Umweltschutz, Bildung, Wissenschaft, Medizin, Tourismus, Medien, Jugendaustausch und noch einige mehr. Obwohl diese Vereinbarungen auf Freundschafts- und Kooperationsverträgen beruhen, die schon seit 2001 geschlossen werden, sind einige Felder der Zusammenarbeit heute besonders interessant:
Energie und Handel. China hat aus mehreren Gründen Interesse an einem Fortbestand des Krieges in der Ukraine. Zwei entscheidende Bereiche sind die Energiesicherheit Chinas sowie neue Absatzmärkte für chinesische Produkte. Dank gesunkener Preise für den Import von Öl und Gas bezieht China derzeit zu außerordentlich guten Konditionen Rohstoffe aus Russland, die dringend für die chinesische Energieversorgung benötigt werden. Darüber hinaus liefert China eine ganze Reihe an Produkten nach Russland und gleicht somit bestehende Sanktionsregime westlicher Staaten aus. Immer wieder steht die Frage im Fokus, inwiefern China auch Waffen bzw. waffenfähige Produkte nach Russland exportiert. Hier wird Chinas Gratwanderung zwischen den Beziehungen zu Russland und dem Westen deutlich. Nach allem, was wir wissen, liefert China keine Waffen an Russland, um nicht selbst auf Sanktionslisten zu landen. Anders sieht es hingegen mit sog. dual-use-Produkten aus, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke genutzt werden können. In dieser Frage zeigt sich einer der Balanceakte, die China zumindest derzeit meistert: Die Beziehungen zu Russland – im eigenen Interesse – verstetigen und gleichzeitig die Handelsbeziehungen zu Europa und den USA nicht beschädigen.
Neue Seidenstraße. Russlands Verhältnis zur sog. neuen Seidenstraße war stets ein Zwiespältiges. Auf der einen Seite stellte sich Russland nicht aktiv gegen diese, da China nicht verprellt werden sollte. Andererseits verlaufen mehrere Landrouten des Projekts durch Zentralasien – ein Gebiet, das Russland seit dem Zerfall der UdSSR als direkte geo- und sicherheitspolitische Einflusssphäre betrachtet. Im Ringen um Rohstoffe zeigt jedoch auch China Interesse an der Region, was in der Vergangenheit zu Spannungen führte. Nun scheint dieser Konflikt zumindest auf dem Papier beigelegt: Am Ende der Erklärung heißt es, dass sich China und Russland gemeinsam durch Kooperationen die freundschaftlichen, stabilen und prosperierenden Beziehungen zur gemeinsamen Peripherie erhalten wollen.
Die USA und das Spiel mit dem Feuer
Beide Staaten behaupten, dass die allgemeine Sicherheitslage wegen der USA und ihrer Verbündeten instabil sei, auch für Atommächte. Sie werfen den USA vor, die strategische Stabilität in Asien und Europa zu untergraben, indem gemeinsame Übungen der USA im asiatisch-pazifischen Raum genutzt würden, um landgestützte Raketensysteme zu installieren und so eine Sicherheitsbedrohung für China und Russland herzustellen.
Einer der wesentlichen Absätze der gesamten Erklärung findet sich im siebten Absatz:
“Beide Seiten [China & Russland, Anm.d.Verf.] sind der Auffassung, daß alle Atommächte die Grundsätze der Aufrechterhaltung der globalen strategischen Stabilität und der gleichen und unteilbaren Sicherheit wahren und nicht durch die Ausweitung von Militärbündnissen und -koalitionen sowie die Errichtung von Militärstützpunkten in unmittelbarer Nähe der Grenzen der anderen Atommächten, insbesondere durch die Vorpositionierung von Kernwaffen, ihrer Trägersysteme und anderer strategischer Militäreinrichtungen, die lebenswichtigen Interessen des jeweils anderen verletzen sollten […].”
Dieser Absatz hat weitreichende Implikationen für die Ansprüche chinesischer und russischer Außenpolitik, denn beide Staaten fordern nicht weniger als Pufferzonen für Nuklearmächte. Damit stellen sie sich gegen das in der NATO-Russland-Grundakte (1997) verbriefte Recht der freien Bündniswahl. Die Formulierung “anderer strategischer Militäreinrichtungen” lässt zudem viel Spielraum für Interpretationen und eröffnet verschiedene Fragen: Welche Auswirkungen hat dies auf Russlands und Chinas Standpunkt gegenüber der NATO und gegenüber den verschiedenen NATO-Infrastrukturen? Genau genommen ist dies ein Argumentationspunkt, der Russlands Forderung der Rückabwicklung der NATO hinter die Grenzen von 1994 unterstützt. Eine so weitgehende Formulierung hat es in früheren chinesischen Dokumenten nicht gegeben. Damit stellt sich China in diesem Punkt erstmals vollumfänglich hinter die Position Russlands und rückt von seiner schwammigen Formulierung ab, man müsse Sicherheitsinteressen verschiedener Staaten berücksichtigen. Eine Formulierung, die zwar auch in der gemeinsamen Erklärung Verwendung findet, jedoch weit hinter dem obigen Passus zurücksteht.
China stärkt Russlands Krieg in der Ukraine den Rücken
Russland, so steht es in der gemeinsamen Erklärung, begrüßt Chinas objektiven Standpunkt im Konflikt mit der Ukraine und stimmt mit China darin überein, dass das “Ukraineproblem” im Einklang mit der UN-Charta gelöst werden müsse. Hierfür seien politische und diplomatische Lösungen notwendig, die die Ursachen des Konflikts lösen und ihn nicht verzögern oder eskalieren. Damit sprechen sich Putin und Xi gegen Waffenlieferungen aus dem Westen aus, ohne die die Ukraine den Krieg verlieren würde.
Die Hoffnung einiger Politiker*innen und Beobachter*innen, dass China für einen schnellen Frieden in der Ukraine sorgen und Putin in seinem Kriegswahn zum Einlenken bringen könnte, bleibt nichts weiter als Wunschdenken. Zu sehr profitiert China von diesem Krieg. Die erwähnten Bereiche Energie und Handel liegen auf der Hand. Aber auch geopolitisch ist China der Gewinner. Putin bindet sein Russland immer weiter an China und macht sich weiter abhängig. Xina braucht Putin als Unterstützung in der UN, um seinen Einfluss weiter auszubauen. Mit dem 2022 vorgestellten Friedensplan, der damals seitens Russland abgelehnt wurde, wurde Chinas Image als Friedensmacht im sog. Globalen Süden gestärkt, wo sich China als Alternative zu den USA positioniert. Weiter bindet der Krieg die militärischen Kapazitäten der USA und Europa und hat den internationalen Fokus vom sog. Südchinesischen Meer und der Taiwanstraße hin nach Osteuropa gelenkt. Dies eröffnet China Spielräume, die es nutzt. Sei es in der Auseinandersetzung um Territorialansprüche, beispielsweise gegen die Philippinen oder im Fall Taiwans, durch die Eröffnung neuer Flugrouten in der Taiwanstraße.
Die Umarmung zwischen Xi und Putin kaschiert zwar die historisch komplizierten Beziehungen zwischen Russland und China, zeigt aber, dass hier zwei Männer zusammenarbeiten, um die Weltordnung zu verändern. Dafür braucht China Russland als Juniorpartner. Sicherlich ist Xi nicht an einer nuklearen Eskalation interessiert, aber ein Ende des Krieges zu Ungunsten Russlands möchte er verhindern – denn: Für Xina läuft es gut.
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Bildquelle: Frederik Schmitz
Frederik Schmitz hat Sinologie in Köln und Tübingen studiert und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) der Universität Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte sind historische Narrative in der chinesischen Außenpolitik sowie die Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas und ihre Rolle für die politische Legitimation der Partei.
Lektoriert von Isabel Billmeier, Lukas Seelig und Nico Otten
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