Nach jahrelangem Stillstand kommt Bewegung in das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS). Doch die Reformvorschläge sind kontrovers – und mit hohen Kosten für Schutzsuchende und unsere Werte verbunden.
Seit 2016 blockierte vor allem der Rat der EU eine dringend notwendige Reform des GEAS. Im Juni 2023 folgte er schließlich der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament und legte seinen Reformvorschlag vor. Doch von einer wirklichen Reform, die laut Definition Verhältnisse erneuern und verbessern soll, liest man wenig: Die vom Rat skizzierte Zukunft des Asylsystems in der EU ist weiterhin durch Abschottung gekennzeichnet, anstatt durch eine Rückbesinnung auf die eigentlichen Werte der EU – wie zum Beispiel die Würde des Menschen, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Zivilgesellschaftliche Akteur*innen und Politiker*innen, die sich an die überfüllten Camps auf den griechischen Inseln erinnern oder weiter das Sterben im Mittelmeer verfolgen, schlagen Alarm. Es herrscht Einigkeit darüber, dass es einen anderen Umgang mit Menschen geben muss, die in der EU Schutz suchen, jedoch nicht in welche Richtung dieser Umgang gehen soll.
Der folgende Beitrag schaut genauer hin und erwägt potenzielle Folgen: Welche Bedeutung hätte die Reform für die Sicherheit von Schutzsuchenden, die Belastung von EU-Außengrenzstaaten und das Wertesystem Europa an sich?
Ein Beitrag von Lea Rau und Ahmet Bekisoglu
13.06.2023
Ein Europa – ein Asylsystem? Hintergrund der GEAS-Entwicklungen
Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) besteht seit Mitte der 2000er Jahre und regelt unter anderem, wie sich die Zuständigkeiten für die Prüfung von Asylanträgen in der Europäischen Union (EU) verteilen und welche Mindeststandards bei der Unterbringung und Versorgung Asylsuchender eingehalten werden müssen. Eine Herausforderung ist seit jeher, das GEAS mit den nationalen asylrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten in Einklang zu bringen. Die Flucht von ca. 2 Millionen Menschen in die EU in den Jahren 2015/2016, und die dadurch ausgelöste Solidaritätskrise in der EU mit den hier schutzsuchenden Menschen als auch mit den EU-Außengrenzstaaten haben die Notwendigkeit einer Reform des GEAS verdeutlicht. Die EU-Kommission reagierte schnell, veröffentlichte 2016 konkrete Reformvorschläge und initiierte damit einen langwierigen Verhandlungsprozess zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Da das Europäische Parlament und der Rat der EU keine Verhandlungsbereitschaft zeigten, legte die Kommission 2020 nach und veröffentlichte den Neuen Pakt für Asyl und Migration – dem die EU-Mitgliedstaaten bisher allerdings nicht zugestimmt haben.
Aktuelle Entwicklungen
Nach einer jahrelangen Blockade durch den Rat der EU – insbesondere aufgrund des Streits um eine solidarische Teilung der Verantwortung – zeigt sich unter den EU-Mitgliedstaaten jetzt endlich eine Bereitschaft, über eine Reform des GEAS zu verhandeln. Im April 2023 einigte sich bereits das Parlament auf eine gemeinsame Position im Reformprozess. Anfang Juni haben sich auch die Innenminister*innen der EU-Staaten im Rat der EU auf eine gemeinsame Neuausrichtung bestehender Mechanismen des GEAS festgelegt. Der Rat wird jetzt mit dem Parlament einen gemeinsamen Standpunkt verhandeln, der in gesetzlichen Statuten manifestiert wird.
Obwohl die Verhandlungspositionen zwischen beiden Institutionen nicht deckungsgleich sind, wird sich das Parlament den Forderungen des Rates wahrscheinlich beugen – Vor allem, weil sich das Parlament und der Rat in einer grundlegenden Sache einig sind: eine wirklich menschenrechtskonforme, solidarische und nachhaltige Migrationspolitik wird es in der EU nicht geben können.
Die Reformvorschläge des Rates
Die beiden Hauptelemente des durch den Rat veröffentlichten Reformvorschlags sind ein erstmalig möglich gewordener und für alle Mitgliedstaaten verpflichtender Solidaritätsmechanismus sowie ein für bestimmte Personengruppen verpflichtendes Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen.
Der Solidariätsmechanismus soll gewährleisten, dass jeder Mitgliedstaat anteilig Maßnahmen für einen sogenannten Solidaritätspool bereitstellt. So sollen 30.000 Relocations (zum Vergleich: im Jahr 2021 wurden in der EU 632.000 Asylanträge gestellt) und 600 Millionen Euro an finanzieller Unterstützung jährlich garantiert werden, um die von “Migrationsdruck” betroffenen EU-Außengrenzstaaten zu entlasten. Mit seinem Vorschlag eines verpflichtenden Solidaritätsmechanismus geht der Rat sogar einen Schritt weiter als das Parlament, welches stärker auf Freiwilligkeit setzte. Seenotrettungsfälle will der Rat im Gegensatz zum Parlament nicht in der Errechnung des sogenannten “Migrationsdrucks” einberechnen – für Länder wie Italien und Malta wird es also weiterhin keinen Anreiz geben, Schutzsuchende in Seenot zu retten oder Schiffe der zivilen Seenotrettung in sichere Häfen einlaufen zu lassen.
Auch in seiner Position zu Grenzverfahren sieht der Ratsvorschlag eine Verpflichtung vor, wo das Parlament auf Freiwilligkeit setzt. Neben Screenings aller Schutzsuchenden sollen in diesen 12-wöchigen Grenzverfahren erste Prüfungen von Asylanträgen durchgeführt werden, während Antragsteller*innen die Weiterreise verwehrt bleibt. Für verschiedene Personengruppen sollen diese Grenzverfahren verpflichtend sein. Dazu zählen vor allem Personen aus Drittstaaten, deren Asyl-Anerkennungsquote im EU-Schnitt 20% oder weniger beträgt. Für weitere Personengruppen werden Grenzverfahren ermöglicht. Von den Grenzverfahren ausgenommen sind lediglich unbegleitete Minderjährige bei Nicht-Vorliegen eines Sicherheitsrisikos. Dieser Vorschlag löst bei Vielen Erinnerungen an die Elendslager auf den griechischen Inseln aus: 2016 wurden sogenannte Hotspot-Zentren zur Registrierung von Schutzsuchenden und zur Durchführung von Asylverfahren und Abschiebungen erbaut – also für die gleichen Zuständigkeiten, die für die Grenzverfahren vorgesehen sind. Zwar soll es diesmal Kontrollmechanismen geben, um zu verhindern, dass entlang unserer Außengrenzen neue Morias entstehen. Doch ein Blick in die Vergangenheit macht es schwer, an deren Wirksamkeit zu glauben.
Exemplarisches Szenario: Wie sich ein nach den Vorstellungen des Rates reformiertes GEAS auf die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei auswirken kann
Auf der Suche nach Schutz sind in den letzten Jahren besonders viele Menschen über die Seegrenze zwischen der Türkei und Griechenland in die EU gekommen. Unter Berufung auf das Dubliner Übereinkommen, nach welchem Schutzsuchende ihren Asylantrag im EU-Ersteinreisestaat stellen müssen, blieb eine Solidarität der anderen EU-Staaten mit dem krisengebeutelten Griechenland aus. Alleingelassen mit dieser Herausforderung begann Griechenland, Menschenrechte über Bord zu werfen und Pushbacks durchzuführen. Die Menschen, die es bis auf die griechischen Inseln schafften, erwarteten desaströse Bedingungen in den Camps.
Wie würde sich das reformierte GEAS auf diese Grenzsituation auswirken? Ein Großteil der über diese Grenze kommenden Schutzsuchenden müsste die neuen Grenzverfahren durchlaufen. Eine nach Ablehnung des Asylantrags vorgesehene Abschiebung in die Türkei würde aber vermutlich an deren Aufnahmebereitschaft scheitern. Kann eine Abschiebung innerhalb von drei Monaten nicht erreicht werden, müssten Schutzsuchende gemäß den Reformplänen “freigelassen” werden. Für die Schutzsuchenden könnte ein solches Verfahren zumindest besser als ein Pushback oder eine Abschiebung sein. Für Griechenland würde es aber bedeuten, dass sie mit den Grenzverfahren wieder einmal viel Arbeit für die anderen EU Staaten übernehmen müssten, nur um dann nach jeweils drei Monaten wieder die Kontrolle über die Schutzsuchenden zu verlieren. Es muss also vermutet werden, dass Griechenland – und gleiches gilt zum Beispiel für Italien und Polen – weiter Pushbacks durchführen wird und die Lebensbedingungen für sich im Grenzverfahren befindende Schutzsuchende prekär halten würde. Für die Menschenrechte der Schutzsuchenden und die Entlastung von Griechenland wäre also keine Verbesserung erreicht.
Zudem bieten Grenzverfahren nach den aktuellen Vorschlägen auch für Schutzsuchende keine Anreize. Stattdessen muss davon ausgegangen werden, dass sie längere, teurere und gefährlichere Wege in die EU auf sich nehmen werden. Migrationsbewegungen werden sich folglich weiter dezentralisieren, die erhoffte Kontrolle über ankommende Menschen wird ausbleiben. Schutzsuchende und die EU gehen leer aus, während die Grenzverfahren Schleusern neue Geschäfte ermöglichen.
Einschätzung und Appell
Fakt ist, dass es in einer EU von 27 Mitgliedstaaten mehr als schwer ist und bleibt, ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem auszuhandeln. Die nun zur Verhandlung stehenden Reformvorschläge sind aber für alle, die an den niedergeschriebenen und immer wieder proklamierten europäischen Werten wie Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit oder Menschenrechte festhalten wollen, eine große Enttäuschung. Diese Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis trifft nicht nur ganz direkt die Menschen, die bei uns Schutz suchen wollen, sondern langfristig auch die EU selbst: Mangelnde Glaubwürdigkeit führt zu einem Vertrauensverlust der EU-Bürger*innen in ihre Institutionen und der Nationalstaaten untereinander sowie zu einem Autoritätsverlust auf der internationalen Bühne.
Die EU muss sich trauen, den nationalen Machtkämpfen zum Trotz einen Perspektivwechsel in der Migrationspolitik einzuleiten, Migration als Chance statt als Sicherheitsrisiko zu begreifen und so den Selbstwiderspruch zu überwinden. Die europäische Zivilgesellschaft ist ihren Regierungen hier bereits weit voraus: aufnahmebereite Städtenetzwerke, die zivile Seenotrettungsflotte und tausende Ehrenamtliche zeigen, dass es möglich ist, die EU und ihre Werte solidarisch und nachhaltig zu gestalten anstatt sie durch restriktive Maßnahmen in ihrem Potenzial zu beschränken. Es ist an unseren Regierungen und EU Institutionen, diese Solidarität – auch finanziell – zu fördern und durch legale und sichere Einreisemöglichkeiten, faire Abkommen, bedarfsorientiertes Matching von Schutzsuchenden und Kommunen sowie nachhaltige Politikgestaltung über alle Ressorts hinweg zu flankieren. Die Idee eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist erstrebenswert. Wenn die Realisierung dieser Idee allerdings zu mehr Abschottung und Leid für Schutzsuchende führt, muss man sich fragen, ob eine solidarische Koalition aus einzelnen Mitgliedstaaten nicht die bessere Option wäre.
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Lea Rau arbeitet als Kommunikations- und Advocacy Managerin bei der Berlin Governance Platform im Bereich Migration. Sie engagiert sich im Bereich Flucht &Migration und vertritt intersektional-feministische Perspektiven auf nationale und internationale Politik.
Ahmet Bekisoglu studiert derzeit im neunten Semester Humanmedizin in Köln und beschäftigt sich mit der Außen- und Bündnispolitik im Nahen Osten. Daneben engagiert er sich beim Bund der Alevitischen Studierenden und ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
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