
Wahlprogrammcheck
Europäische Außen- und Verteidigungspolitik
Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, in dem die Mitgliedstaaten bislang vor allem national entscheiden, ist vieles in Bewegung. Der Einigungsprozess Europas brachte dem Kontinent zwar 70 Jahre Frieden und Stabilität, doch scheint beides fragiler denn je, insbesondere durch dramatische Entwicklungen in der europäischen Nachbarschaft. Krieg und Umwälzungen in der Ukraine, in Nordafrika und im Nahen Osten sowie die Zerstrittenheit innerhalb der NATO und die Aufkündigung des Vertrags über nukleare Mittelstreckensysteme (INF) haben Europa die Dringlichkeit eigenen Handelns aufgezeigt. Entsprechend nehmen außen-, sicherheits,- und verteidigungspolitische Themen einen wichtigen Platz in den Wahlprogrammen zur Europawahl 2019 ein. Im Bereich der Verteidigungspolitik haben die Begriffe „europäische Armee” und „Armee der Europäer” Spaltungspotenzial. Alle Parteien außer Bündnis 90/Die Grünen beziehen hierzu Stellung. Prominent diskutiert wird auch die Stärkung des Europäischen Parlaments im Zuge weiterer Integrationsschritte in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU (GSVP).
Die Aufkündigung des INF-Vertrags wird von so gut wie allen Parteiprogrammen problematisiert und bringt das Thema Abrüstungspolitik ebenso wie die Zukunft nuklearer Rüstungspolitik in Europa zurück auf die Agenda. Dies ermöglicht es insbesondere linken Parteien, Abrüstungs- und Entspannungspolitik wieder verstärkt zu thematisieren. Die Forderung nach einem starken Europa, welches in der Sicherheitspolitik seine außenpolitischen Interessen hörbar und glaubhaft vertreten kann, ist allen Parteien gemein.
Doch nicht nur rein militärische Aspekte werden stärker diskutiert. Die zahlreichen Konflikte in Europas Nachbarschaft haben auch zivile Ansätze zur Prävention, Bearbeitung und Lösung von Konflikten in den Fokus gerückt. Sowohl zivile Krisenprävention als auch gendersensible Konfliktbearbeitung bzw. die Umsetzung der UN-Agenda 1325 zu Frauen, Frieden und Sicherheit stellen in der Regel menschliche Sicherheit in den Mittelpunkt, weswegen sie in der folgenden Analyse gemeinsam aufgeführt werden. Bis auf CDU/CSU und AfD haben alle Parteien dazu Stellung bezogen.
Autoren
Jéronimo Barbin
Julius Kerkhoff
Sonja Schiffers
Paul von Salisch
Eine Europäische Armee und eine Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP)
Die CDU/CSU stehen einer europäischen Armee positiv gegenüber und möchten bis zum Jahr 2030 gemeinsame europäische Streitkräfte aufbauen. Des Weiteren betonen die CDU/CSU, dass mit Hilfe des Europäischen Verteidigungsfonds ab 2021 und durch eine stärkere Rolle der Europäischen Rüstungsagentur die europäische Zusammenarbeit bei der Herstellung von standardisierten Waffensystemen und eine gemeinsame Rüstungsexportrichtlinie sichergestellt werden. Diese Maßnahmen sollen Kosten reduzieren, die Verteidigungsfähigkeit erhöhen und eine europäische Sicherheitskultur schaffen. Die Partei fordert weiterhin den Aufbau eines Europäischen Sicherheitsrates mit Großbritannien. In der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sprechen sich die Unionsparteien gegen das Einstimmigkeitsprinzip und für Mehrheitsentscheidungen aus, um die Entscheidungsfindung zu beschleunigen.
Die SPD setzt sich für eine gemeinsame, parlamentarisch kontrollierte europäische Armee ein. Ein Einsatz dieser Armee soll nur durch das Europäische Parlament genehmigt werden dürfen. Hierzu möchte die SPD den Integrationsprozess der Armee parlamentarisch begleiten und die Kontrollrechte der Abgeordneten sichern. Diese Maßnahmen sollen die innere Friedenssicherung stärken und, durch die Konzentration der Verteidigungskräfte, eine allgemeine Erhöhung der Rüstungsausgaben vermeidbar machen. Europäische Synergien wie eine gemeinsame Beschaffungspolitik sollen eine moderne Ausrüstung der Soldat*innen sicherstellen. Die SPD setzt sich zudem für eine gemeinsame restriktive Kontrolle von Rüstungsexporten durch ein parlamentarisches Kontrollgremium ein.
Das Thema „Gemeinsame Europäische Armee” findet sich im Europawahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen nicht wieder. Die Grünen fordern eine stärkere Zusammenarbeit der Europäischen Staaten bei der Außen- und Sicherheitspolitik und fordern die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Bündnis 90/Die Grünen sprechen sich für eine Stärkung der zivilen Krisenprävention und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) aus. Sie fordern außerdem ein Exportverbot für Kleinwaffen außerhalb von Mandaten der Vereinten Nationen und ein Exportverbot für Rüstungsgüter und Waffen in Kriegs- und Krisengebiete. Des Weiteren stehen sie für eine gemeinsame europäische Rüstungskontrolle und eine Stärkung der Rolle von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in dieser.
DIE LINKE lehnt eine gemeinsame europäische Armee ab und spricht sich stattdessen für ein Abrüstungs- und Entspannungsprogramm aus. Die Partei lehnt weiterhin alle Waffenexporte aus dem Gebiet der Europäischen Union ab. Die Rüstungsindustrie soll, mit Hilfe eines Investitionsprogramms, zivil umgebaut werden. In Bezug auf Zusammenarbeit im Rüstungs- und Verteidigungsbereich möchte DIE LINKE alle aktuellen Initiativen beenden. Sie fordert zudem die Beschränkung der EU auf zivile Konfliktlösungskapazitäten und damit einhergehend die Stärkung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und ihren Ausbau als zentrales Forum der gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur.
Die AfD lehnt eine gemeinsame europäische Armee ab, da dieser ihrer Ansicht nach eine demokratische Legitimation fehlt. Sie spricht sich außerdem gegen eine weitere Souveränitätsabgabe der Nationalstaaten aus. Sie will weiterhin nur den Deutsche Bundestag über den Einsatz deutscher Streitkräfte entscheiden lassen. Sie fordert stattdessen eine Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO und des Einflusses und der Rolle Deutschlands darin. Die Partei lehnt des Weiteren die bereits existierenden und die in Planung befindlichen Strukturen der europäischen Verteidigungszusammenarbeit ab. In Bezug auf die Produktion von Waffensystemen fordert die AfD die Erhaltung der deutschen Rüstungsindustrie und spricht sich gegen die Veräußerung deutscher Schlüsseltechnologien an Drittstaaten aus.
Die FDP spricht sich in ihrem Parteiprogramm für eine gemeinsame europäische Armee unter parlamentarischer Kontrolle aus. Hierzu soll eine Europäische Verteidigungsunion entstehen, auf die eine gemeinsame europäische Armee der integrationswilligen Mitgliedsländer aufbauen kann. Die Partei spricht sich zur Stärkung des europäischen Gedankens für ein Erasmus+-Programm für Soldat*innen aus. Die FDP steht außerdem einer verstärkten europäischen Rüstungszusammenarbeit mit Hilfe des Europäischen Verteidigungsfonds positiv gegenüber. In Bezug auf Rüstungsexporte will die FDP ein Exportverbot für Krisenstaaten und gemeinsame europäische Rüstungskontroll-Standards durchsetzen. Die FDP fordert weiterhin einen Ausbau der europäischen Außenpolitik (etwa durch qualifizierte Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik) und eine*n gemeinsame*n europäische* Außenminister*in.
Die Europäische Sicherheitspolitik nach dem Ende des INF
CDU/CSU sehen Europa an einem Scheideweg. Von innen werden die gemeinsamen Werte herausgefordert, von außen wollen Großmächte Europa schwächen. Beide Parteien fordern deshalb eine Stärkung und ein selbstbewusstes Auftreten Europas auf internationalem Parkett sowie entschlossene europäische Antworten. Auf das Ende des Vertrags über nukleare Mittelstreckenraketen (INF) geht das Wahlprogramm nicht dezidiert ein, unterstreicht jedoch die Verbundenheit zu multilateralen Lösungen und eine Zusammenarbeit mit Russland bei Abrüstungsfragen.
Die SPD fordert eine dem Frieden und der Abrüstung verpflichtete europäische Außenpolitik, um Europa in der Welt als Friedensmacht zu positionieren. Dafür sei es notwendig, vertragsgestützte Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung wieder in den Mittelpunkt einer solchen Außenpolitik zu rücken. Bei der Rettung des internationalen Abrüstungsregimes komme dem INF-Vertrag eine besondere Bedeutung zu. Um eine Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen auf dem europäischen Kontinent, welche die SPD strikt ablehnt, zu verhindern, müsse alles unternommen werden, um die Vertragsparteien zur Vertragstreue zu bewegen.
Für Bündnis 90/Die Grünen ist der INF-Vertrag der wesentliche Pfeiler der internationalen Rüstungskontrolle und der europäischen Sicherheitsarchitektur. Mit der Aufkündigung des Abkommens durch die Vertragsparteien Russland und die Vereinigten Staaten steige die Gefahr eines weltweiten nuklearen Wettrüstens. Um dieses Szenario zu verhindern, müsse Europa für das Bestehen internationaler und regionaler Rüstungskontrollregime eintreten.
Abrüstung, Entspannungspolitik und Entmilitarisierung sind die sicherheitspolitischen Leitgedanken des Europawahlprogramms von DIE LINKE. In der Folge stellt sich die Partei gegen eine atomare Nachrüstung und fordert Deeskalationsschritte gegenüber Russland. Letzteres beinhaltet neben dem Ende von Militärmanövern auch das Ende von Stationierungsplänen von Waffensystemen entlang der russischen Westgrenze. Zudem fordert DIE LINKE die Abschaffung der Europäischen Verteidigungsagentur zugunsten einer Abrüstungsagentur, die Auflösung der NATO zugunsten eines Systems kollektiver Sicherheit unter Einbezug Russlands sowie eine Stärkung der OSZE. Der UN kommt unterdessen die Rolle zu, eine globale Abrüstungsinitiative anzustoßen.
Die AfD widmet sich in ihrem Europawahlprogramm weder dem INF-Vertrag noch Abrüstungsfragen. Sie betont die Notwendigkeit einer ausgewogenen Zusammenarbeit sowohl mit den USA als auch mit Russland und hebt die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als ein wesentliches Element der europäischen Friedensordnung hervor.
Die Freien Demokraten betrachten mit Sorge, dass bestehende Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge aufgekündigt, unterlaufen oder beschädigt werden. Dies betreffe insbesondere die drohende Aufkündigung des INF-Vertrags. Europa müsse sich in der Welt als starke Stimme für Abrüstung und Rüstungskontrolle positionieren und entsprechend zwischen den INF-Vertragsparteien vermitteln. Ziel sei ein Verbleib der USA und Russlands im Vertrag sowie die Schaffung von Transparenz im russischen Raketenprogramm.
Zivile Krisenprävention und Genderperspektiven
Das CDU/CSU-Programm bezeichnet die EU als das „erfolgreichste Friedensprojekt nach innen” sowie als „Friedensmacht in der Welt”, die zu Sicherheit und Stabilität beiträgt. Zivile und militärische Kräfte sollen im Rahmen des vernetzten Ansatzes gebündelt werden, um die Handlungsfähigkeit sicherzustellen. Genderperspektiven in der Außenpolitik werden durch die CDU/CSU nicht berücksichtigt.
Die SPD fordert die Gründung eines zivilen Europäischen Stabilisierungskorps, das demokratischen Staatsaufbau, Rechtsstaatlichkeit und die Ausbildung von Sicherheitskräften in anderen Ländern unterstützen soll. Zudem sollen Polizeimissionen ausgeweitet werden, um etwa Fluchtursachen vor Ort zu bekämpfen. Die SPD will sich außerdem dafür einsetzen, Frauen konsequent an Friedensprozessen zu beteiligen und die Umsetzung der UN-Agenda 1325 voranzutreiben. Nur so sei nachhaltige Konfliktlösung erreichbar. Insgesamt soll die EU-Außenpolitik der SPD auf der Einhaltung der Menschenrechte mit einem besonderen Augenmerk auf Frauenrechten und Gleichstellung der Geschlechter basieren.
Bündnis 90/Die Grünen sehen die EU als Friedensmacht, die aktiv an einer globalen, multilateralen Friedensordnung im Rahmen der UN mitarbeiten soll. Zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung sollen in den Fokus der europäischen Friedens- und Außenpolitik rücken. Zur Krisenprävention sollen verstärkt mit lokalen Akteur*innen Strukturen vor Ort unterstützt und aufgebaut werden, um die Sicherheit und Versorgung aller Menschen in der Region zu ermöglichen. Zudem fordern die Grünen eine Vergrößerung der finanziellen und personellen Ressourcen, unter anderem zum Aufbau eines zivilen Einsatzteams. Stärkerer Fokus soll auch auf Kapazitätsausbau zu Frühwarnung und Mediation gelegt werden. Bündnis 90/Die Grünen sprechen sich darüber hinaus zur verstärkten Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in diesem Bereich aus. Sie positionieren sich gegen die Verwendung von entwicklungs- und friedenspolitischen Geldern zu militärischen Zwecken, beispielsweise zur Bekämpfung von Fluchtursachen. Zudem fordern die Grünen, feministische Außen- und Sicherheitspolitik zu einer Leitlinie der europäischen Außenpolitik zu machen. Explizit beziehen sie sich dabei auch auf die Gleichberechtigung von Minderheiten und intersektionale Ansätze, das heißt die Berücksichtigung von Mehrfachdiskriminierungen. Indem die Agenda 1325 verstärkt umgesetzt und finanziell ausgestattet sowie Genderperspektiven in allen außenpolitischen Maßnahmen verankert werden, sollen etwa Teilhabe von Frauen und Minderheiten auch innerhalb der europäischen Außenpolitik gesteigert, klassische sicherheitspolitische Strukturen durchbrochen und Machtverhältnisse grundlegend hinterfragt werden.
DIE LINKE fordert, dass sich die EU auf zivile Konfliktlösungskapazitäten beschränkt und diese stärkt, anstatt aufzurüsten. Gelder sollen nicht für Militärausbildungsmissionen ausgegeben werden, sondern beispielsweise für den Aufbau eines europäischen Zivilen Friedensdienstes und die Unterstützung afrikanischer Staaten bei einem ähnlichen Vorhaben. Obwohl Geschlechtergerechtigkeit im Programm von DIE LINKE ausführlich behandelt wird, bezieht die Partei sich nicht konkret auf die UN-Agenda 1325 oder gendersensible Außen- und Sicherheitspolitik.
Die AfD erwähnt weder das Thema zivile Konfliktbearbeitung noch die UN-Agenda 1325. Sie äußert sich aber in anderen Teilen ihres Programms kritisch gegenüber gendersensiblen Ansätzen in der Politik.
Die FDP unterstützt den Ausbau des zivilen Krisenmanagements in der EU und möchte den ‘vernetzten Ansatz’ vorantreiben, der Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik zusammen denkt und so zur Krisenprävention und Friedensförderung beitragen soll. Die EU soll in ihre zivile Friedensexpertise investieren und die Finanzierung von zivilen Ansätzen soll sich auch im EU-Haushalt niederschlagen. Genderperspektiven auf Außen- und Sicherheitspolitik erwähnt die FDP in ihrem Programm nicht.
EUROPAWAHL
2019
Europa braucht Dein Engagement.
Werde Teil unseres ehrenamtlichen Kampagnenteams und hilf mit, dass die Stimmen junger Menschen bei der Europawahl 2019 mehr Gehör finden!